Robert Capas unbekannte Gefährtin

Lektüretipp von Lars Hartmann

Gerda Taro
Vor 80 Jahren begann der Spanische Bürgerkrieg. Die meisten Europäer denken bei diesem Krieg an Robert Capas Fotografie des fallenden Soldaten, der von Falangisten erschossen wurde. Weniger bekannt ist seine Gefährtin: die deutsche Fotoreporterin Gerda Taro (1910-1937).

Der umfassenden Biografie von Irme Schaber ist es zu verdanken, dass wir mehr über diese außergewöhnliche Frau erfahren.

In dieser Biografie entdecke ich eine engagierte Reporterin. Ihre Bilder geben Menschen ein Gesicht und zeigen, wie sich Krieg fotografieren lässt – etwa die Art und Weise, wie Taro die spanischen Bauern abbildet: bei ihrer Arbeit auf den Feldern, im Kampf gegen die Franco-Truppen oder als Flüchtlinge. Gerade heute ist dieses Buch angesichts von Flucht und Vertreibung ein Dokument, auch dafür, wie Fotografie Leid darstellen kann, ohne dass es reißerisch wirkt. An diesem Buch fasziniert mich zum einen die ungewöhnliche Lebensgeschichte einer sozialistischen Jüdin, die aus ihrer Heimat vertrieben wurde, zum anderen, wie sich eine Frau in einem der härtesten Fotogenres behauptet, nämlich der Kriegsfotografie, traditionell und bis heute eine Männerdomäne. Taro starb 1937 während eines Angriffs der deutschen Legion Condor. Als Fotografin stand sie – zu unrecht – im Schatten des legendären Robert Capa und geriet nach ihrem Tod in Vergessenheit.

Gerda Taro. Bild: © Lars Hartmann

Gerda Taro. Fotofestival f/stop Leipzig, Juni 2016. Bild: © Lars Hartmann

Angaben zum Buch
Irme Schaber
Gerda Taro – Fotoreporterin. Mit Robert Capa im spanischen Bürgerkrieg
Biografie
Jonas Verlag 2013 · 256 Seiten, 218 Abbildungen · 35,00 Euro
ISBN: 978-3-89445-466-1
Bei Amazon oder buecher.de

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Unsereins albert gern, unsereins kalbert gern

Lektüretipp von Sieglinde Geisel
Hörbe mit dem grossen Hut

Sie sind rar, die Kinderbücher, die den Erwachsenen beim Vorlesen genauso viel Vergnügen bereiten wie den Kindern. Warum Otfried Preußlers Hörbe mit dem großen Hut nicht so berühmt ist wie Die kleine Hexe oder Der Räuber Hotzenplotz, ist mir ein Rätsel.

Was dieses Buch so vergnüglich macht?

  • Die Philosophie: Anhand der turbulenten Begegnung zwischen Hörbe aus dem Siebengiebelwald mit Zwottel aus den Worlitzer Wäldern stellt Preußler die Frage, was den Hutzelmann vom Waldschratz, den Menschen vom Tier, das Kulturwesen vom Naturwesen unterscheidet.
  • Die Moral: Weil wir mit ihr einverstanden sind, und weil sie sie sich erst im Nachhinein erschließt. Wir lernen, wie lächerlich es ist, Angst zu haben vor dem Fremden sprich Plampatsch: halb Wolf, halb Drache, Augen so groß wie Feuerräder. Hörbe fürchtet sich vor den Worlitzer Wäldern, weil dort der Plampatsch haust, aus dem gleichen Grund fürchtet sich Zwottel vor dem Siebengiebelwald.
  • Die Angstlust: Die enorme Spannung der Ereignisse wird aufgefangen in der Geborgenheit des Erzählens.

