Die Pandemie verändert nicht nur unser Leben, sondern auch das Lesen. Manche Bücher erhalten nun eine neue Bedeutung: Weil sie zur Situation des Lockdown passen, weil sie uns vom Lockdown ablenken – oder weil man sie schon immer lesen wollte.
Die vergessene Pandemie
Ein Lektüretipp von Herwig Finkeldey
Im Krieg gibt es den Sieger […], nach einer Pandemie gibt es dagegen nur Besiegte.
Und Besiegte erinnern sich ungern. Anders als die Pestepidemien des Mittelalters oder die Choleraepidemien des 19. Jahrhunderts ist die Grippe-Pandemie von 1918 bis 1920 nicht ins kollektive Gedächtnis eingegangen. Ihre Wucht wurde von der Erinnerung an den Ersten Weltkrieg überdeckt, obwohl die Grippe weltweit fünf Mal so viele Opfer gekostet hatte.
In ihrem bahnbrechenden Sachbuch 1918 – Die Welt im Fieber denkt die britische Wissenschaftsjournalistin Laura Spinney über die Ursachen dieses Vergessens nach. Mit Kriegserklärung (Beginn) und Waffenstillstand (Ende) sowie Siegern und Besiegten passt ein Krieg zur „narrativen Struktur der kollektiven Erinnerung“.
Eine Grippepandemie jedoch hat weder einen eindeutigen Beginn noch ein klar umrissenes Ende und auch keinen offenkundigen Helden.
Nur wer die Vergangenheit verstanden hat, ist in der Lage, die Gegenwart zu deuten. Selten zeigt sich das deutlicher als bei der Grippe-Pandemie von 1918 und ihren Bezügen zur Corona-Pandemie.
Die Analogien sind schlagend: Die damaligen Diskussionen um den besten Weg gegen die Ausbreitung der Seuche beeinflussen unser Handeln heute. So zeigte sich 1918 eindeutig, dass ein Verbot von Massenveranstaltungen große Effekte auf die Ansteckungszahlen hat. Folglich fanden Fußballspiele in Brasilien ohne Publikum statt. Auch damals wurde der Verdacht geäußert, die Erkrankung sei das Resultat biologischer Kriegsführung, dies spiegelt die Ratlosigkeit im Angesicht des allgemeinen Schicksals wider. Alte Ärzte wurden wegen Personalknappheit aus dem Ruhestand geholt, auch damals gab es einen Shutdown – und über den Sinn der Quarantänemaßnahmen wurde erbittert gestritten.
Laura Spinneys fundierte medizinische Recherche zu lesen, ist erschütternd und spannend zugleich, zumal wenn man während des Lesens selbst im Shutdown lebt.
Laura Spinney
1918 – Die Welt im Fieber
Wie die spanische Grippe die Gesellschaft veränderte
Aus dem Englischen von Sabine Hübner
Hanser Verlag 2018 · 384 Seiten · 26 Euro
ISBN: 978-3446258488
Mit der „Ostlerin in mir“ durch Berlin
Ein Lektüretipp von Sieglinde Geisel
Während des Lockdowns kann man nicht nach Berlin reisen, und auch die Berliner selbst können sich in ihrer Stadt nicht so bewegen, wie sie es möchten. Wer trotzdem auf Berlin nicht verzichten möchte, kann mit Annett Gröschners Berliner Bürger*stuben die Stadt imaginär erobern.
Wieder einmal hat die Literatur mehr zu bieten als die schnöde Wirklichkeit. Annett Gröschner wirft in ihren Reportagen Schlaglichter in Berlin-Welten, wie man sie nur hier beschrieben findet: vom BER-Phantomflughafen bis zu den Berliner Kleingärten, von den letzten Tagen der Volksbühne bis zu den Ankleiderinnen hinter den Kulissen des Deutschen Theaters.
