Die Straßen hatten sich geleert von den Passanten, die wohl zu Hause waren, um die non-stop Nachrichten zu hören […]“ – das ist nur einer von vielen Sätzen in Cécile Wajsbrots neuem Roman Zerstörung, die angesichts der Coronavirus-Pandemie beklemmend wirken. Ein prophetisches Buch: Vor zwei Jahren geschrieben, liest es sich wie ein Protokoll dieser Tage.

Von der verstummten Verzweiflung, die auf die Stadt herabfiel, von Stille, Dunst und Erstarrung ist die Rede. Etwas Schwerwiegendes ist geschehen, woraufhin nun eine chaotische neue Welt sich zeigt. Theater, Kinos und Buchläden sind geschlossen wie auch die Grenzen. Erst ganz allmählich wird deutlicher, um welches Ereignis es sich handelt, das die Zeit so scharf in ein Vorher und ein Nachher trennt. Es ist offenbar eine Diktatur errichtet worden, mit den üblichen Einschränkungen der Freiheit und der üblichen Politik der Gleichschaltung und Überwachung.

Die Auslöschung der Erinnerung

Diese Wendung wirkt zunächst fast erleichternd, endet doch hier die Analogie zur gegenwärtigen Lage. Doch im weiteren Verlauf erscheinen die Grenzen zwischen krisenbedingten Verordnungen und diktatorischen Vollmachten dann auf einmal so fließend, dass ein Gefühl des Unheimlichen die Lektüre auch forthin begleitet. So etwa, wenn der Leser erfährt, dass keine Gespräche auf den Gehsteigen mehr zugelassen sind, nicht einmal zu zweit, und man die Bänke weggeräumt hat, denn es ist nicht erlaubt, sich in der Öffentlichkeit hinzusetzen. Von abendlichen Ausgangssperren ist die Rede, und ständig werden neue Gesetze erlassen – „Maßnahmen über Maßnahmen im Eiltempo“ –, die nur dazu dienen, die Menschen zu bedrängen und es ihnen unmöglich zu machen, die Lage richtig einzuschätzen.

Die beschriebene Diktatur weist jedoch noch ein ganz besonderes Merkmal auf. Es geht nämlich um die Auslöschung der Vergangenheit, was auf die Auslöschung der Erinnerung hinausläuft. Es gibt die Anordnung, alles zu zerstören, was älter als zehn Jahre ist, ob Häuser, Kunstwerke, Wein oder Bücher. Daher der Titel „Zerstörung“.

Der Leser erfährt diese Dinge von einer namenIosen Schriftstellerin. Was zunächst als Monolog erscheint, erweist sich als raffinierte Erzählkonstruktion, bei der die Ich-Erzählerin sich mit ihren Beobachtungen und Reflexionen per Telefon an einen anonym bleibenden „Auftraggeber“ wendet. Dessen Erwiderungen werden in ihren Monolog eingeblendet, manchmal überblenden sich die beiden Stimmen auch. Die Sprache changiert zwischen manchmal stakkatohaften kurzen Dialogen und poetisch-philosophisch-essayistischen Passagen, die ins Mythologische ausgreifen.

Wiederkehr der Katastrophe

Um was für einen Auftrag handelt es sich, und warum bleibt der Mann am anderen Ende des Telefons anonym? Die Ich-Erzählerin soll über die Atmosphäre berichten, als Schriftstellerin „das Wort ergreifen für die, die nicht reden“, und zwar in der Form von Soundblogs für eine regelmäßige Radiosendung. Sie hadert mit dem gesprochenen Wort, da sie gewohnt ist, beim Schreiben an der Rohfassung eines Textes weiter zu feilen. Der Unterschied zwischen Stimme und Schrift zieht sich denn auch als Fragestellung durch den Text. Die Anonymität des Auftraggebers erhöht die Spannung des Geschehens, man rätselt, ob er zum Personal des neuen Regimes gehört oder zu den Gegnern. Offenbar weiß dies auch die Ich-Erzählerin nicht.

Nicht nur aus diesem Grund ist die Ich-Erzählerin verunsichert, vor allem beschäftigt sie die Frage nach den Vorzeichen und Vorahnungen der Katastrophe, eben der Zerstörung. Wer das Oeuvre Cécile Wajsbrots kennt, der weiß, dass eine Frage sie seit Jahren umtreibt: Übersehen wir vielleicht, in all dem notwendigen Gedenken an die Katastrophen des 20. Jahrhunderts, dass die Katastrophe schon wieder auf uns zukommt?

Wir glaubten, die Katastrophen des vorigen Jahrhunderts hinter uns gelassen zu haben. Ungeachtet mancher Zeichen – Flugzeuge, die ohne Erklärung abstürzen, Sturm von unbekannter Stärke, neue Epidemien –, glaubten wir, das Schlimmste überwunden zu haben.