Das größte Vergnügen jedoch bereitet die Sprache:

Preussler_Hörbe

Angaben zum Buch
Otfried Preußler
Hörbe mit dem großen Hut
Kinderbuch
Thienemann Verlag 1981 · 128 Seiten · ab 7 Jahren · 11,95 Euro
ISBN: 978-3522133609
Bei Amazon oder buecher.de

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Der Name eines Vogels, den es nicht wirklich gibt

Lektüretipp von Claus Heck

Buch des Flüsterns
Der Untergang des armenischen Volkes: der schier endlose Todeszug nach Deir-ez-Zor in der syrischen Wüste. Ein Vernichtungslager, das es gar nicht hätte geben müssen, weil vermutlich nie geplant war, dass jemand lebend dort ankam. Einfach grauenvoll. Aber der Genozid ist nur ein Teil dieser Geschichte.

Im Zentrum steht das Erzählen selbst, vielmehr die Fähigkeit zum Erzählen. Geschichte als Genealogie:

Großvater Setrak hat meine Großmutter Sofia kennengelernt, die er heiratete als sie kaum siebzehn Jahre zählte, dann wurde Tante Maro geboren und auf den Namen der älteren Schwester von Großvater getauft, die sich umgebracht hatte, indem sie sich in das Wasser des Euphrat stützte, und etwas später kam Elisabeta, meine Mutter, die wiederum später meinen Bruder Melic, benannt nach dem legendären Urahn der Familie, dem Prinzen aus Urmia, geboren hat und danach mich, Varujan, was im alten Armenisch der Name eines Vogels ist, den es nicht wirklich gibt, der aber, wie der Flug, in jedem Vogel vorhanden ist, ich wiederum habe eine Tochter, Armine, was ‚kleine Armenierin‘ heißt, und sie wird sich meinen Urahnen ebenso anschließen wie meine Großmutter Arșaluis, die Frau des anderen Großvaters, es angelegt hatte, als sie auf dem Innendeckel der Bibel die wichtigsten Geschehnisse ihres Lebens aufzeichnete.

Angaben zum Buch
Varujan Vosganian
Buch des Flüsterns
Roman
Paul Zsolnay Verlag 2013 · 520 Seiten · 26,00 Euro
ISBN: 978-3552056466
Bei Amazon oder buecher.de

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Die Entstehung der Menschlichkeit

Lektüre-Tipp von Tomas Bächli

Henri IV

Der Knabe war klein, die Berge waren ungeheuer.

So beginnt der Roman von Heinrich Mann. Die Pyrenäen, von denen die Rede ist, bieten dem Kind Geborgenheit, aber auch Raum für Abenteuer.

Laufen, auf bloßen Füßen immer in Bewegung! Atmen, den Körper baden innen und außen mit warmer, leichter Luft! Das waren die ersten Mühen und Freuden des Knaben, er hieß Henri.

Als ich Die Jugend des Königs Henri Quatre las, war ich selbst Jugendlicher. Sicherlich war es für mich auch Identifikationslektüre, ich wollte an diesem Lebensgefühl Anteil nehmen, diesem etwas schnoddrigen Optimismus, mit dem zum Beispiel die Entstehung der Menschlichkeit geschildert wird.

Der König hat im Krieg eben die Stadt Eauze erobert. Als er gefragt wird, wer von den Stadtbewohnern nun aufgehängt wird, wie dies damals Tradition war, hat Henri plötzlich einen Einfall:

Niemand wird gehängt. Geplündert wird auch nicht. Aber ich will essen und trinken.

Die menschlichen Bedürfnisse sind stärker als die unmenschlichen. So entstand die Humanität, eine neue Kriegstaktik, die von der militärischen Konkurrenz prompt als unlauterer Wettbewerb kritisiert wird.

Das Ende jedes größeren Abschnitts im Roman enthält eine „moralité“: einige französische Sätze, in der Sprache des Erzfeindes, damals zur Entstehungszeit des Romans. Heinrich Manns Französisch ist komplex, ich erinnere mich, dass ich immer wieder im Dictionnaire nachschauen musste.

Heinrich Manns Henri Quatre ist die Geschichte eines guten Regenten, trotz Skepsis und Zweifeln. Für den Schriftsteller ist das ein Risiko, denn im realen Leben gibt es dafür kaum Vorbilder. Hält dieser Roman beim Wiederlesen? Ich bin gespannt.