Die Autorin, die uns hier durch ihr Berlin führt, gehört zu denjenigen, die aus dem „durchgentrifizierten Prenzlauer Berg“ verdrängt wurden. Diese Verlusterfahrung zieht sich wie ein roter Faden durch die Liebeserklärung an die Stadt. Ein weiteres verstecktes Leitmotiv ist „die Ostlerin in mir“, über die wir beispielsweise dies erfahren:
Die Ostlerin in mir ist im Lauf der Jahre geschrumpft. Am Anfang habe ich gemeint, es gäbe sie gar nicht. Dann wurde sie aus Gnatz ganz groß, trug rosarote Brillen und wohnte in einem Erinnerungshotel, zusammen mit Frauen, die die Kaiserzeit noch kannten, die aber alle gestorben sind. Im Moment ist die Osterlin in mir nicht mehr als ein Überbein. Es hat keinen Zweck, es wegzuoperieren, es wächst immer nach. Stört aber auch nicht besonders beim Laufen.
Annett Gröschner
Berliner Bürger*stuben
Palimpseste und Geschichten
Edition Nautilus 2020 · 328 Seiten · 20 Euro
ISBN: 9783960542230
Ausweg als Illusion
Ein Lektüretipp von Elke Heinemann
Nur von mir kann ich mich distanzieren, meine Mutter wird und wird nicht, wie ich sonst mir selber, zu einer beschwingten und in sich schwingenden, mehr und mehr heiteren Kunstfigur. Sie läßt sich nicht einkapseln, bleibt unfaßlich, die Sätze stürzen in etwas Dunklem ab und liegen durcheinander auf dem Papier.
Ein Fazit, das Peter Handke 1972 nach dem Suizid seiner Mutter formuliert. Die Verkapselung und Verkünstelung der Mutter durch den Sohn kann nicht gelingen, weil der Sohn die Mutter nie anders als verkapselt und verkünstelt kennengelernt hat. Zwar konnte sie vom Land in die Stadt ziehen und von der Stadt zurück aufs Land, aber innerlich blieb sie eingeschlossen in der engen Welt ihres Vaters, die bestimmt war durch eine „gespenstige Bedürfnislosigkeit“.
Selbstverleugnung, Unterdrückung von Kreativität, Fantasie und Genuss prägen die Mutter, die kein individuelles Leben führt, sondern den klischierten Frauentyp der Zeit kopiert.
Sie war also nichts geworden, konnte auch nichts mehr werden, das hatte man ihr nicht einmal vorauszusagen brauchen.
Entwicklung ist unmöglich, Depression vorprogrammiert. Einen Ausweg aus der Gesellschaft der Eingeschlossen scheint es zu geben, aber am Ende erweist er sich als Illusion:
In dem Brief, der sonst nur Bestimmungen für ihre Bestattung enthielt, schrieb sie mir am Schluss, sie sei ganz ruhig und glücklich, endlich in Frieden einzuschlafen. Aber ich bin sicher, dass das nicht stimmt.
Peter Handkes Wunschloses Unglück, eine Mischung aus autobiografischer Erzählung und poetologischem Essay, ist ein kleines großes Buch über innere Unfreiheit und über die Grenzen literarischen Schreibens. Es bietet Anlass, sich in dieser Zeit äußerer Unfreiheit auf innere Freiheit zu besinnen: auf Kreativität, Fantasie und Genuss.
Peter Handke
Wunschloses Unglück
Suhrkamp Verlag 2008 · 96 Seiten · 7 Euro
ISBN: 9783518397879
Eine füksische Pause von Corona & Co
Ein Lektüretipp von Anselm Bühling
Fuchs 8 schreibt einen Brief an die Menschen. Er hat ihnen ihre „Musikwörter“ abgelauscht und ihre Sprache gelernt. Natürlich hapert es hier und da:
Weil ich bin ein Fuks! Und schreibe oder buchstabire deshalb nich perfekk.