Dieser Glaube nährt sich, so die Protagonistin, aus der trügerischen Verheißung des 21. Jahrhunderts, wir könnten mithilfe der Mathematik und der Wirtschaft, der Wissenschaft und ihren Regeln, den Zahlen und den Gesetzen die Welt steuern.

Ist es nicht genau das, was wir gegenwärtig erleben? Die Angst vor dem Virus als Angst vor dem Kontrollverlust, den wir uns nie vorzustellen wagten?

Das allmähliche Verschwinden der Bilder

Zerstörung ist der fünfte und letzte Band eines Romanzyklus, den Cécile Wajsbrot unter dem Namen Haute Mer (Offenes Meer) der Frage gewidmet hat, wie die verschiedenen Kunstformen entstehen und auf die Gesellschaft einwirken. Dieser Band ist der Literatur gewidmet. In der Welt des Romans erscheint das Lesen als ein Akt des Widerstands, zumal wenn es um Werke geht, die älter sind als zehn Jahre, denn in ihnen werden die Leser mit dem Denken und Fühlen früherer Zeiten verbunden. Bei der Suche nach Vorzeichen und Ursachen der Zerstörung kehrt die Überlegung immer wieder, dass es vor allem „die Sprache ist, die uns zerstört hat“. Das betrifft nicht nur die Verbreitung eines verschwörungstheoretischen Vokabulars, in dem Worte wie „Komplizen, Verbrechen und Lügen“ den politischen Diskurs bestimmen.

Es geht darum, der Banalität der Sprache zu entgehen, hatte ich gedacht. Denn dort liegt der Ursprung unserer Übel. Ich denke das weiterhin. Seit einer Weile hatte ich bemerkt – ich spreche von der Zeit, die nun weit zurückzuliegen scheint, bevor sie kamen –, wie die Sprache verarmte. Das allmähliche Verschwinden von Bildern, die genaue Übereinstimmung zwischen Denken und Wort oder vielmehr die Wahl des kürzesten Wegs zwischen Ärmlichkeit der Ideen und Ärmlichkeit des Ausdrucks. Das Ende nicht der Umwege, aber der Nuancen, der Subtilität, der Reflexion. Kaum geschah etwas, war auch schon die Reaktion zu spüren […].

Zwang zur Unterhaltung

Dem setzt die Ich-Erzählerin explizit die Macht der Literatur entgegen – in mannigfachen Anspielungen auf Klassiker wie Homer, Tolstoi, Achmatowa, Kafka oder den japanischen Nobelpreisträger Kenzaburo Oe. Doch wie weit verfängt dies in einer Bevölkerung, die mehrheitlich der Auslöschung der Vergangenheit zugestimmt hat? Die Menschen waren ja von den Machthabern ganz ‚demokratisch‘ befragt worden, was sie abschaffen würden und was sie gern an dessen Stelle sähen.

Buchläden? Lieber Wohnungen. Die Oper? Unnötig. Kunstgeschichte? Luxus, wichtiger ist es, rechnen zu lernen und wie man sein Geld anlegt […].

Filme und Bücher sollen nur noch der Unterhaltung dienen, ja es gibt sogar einen „Zwang zur Unterhaltung“, nachdem Theater, Kinos und Bars wieder geöffnet wurden. Zeitkritisch benennt die Protagonistin weitere Vorzeichen:

Man glaubte, mit der ganzen Welt in Kontakt zu sein. Weil man auf Mails, SMS und Twitter-Nachrichten antwortete. Weil man Kommentare hinterließ […]. Während man sich doch immer mehr hinter seinen Bildschirmen isolierte. Abschirmte […].“

Es gibt kein kontinuierliches Denken mehr, aus der ständigen Unterbrechung ist eine Lebensweise geworden.

Der zeitlose Schatten

Und doch gibt es etwas, was Hoffnung macht. Und zwar gerade das, was als Symbol der Angst auftaucht: der Schatten. Bei einem der Telefonate mit ihrem Auftraggeber erscheint der Ich-Erzählerin im gegenüberliegenden Haus ein Schatten. Sie erstarrt, wagt nicht mehr, sich zu rühren. Wird sie beobachtet? Irgendwann holt gerade dieser Schatten sie „in die Wirklichkeit“ zurück, denn nun kommt ihr das entscheidende Wort, um das sich alles dreht: Angst. Unsicherheit und Angst haben zur jetzigen Lage geführt und beherrschen nun die Menschen. Unter diesen Bedingungen haben es die schwarzgekleideten Männer leicht, die in die Wohnungen eindringen und Familienfotos zerstören und die alten Bücher mitnehmen.

