Einer für alle, alle für einen
Lektüretipp von Agnese Franceschini
Dieser Klassiker für Kinder und Erwachsene hat mich vom ersten Kapitel an gepackt. Er ist Liebes-, Abenteuer-, Kriminal- und Geschichtsroman in einem. Ich habe die 800 Seiten in zwei Tagen verschlungen.
Die Ereignisse folgen Schlag auf Schlag. In den drei Helden Athos, Porthos und Aramis kommt die ganze Vielfalt menschlicher Eigenschaften und Charaktere zum Ausdruck: Athos‘ Melancholie, Porthos‘ Heftigkeit und Aramis‘ Klugheit – nicht zu vergessen die Impulsivität von d’Artagnan.
Man denke sich Don Quijote im achtzehnten Jahre; Don Quijote ohne Bruststück, ohne Panzerhemd und ohne Beinschienen; Don Quijote in einem wollenen Wams, dessen blaue Farbe sich in eine unbestimmbare Nuance von Weinhefe und Himmelblau verwandelt hatte. Langes, braunes Gesicht, hervorspringende Backenknochen (ein Zeichen von Schlauheit) […]; der Blick offen und intelligent; die Nase gebogen, aber fein gezeichnet; zu groß für einen Jüngling, zu klein für einen gestandenen Mann, würde ihn ein ungeübtes Äuge für einen reisenden Pächterssohn gehalten haben, hätte er nicht den langen Degen getragen, der an einem ledernen Wehrgehänge befestigt, beim Gehen an die Waden schlug und an das struppige Fell seines Pferdes, wenn er ritt.
Denn unser junger Mann hatte ein Pferd, und dieses Ross war sogar so merkwürdig, dass es auch wirklich auffiel. Es war ein Klepper aus dem Béarn, zwölf bis vierzehn Jahre alt, von gelber Farbe, ohne Haare am Schweif, aber nicht ohne Fesselgeschwüre an den Beinen.
Die drei Musketiere
Roman
Fischer Taschenbuch 2011 · 800 Seiten · 9,50 Euro
ISBN: 978-3596903085
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Der Mohr, ob es weh tut oder nicht, stirbt mit Vergnügen
Lektüretipp von Claus Heck
Mit europäischem Gedankengut ist nicht zu begreifen, dass sich jemand mit einem Sprengstoffgürtel in die Luft jagt, einzig, um andere umzubringen, und dann auch noch annimmt, er käme dafür ins Paradies. Mit so einer Vorstellung vom Paradies hat das Buch von Niebelschütz auf den ersten Blick wenig zu tun, der Roman spielt im 12. Jahrhundert. Aber das inkommensurabel Fremde ist hier so überwältigend dargestellt, dass es eine Schlussfolgerung auf heutige Verhältnisse zulässt. Fremdheit charakterisiert auch das Verhältnis der Männer zu den Frauen, ob sie sich ihnen nun unterwerfen oder, wie die junge Judith, zu arrangieren wissen:
Judith Cormons, fünfzehnjährig, aus dem Kloster ins Brautbett befohlen, war ein lebhaftes, schönes Geschöpf von wolkenhaft schnellem Wechsel des Ausdrucks, der ihre fassbaren Reize um einen unfassbaren steigerte. Ihr Frohsinn, durch die Erweckung verstört, tauchte nach drei Wochen Hochzeit heiter aus der Wehmut hervor, sie lächelte wärmer als früher, nicht glücklicher, und die Art, in der sie ging, niedersank, Reverenz, Handkuß, Wangenkuß zelebrierte oder entgegennahm, sich erhob, einen Raum durchschritt und ihn beherrschte, sprach von dem, was das Zeitalter an den Frauen schätzte, von Maß, Selbstzucht und Milde.
Die Kinder der Finsternis
Roman
Verlag kein & aber 2010 · 704 Seiten · 16,00 Euro
ISBN: 978-3036959429
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Schneegärten unter mehligem Licht
Lektüretipp von Sieglinde Geisel
Roger Willemsen (1955-2016) beherrscht die Kunst des zwanglosen Schreibens. Er berichtet in diesem Sammelband von Reisen an die (vielen) Enden der Welt – Patagonien, Timbuktu, Himalaja. Handfeste Reportage und persönliche Berührung gehen dabei eine kühne Form der Legierung ein. Man erfährt viel – und man erlebt es auch. Eine überraschend intime Lektüre, ohne dass der Autor mir zu nahe tritt.
Ich hatte das Buch nur so weglesen wollen, als Urlaubslektüre der etwas anderen Art, und ein wenig auch in memoriam. Doch dann kann ich nicht widerstehen und streiche mir Sätze an.
Sentenzen und Aphorismen:
- Erst sterben die Völker aus, dann erleben sie ihre Auferstehung als Andenken.
- Eine Aussicht ist immer dann schön, wenn der Betrachter vor ihr klein wird. Dann ist sie erhaben, denn er selbst ist bloß eine Bagatelle.
- … und wie sich Bewusstsein oft um das kristallisiert, was fehlt
Gelungene Formulierungen:
- “O look at this, for Christ’s sake, this is fuckin beautiful!“ Sie fotografieren es nieder mit dem Brillenbügel im Mund.
- Manche reden, wie Hunde ihr Bein heben.
- „Hier wird vermutlich das Datum zum Preis addiert“, flüsterte sie und spazierte mit den Augen auf Zehenspitzen durch die Speisenfolge.
Bisweilen schwankt diese Reiseprosa zwischen Kitsch und Poesie. Vor allem, wenn es um den Himmel oder das Wetter geht:
- Der Himmel trug Wühltischmode.