Es gibt im Henri Quatre übrigens die schönste erotische Szene, die ich kenne. Als ich das Buch nun wieder in die Hand genommen habe, habe ich sofort danach gesucht, als wollte ich mich vergewissern, dass sie noch dasteht. Sie gefällt mir noch immer. Sie finden sie im Abschnitt „Margot“, am Ende des Kapitels „Dame Venus“.

Angaben zum Buch
Heinrich Mann
Die Jugend des Königs Henri Quatre
Roman
Rowohlt-Taschenbuch 1994 · 720 Seiten · 9,50 Euro
ISBN: 978-3-499-13487-6
Bei Amazon oder buecher.de

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Wir Mütter vom Prenzlauer Berg

Lektüretipp von Sieglinde Geisel

Bodentiefe Fenster

Oh nein, nicht noch ein Roman über die Mütter vom Prenzlauer Berg! So dachte ich als bekennende PB-Mutter auf den ersten zwanzig Seiten. Doch dann öffnete sich ein Abgrund nach dem anderen. Ich las schneller und schneller und wusste nicht, ob ich lachen oder weinen soll. Das Buch entuppte sich als schwarze Komödie über das therapeutische Zeitalter und das Überwachungsmilieu in den Baugruppen mit ihren bodentiefen Fenstern, über die privaten Höllen der Wohlstandsgesellschaft und den öffentlichen Terror des alles-richtig-machen-Wollens und -Müssens.

„Warum werden wir alle so komisch, wenn wir Kinder kriegen?“ Diese Frage sei der Schreibanlass gewesen, so Anke Stelling in einem Interview. Meine Lieblingsstelle im Roman führt uns in jenen – sprachlich raffiniert verspiegelten – Käfig aus Schuld und gutem Willen, in den wir Mütter uns so leicht hineinbugsieren lassen, gegen jeden Verstand.

Wir kämpfen. Wir vergleichen.
Jedes Fehlverhalten der Kinder legen wir aus und legen es uns selbst zur Last.
Spiegeln nicht die Kinder unser eigenes Verhalten? Bekommt man nicht genau das Kind, das man verdient?
Wer zu viel auf sie aufpasst, behindert sie in ihrer motorischen Entwicklung, ist schuld an ihrer Unselbstständigkeit, ihren Unfällen, ihrem Tod.
Wer ihnen zu viele Freiheiten lässt, riskiert, dass sie nicht Maß halten, ist schuld an ihren Süchten, ihren Wunden, ihrem Tod.
Wer sie anschreit, ist schuld, wenn sie schreien.
Wer sie schlägt, ist schuld, wenn sie schlagen.
Wer sich zusammenreißt, ist schuld an ihrer Verunsicherung; wer nur so tut also ob, ist schuld an ihrer Hinterhältigkeit.
Wer geht, ist schuld an ihren Bindungsängsten.
Und wer bleibt, muss in einem fort entscheiden, was das kleinere Übel ist – und das dann irgendwie in Kauf nehmen. Unter den erbarmungslosen, abschätzigen Blicken der anderen.

Angaben zum Buch
Anke Stelling
Bodentiefe Fenster
Roman
Verbrecher-Verlag 2015 · 256 Seiten · 19,00 Euro
ISBN: 9783957320810
Bei Amazon oder buecher.de

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Von Redaktion

Ein Kommentar

  1. Ah, Herr Bächli, ich bin gespannt. In der Schröerschen Buchhandlung gibt es ein virtuelles winziges Henry Quatre Colloquium [https://henriquatrecolloquium.wordpress.com/], und ich würde mich freuen, wenn es durch einige neue gute Kommentare zum Buch angereichert würde. Ich hab dort auch auf Ihren lesetip verwiesen, was hoffentlich recht ist.

    In der Ausgabe vom S. Fischer Verlag sind die französischen Teile übrigens übersetzt (Kurt Stern), eigentlich auch bei Rowohlt (Helmut Bartuschek), aber in der Taschenbuchausgabe fielen sie dann anscheinend unter den Tisch.

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