Der tell-Mitarbeiter Herwig Finkeldey ist Arzt und Literat. Für tell schreibt er regelmäßig über die Corona-Pandemie.
- Safety first (16. März 2020)
- Warum man es in der Medizin immer mit dem Einzelfall zu tun hat (14. April 2020)
- Das neue Chamäleon der Medizin (22. Juli 2020)
- Warum Argumente es bei Corona so schwer haben (17. September 2020)
- Die Angst in der Pandemie (28. Januar 2021)
Eine neu aufgetretene Erkrankung stellt für Patienten und Ärzte immer eine Herausforderung dar, erst recht, wenn es sich um eine pandemisch verlaufende Infektionskrankheit handelt wie COVID-19. Neben dem täglichen Wissenszuwachs, der Entscheidungen beeinflusst und bisweilen revidiert, fällt der politischen Kommunikation eine entscheidende Rolle zu.
Ein Marathon und kein Sprint
Bereits 2005 haben die Centers for Disease Control (CDC) der USA Vorschläge für die öffentliche Kommunikation ausgearbeitet: Im Fall einer Pandemie soll die Bevölkerung früh und umfassend informiert werden, wobei auf die Komplexität der Materie hingewiesen werden muss. Das Vertrauen der durch die Krankheit verunsicherten Bevölkerung ist eine der wichtigsten Voraussetzungen für die Eindämmung einer Pandemie. Geht dieses Vertrauen verloren, weil Informationen verschwiegen oder verfälscht werden, wird es schwierig, Maßnahmen zur Eindämmung des Virus durchzusetzen.
Außerdem übernehmen dann andere Akteure die öffentliche Kommunikation, wie das derzeit in der öffentlichen Debatte zu geschehen scheint. So lange in Deutschland die Infektionszahlen noch exponentiell anstiegen, sahen alle die restriktiven Maßnahmen ein. Nun aber, wo die täglich gemeldeten Zahlen sinken bzw. auf einem niedrigeren Niveau stabil sind, glauben viele, das Ziel sei bereits erreicht. Wer nun darauf beharrt, dass das Ende des Tunnels noch nicht erreicht ist und daran erinnert, dass das Virus einen Marathon erfordert und nicht einen Sprint, erfährt Gegenwind.
Wissenszuwachs mit Umwegen
Die Krankheit COVID-19 ist für die medizinische Forschung eine Herausforderung. Wir haben es in der Pathologie mit einem ganz neuen, komplexen Muster zu tun. Einerseits stellen wir eine Lungenentzündung fest, die sich vor allem im Stützgewebe abspielt, und andererseits eine ausgeprägte Neigung zur Bildung von Blutgerinnseln. Hinzu kommen im Verlauf nicht selten Sekundärfolgen der Virusinfektion. Eine der pathophysiologischen Grunderscheinungen scheint der mittlerweile in den Alltagswortschatz übergegangene Zytokinsturm zu sein, eine massive Überschwemmung des Gewebes und des Blutes mit Substanzen, die für Zellwachstum und Zelldifferenzierung zuständig sind.
Der Wissenszuwachs erfolgt in der Medizin, wie überall, mit Umwegen, und manchmal biegt man auch in die falsche Richtung ab. Bei einer neuen, multifaktoriell verursachten Erkrankung ist das ganz normal: Wir wohnen in Echtzeit der Entschlüsselung eines komplexen Geschehens bei. Das war bei Aids, bei der Creutzfeldt-Jakob-Krankheit oder bei Ebola nicht anders.
