Beim Zusammenfügen all dieser Geschichten habe ich mir vorgestellt, ich arbeite an einem umfangreichen faktographischen russischen Roman, der sowohl die individuellen Tragödien darstellen soll als auch die Ereignisse und Ideen, die sie geprägt haben. Ich wollte zeigen, wie es war, in den vergangenen dreißig Jahren in Russland zu leben – und zugleich erzählen, wie Russland selbst in dieser Zeit gewesen ist und wie es wurde, was es heute ist.
Wie erzählt man von der Entwicklung einer Gesellschaft? Masha Gessen knüpft an den großen russischen Roman und das Vorbild Tolstois an, ohne zu fiktionalisieren. Im Zentrum ihrer Erzählung stehen vier junge Leute, die Mitte der achtziger Jahre geboren wurden, am Anfang der Perestroika. Mit dreißig finden sie sich in einem Land wieder, in dem die Verfolgung von politisch Andersdenkenden und Minderheiten sie existenziell bedroht.
Ihre Geschichten sind verwoben mit den Biografien dreier Geisteswissenschaftler der älteren Generation, die in den inoffiziellen Nischen des spätsowjetischen Hochschulsystems als Autodidakten beginnen und später auf sehr unterschiedliche Weise gesellschaftlich aktiv werden. An ihrer beruflichen Entwicklung wird auch deutlich, was es für eine Gesellschaft heißt, den Anschluss an die wissenschaftliche Diskussion zu verlieren. Zugleich ergeben sich hier immer wieder Anknüpfungspunkte für die theoretische Reflexion und Vertiefung.
Das Buch erhält den Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung 2019.
Die Zukunft ist Geschichte
Wie Russland die Freiheit gewann und verlor
Suhrkamp 2018 · 639 Seiten · 26 Euro
ISBN: 978-3-518-42842-9
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