- Eine Wolke schwül angedickter Luft fängt sich in der Kurve.
- …Schneegärten unter mehligem Licht…
Diese unbekümmerte stilistische Ambivalenz gehört zum Genuss des Lesens. Roger Willemsen darf sich alles erlauben.
Warum das so ist, bleibt ein Geheimnis.
Die Enden der Welt
Fischer Taschenbuch 2011 · 544 Seiten · 10,99 Euro
ISBN: 123-4-5678-91-0
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Das Elend des weißen amerikanischen Mannes
Lektüretipp von Herwig Finkeldey
Joey Goebels Roman Heartland ist 2008 erschienen, zum Amtsantritt von Barack Obama, und lange vor Tea Party und Donald Trump. Goebel beschreibt dieses gehemmt-aggressive „I want my country back“ – als gäbe es jemanden, der das Land gestohlen hat. Und damit ist das Buch ein heißer Tipp für alle, die die Wähler von Donald Trump verstehen wollen.
Er hörte die Menge begeistert jubeln, als die Frau aus der Pick-up-Werbung den hohen Ton von „the la-and of the freeee“ anstimmte. Es war Zeit, sein Gebet zu beenden und die Garderobe zu verlassen.
Gleich wird John Mapother, der politisch ambitionierte Unternehmersprössling, vor die Kameras treten und eine Rede halten. In solchen Skizzen, oft sind es nur kurze Sätze, werden die Figuren greifbar. Der Pick-up-Fahrer Josh Balsam etwa geht zur Monstertruck-Show mit einem „aggressiven Gang, als wolle er mit jedem Schritt den Asphalt angreifen“.
In der Figur von Blue Gene wiederum zeichnet der Autor das ganze Elend des depressiven weißen amerikanischen Mannes.
Nach längeren Versuchen mit Prozac, Celexa und Paxil war Blue Gene schließlich bei Zoloft gelandet, das er mittlerweile seit zwei Jahren regelmäßig nahm. […] Er hütete dieses Geheimnis sorgfältig, da er um nichts in der Welt wollte, dass ein anderer Mann ihm ein bestimmtes Wort an den Kopf warf, ein Wort, mit dem man ihn beherrschte, da er es zugleich scheute und herbeisehnte. Eine ähnliche Beziehung hatte er zu dem Wort Weichei.
Heartland
Roman
Diogenes Verlag 2010 · 720 Seiten · 11,90 Euro
Aus dem Englischen von Hans M. Herzog
ISBN: 978-3257240375
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Höllenfahrt
Lektüretipp von Johannes Spengler
Aber die Bar war leer.
Oder vielmehr: Sie war leer bis auf eine Gestalt.
Wie viele Cocktails gibt es, die nach Schriftstellern benannt sind? Ein Hemingway wird aus Rum und Sekt gemischt. Doch wie schmeckt ein Jack London, ein F. Scott Fitzgerald, ein Truman Capote? Man bräuchte einen langen Tresen und eine noch längere Nacht, um sie alle durchzuprobieren. Der krönende Abschluss wären dann ein Malcolm Lowry: 3 Teile Mezcal, 2 Teile weißer Rum, 2 Teile Cointreau und etwas Zitronensaft (2 Teile).
„Siehst du übrigens die alte Frau aus Tarasco, die da in der Ecke sitzt? Du hast sie noch nicht gesehen, aber siehst du sie jetzt?“, fragten seine Augen, die mit der ziellos sinnenden Lebhaftigkeit eines Liebenden um sich blickten. „Wie kannst du hoffen“, fragte seine Liebe, „die Schönheit einer alten Frau aus Tarasco, die um sieben Uhr morgens Domino spielt, zu begreifen, wenn du nicht so trinkst wie ich?“
In den USA war Alkoholismus lange auch als „writer´s disease“ bekannt. Malcolm Lowry war ein besonders trauriges Beispiel, neben seinem Leichnam wurde eine zerbrochene Ginflasche gefunden. Auch die Hauptfigur des Romans Unter dem Vulkan trinkt sich ins Grab, doch der Weg dahin ist lang und irrsinnig, ein verworrener Trip durch zahllose mexikanische Cantinas.
Wirklich, es war fast unheimlich, da war noch jemand, den sie nicht bemerkt hatte, bis der Konsul mit einem wortlosen Blick nach hinten wies; jetzt verweilte Yvonnes Blick auf der alten Frau, die an dem einzigen Tisch der Bar im Schatten saß. […] Sie hatte ein junges Hühnchen an einer Leine, das sie unter dem Kleid an ihrem Herzen trug, wo es naseweis kopfruckend herauslugte. Die Frau setzte das Hühnchen vor sich auf den Tisch, und es pickte piepsend zwischen den Dominosteinen herum.
Diese Höllenfahrt handelt allerdings nicht von einer einzelnen Person. Sie ist das Schicksal der gesamten Menschheit.
Aber Yvonne wandte den Blick ab. Ihr Herz fröstelte beim Anblick der alten Frau mit dem Hühnchen und den Dominosteinen. Es war wie ein böses Vorzeichen.
Unter dem Vulkan
Roman
Rowohlt Taschenbuch 2010 · 464 Seiten · 10,99 Euro
ISBN: 978-3499135101
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zu Niebelschützens Finsterniskindern:
Lieber Herr Heck,
wir waren und sind uns einig: Ein grandioser Roman! Darf ich auf das damalige „Gespräch“ darüber mit Alban Nikolai Herbst verweisen? Hier der Link: http://albannikolaiherbst.twoday.net/stories/provence-wolf-von-niebelschuetz-oder-die-kunst-eines-einzigen-satzes/#8460300
Das Buch verdient Leser!
Beste Grüße
NO