Doch ein Schatten muss keine Angst bereiten. Die Erzählerin erkennt, was sie vergessen hatte: dass sie ja selbst einen Schatten wirft, wenn sie in der Sonne über die Straße geht. Vor diesem Hintergrund erklärt sich ein weiteres Motiv, das den Roman von Anfang an durchzieht – wie auch das ganze Oeuvre Cécile Wajsbrots –, nämlich die Sonnenfinsternis. Ein anderes Buch des besagten Zyklus trägt sogar den Titel Eclipse. Auf dem Cover von Zerstörung ist das hochauflösende Foto einer Sonnenfinsternis über dem Eiffelturm zu sehen. Jedes Kapitel wird ferner mit einem kurzen Text eingeleitet, der jeweils das Phänomen der Sonnenfinsternis einfängt – von Homer bis Adalbert Stifter und anderen. Die Verschattung der Sonne ist ein kosmisches Phänomen, das Angst verbreitet oder uns andächtig werden lässt, auch in Zeiten der sogenannten aufgeklärten Wissenschaften. Doch der Mond wandert weiter, und die Sonne kommt hinter ihrem Schatten wieder hervor.

Dieses Bild spiegelt die Ereignisse des letzten Kapitels, das Cécile Wajsbrot mit ihren eigenen Worten einführt: 

Über den langen Steg, der das 20. Jahrhundert mit dem 21. verbindet, war der zeitlose Schatten hinweggezogen, hatte die Sonne verdunkelt, und bevor das Licht wiederkam, hatte er die gebannten, wenn auch manchmal gleichgültig scheinenden Zuschauer an die althergebrachte Ordnung der Angst anknüpfen lassen. Manche beschwören heute diese Erinnerung, um darin die Hoffnung zu schöpfen, dass es nach dieser langen Nacht auch wieder Tag werden wird.

In Sternen und in Büchern lesen

Die Hoffnung findet im Mond ihre kosmische und im Lesen ihre kulturelle Dimension. Für die Erzählerin ist der Mond sowohl Ort eines möglichen Überlebens der Menschheit als auch der Lebensfreude, die aus dem Gefühl entsteht, „etwas Größerem anzugehören, mit der Welt verbunden zu sein“. Wenn seine schmale Sichel am Himmel auftaucht, so die Protagonistin, schlägt ihr Herz schneller. Die gleiche Sichel jedoch erscheint auf manchen alten Darstellungen als Todesbarke, die sich mit der Fracht der Seelen Gestorbener füllt.

Der Mond als Zeichen, dass der Tod zum Leben und der Schatten zum Licht gehört? Eine Weisheit, die nicht so recht in eine Gesellschaft passen will, die von der Angst vor Kontrollverlust getrieben wird. Kann hier die Analogie zwischen Buchstaben und Planeten helfen, die von der Erzählerin in Anlehnung an die alten Mythen immer wieder bemüht wird? Sie erinnert sich an Studien über die Hirnphysiologie des Lesens, in denen festgestellt wurde, dass sich das Gehirn in seiner Wahrnehmungsweise beim Lesen umstellen muss. Denn während es bei der Wahrnehmung etwa eines Autos gleichgültig ist, ob dieses von links oder rechts kommt, können Buchstaben nicht in jeder beliebigen Richtung gelesen werden. Ähnlich verhält es sich mit den Mondphasen, wenn wir lernen, den zunehmenden Mond von dem abnehmenden zu unterscheiden:

In den Sternen und in Büchern zu lesen, ginge also auf die gleiche Erfahrung zurück.

Wir können den Lauf der Sterne nicht kontrollieren, aber doch vielleicht darin lesen. Und so wächst am Ende des Romans doch noch der Widerstand gegen das Regime, getragen von denjenigen, die die Kraft der Bücher hochgehalten haben. Wie die Erzählerin, die von ihrem neugewonnenen Glauben an die Literatur berichtet:

An diese Welt, in der die geschriebenen Dinge eine deutlichere Existenz haben als die wirklichen.

Bildnachweis:
Beitragsbild: Vollmond in Bochum, August 2012, LordToran / Public domain
Buchcover: Verlag

Cécile Wajsbrot
Zerstörung
Roman
Aus dem Französischen von Anne Weber
Wallstein Verlag 2020 · 230 Seiten · 20 Euro
ISBN: 978-3-8353-3610-0

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Von Frank Hahn

Freier Autor in Berlin und Vorsitzender des Vereins „Spree-Athen e.V.“, der regelmäßig ins Literaturhaus Berlin zu Vorträgen aus den Bereichen Philosophie und Literatur einlädt.

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