Aber jetzt muss er sich etwas von der Seele schreiben, denn er hat mit den Menschen schlimme Erfahrungen gemacht. Und das, obwohl sie doch ihrem Nachwuchs so schöne Gutenachtgeschichten erzählen:
Das machte mir ein gutes Gefühl, so als könnten Mänschen Libe fülen und zeigen. Mit anderen Worten, Hoffnung für di Zukunf von der gansen Erde!
Diese kleine Geschichte von George Saunders, dem Autor des Romans Lincoln im Bardo, ist genau das Richtige für eine kleine Pause von Virus, Lockdown, Home-Office, Fernunterricht und den immergleichen vier Wänden. Sie spricht Erwachsene ebenso an wie Kinder, und sie eignet sich zum Alleinlesen genauso gut wie zum Vorlesen. Allein schon die Sprache ist eine Freude für sich: Der Übersetzer Frank Heibert hat für die deutsche Fassung ein „Füksisch“ gefunden, das vom ersten bis zum letzten Satz einleuchtet; es amüsiert, rührt an und wirkt niemals angestrengt oder gewollt. Und die Zeichnerin Chelsea Cardinal sorgt mit leichten Linien in Rot und Schwarz dafür, dass wir die Welt aus der Sicht von Fuchs 8 nicht nur lesen und hören, sondern auch sehen können.
George Saunders
Fuchs 8
Aus dem Amerikanischen von Frank Heibert
Luchterhand Verlag 2019 · 56 Seiten · 12 Euro
ISBN: 9783630876207
Genauigkeit und Seele
Ein Lektüretipp von Agnese Franceschini
Robert Musils Der Mann ohne Eigenschaften gehört zu den Büchern, über die alle reden, die aber nur wenige tatsächlich gelesen haben. Der österreichische Schriftsteller hat einen philosophischen Roman geschrieben, der uns mit Leichtigkeit und Ironie von den großen Themen unserer Zeit erzählt, von der Widersprüchlichkeit der Liebe bis zur Parodie der leibnizianischen „besten aller möglichen Welten“:
denn Gott macht die Welt und denkt dabei, es könnte ebenso gut anders sein.
Die im Roman erzählte Geschichte ist einfach: Ulrich, der Mann ohne Eigenschaften, wird nach mehreren erfolglosen Versuchen, ein „bedeutender Mann zu werden“, von seinem Vater gedrängt, an der so genannten „Parallelaktion“ teilzunehmen – der Vorbereitung der Feierlichkeiten zum siebzigsten Regierungsjahr von Kaiser und König Franz Joseph I., die für 1918 geplant sind. Die Unternehmung soll parallel zur deutschen Aktion zum dreißigsten Jahr der Regentschaft Wilhelms II. laufen. Wir stehen am Vorabend des Ersten Weltkrieges, und die Parallelaktion wird nirgendwohin führen. Aber sie bietet Ulrich die Möglichkeit, sich mit philosophischen Fragen zum Konflikt zwischen Vernunft und Gefühl auseinanderzusetzen, so schlägt er etwa vor, ein “Generalsekretariat der Genauigkeit und Seele” zu schaffen.
Robert Musil hat dieses Buch vor hundert Jahren geschrieben, doch sein Bild des modernen Menschen, gezeichnet mit Präzision und einer dichten, zugleich leichtgewichtigen Sprache, ist prophetisch:
Es ist eine Welt von Eigenschaften ohne Mann entstanden, von Erlebnissen ohne den, der sie erlebt, und es sieht beinahe aus, als ob im Idealfall der Mensch überhaupt nichts mehr privat erleben werde und die freundliche Schwere der persönlichen Verantwortung sich in ein Formelsystem von möglichen Bedeutungen auflösen solle. Wahrscheinlich ist die Auflösung des anthropozentrischen Verhaltens, das den Menschen so lange Zeit für den Mittelpunkt des Weltalls gehalten hat, aber nun schon seit Jahrhunderten im Schwinden ist, endlich beim Ich selbst angelangt, denn der Glaube, am Erleben sei das wichtigste, dass man es erlebe, und am Tun, dass man es tue, fängt an, den meisten Menschen als eine Naivität zu erscheinen.
Robert Musil
Der Mann ohne Eigenschaften
Roman
Rowohlt Taschenbuch · 1041 Seiten · 16 Euro
ISBN: 9783499267802
Gesellschaftsspiel des Fragens
Ein Lektüretipp von Sieglinde Geisel
In seinem Tagebuch 1966-1971 hat Max Frisch die Form des literarischen Fragebogens erfunden. Es seien „hinterhältige Fragen“, nicht unbedingt dazu gedacht, beantwortet zu werden: „Meine Absicht war es nur, auf sie aufmerksam zu machen.“
Die elf Fragebogen erschienen 1992 postum erstmals als Sammelband und sind seither ein philosophischer Longseller. Im vergangenen Jahr hat der Suhrkamp Verlag eine Neuausgabe herausgebracht, ergänzt um drei Fragebogen aus dem Nachlass zu Moral, Alkohol und Technologie.
Der Lockdown offenbart das interaktive Potenzial dieser Fragebogen. Mit seinen Fragen schlägt Max Frisch Schneisen ins Denken, deshalb eignen sie sich als (streckenweise abgründiges) Gesellschaftsspiel im trauten Heim.
Manche Fragen gewinnen im Lockdown eine neue Bedeutung:
– Wissen Sie, was Sie brauchen?
– Was erhoffen Sie sich vom Reisen?
– Wie viele Freunde haben Sie derzeit?
Andere Fragen führen auf dünnes Eis:
– Wem wären Sie lieber nie begegnet?
– Wie stellen Sie sich Armut vor?
Manche sind visionär, so lässt sich dieses Fragepaar aus dem Jahr 1966 heute nur noch im Hinblick auf den Klimawandel lesen:
Sind Sie sicher, dass die Erhaltung des Menschengeschlechts, wenn Sie und alle Ihre Bekannten nicht mehr sind, Sie wirklich interessiert?
Und wenn ja: warum handeln Sie nicht anders als bisher?
Im Jahr 1987 schrieb Max Frisch für die Rede zur Verleihung der Ehrendoktorwürde der Technischen Universität Berlin noch einen letzten Fragebogen, zum Thema Technologie. Darin findet sich diese Überlegung:
Die Saurier überlebten 250 Millionen Jahre; wie stellen Sie sich ein Wirtschaftswachstum über 250 Millionen Jahre vor?
In vielen seiner Fragen war Max Frisch seiner Zeit weit voraus. Umso irritierender ist es, dass er kein Bewusstsein für das hatte, was man heute Gender nennt. Frauen sind bei seinem „Sie“ nicht mitgemeint.
Tun Ihnen die Frauen leid?
Diese Frage könnte man, mit viel gutem Willen und etwas Fantasie, notfalls auch als Frau beantworten. Bei den sonstigen Fragen zum Thema Ehe und Vatersein sind die Männer definitiv unter sich.
– Möchten Sie eine reiche Frau?
– Sind Sie stolz darauf, Vater zu sein?
Selbst Fragen, die auf klassische #Metoo-Szenarien abzielen, formuliert Frisch aus der Sicht des Patriarchen, so etwa hier im Fragebogen zum Thema Alkohol:
Was genießen Sie unter Alkohol besonders:
(…)
dass Sie jede Frau anzufassen wagen, auch
wenn sie es widerlich findet, wenn sie ihren
Ekel zeigt?
Die Herren Tobias Amslinger und Thomas Strässle schaffen es in ihrem Nachwort übrigens, diese groteske Genderproblematik mit keinem Wort zu erwähnen.
Unter Lockdown-Bedingungen ist das nicht weiter schlimm: Es liefert Gesprächsstoff für die nächste Runde.
Max Frisch
Fragebogen
Suhrkamp Verlag 2019 · 127 Seiten · 10 Euro
ISBN: 9783518470084