In der Tat hatte etwa das RKI zunächst wegen der Infektionsgefahr vor einer Autopsie verstorbener Corona-Patienten gewarnt. Das hat mich nie überzeugt; ich habe als Arzt in der Pathologie begonnen und seinerzeit auch Creutzfeldt-Jakob-Patienten seziert. Mittlerweile sieht das RKI das anders, nun werden auch Corona-Patienten obduziert. Die Diskussionen darüber, ob man Patienten mit schweren Krankheitsverläufen möglichst früh intubieren soll, habe ich auf der COVID-19-Station hautnah miterlebt: Inzwischen sind wir zurückhaltender geworden und intubieren erst, wenn die nicht invasiven Beatmungsmöglichkeiten mithilfe einer Sauerstoffmaske ausgeschöpft sind.
Auch außerhalb der Kliniken ändern sich mit dem jeweiligen Wissensstand die Empfehlungen. Die Debatten um Stoffmasken konnte in den letzten Wochen jeder mitverfolgen: Zunächst wurde ihr Nutzen angezweifelt, nach genauerer Prüfung hat man sie doch empfohlen, wobei auch diese Frage noch nicht abschließend zu beantworten ist. Ähnlich verhält es sich mit den Schulschließungen – niemand kann mit Sicherheit sagen, was sie zur Eindämmung der Pandemie beitragen.
Die Stunde der Populisten
Gewünscht sind simple Erklärungen für komplexe Vorgänge. Bleiben diese aus und müssen die Experten ihre Aussagen gar revidieren, weil sich der Stand des Wissens verändert hat, schlägt die Stunde der Populisten und der Scheindebatten. Der alte Trick des Vernebelns, des Verunklarens mit Viertelfakten und halbgaren Interpretationen wird aus der Versenkung geholt.
Was in einer solchen Situation beispielsweise überhaupt nicht hilfreich ist, sind Journalisten wie Julian Reichelt oder Politiker wie Boris Palmer, die nun behaupten, das RKI und „die Virologen“ würden im Chaos herumstochern und seien mit ihrer Politik-Beratung für die Zerstörung der Wirtschaft verantwortlich. Als ob Angela Merkel einen solchen Vorsatz hätte.
Eine weitere Halbwahrheit, die als Beleg für die verfehlte Bundespolitik herhalten soll, sind die angeblich leeren Intensivstationen. Bei einer neuen Krankheit fehlen die Erfahrungswerte für eine verlässliche Prognose. Selbstverständlich gab und gibt es in deutschen Intensivstationen schwersterkrankte COVID-19-Patienten, nur eben nicht so viele, wie zunächst erwartet. Hätte man keine Maßnahmen ergriffen, wäre es längst zur Katastrophe gekommen. Nun haben wir ein paar Betten mehr freigehalten, als nötig gewesen wäre – besser als umgekehrt. In der jetzigen Situation kann man wieder daran denken, jene Operationen durchzuführen, die in großem Umfang abgesagt worden waren, weil die Patienten nach der Operation ein Intensivbett benötigen.
Daraus nun jedoch ein Planungsdesaster abzuleiten, grenzt an Bösartigkeit. Die Maßnahmen haben dazu geführt, dass wir bisher noch Reserven haben. Wir hoffen, dass wir sie nie werden antasten müssen.
Eine Zäsur in der öffentlichen Debatte
Den Behörden ist kein Vorwurf zu machen, sie folgen den Empfehlungen der Wissenschaft. Die Populisten dagegen kümmern sich nicht um medizinische Erkenntnisse. Ihre aktuelle Taktik besteht in der Behauptung, dass es zwar das Virus gebe, nicht aber die Pandemie. Das Virus SARS-Cov2 verursache keine eigenständige Erkrankung: Man sterbe mit, aber nicht an dem Virus, bei der Feststellung der Todesursache sei dies nur diagnostischer Beifang und somit belanglos.
Für mich bedeutet diese Form der öffentlichen Diskussion eine Zäsur. Konnte ich den Widerstand der Populisten gegen „Eliten“, gegen „Ethno-Pluralismus“, gegen „städtisches Multikulti“ oder „das System“ wenigstens theoretisch noch einordnen, so fehlt mir für den populistischen Widerstand gegen Maßnahmen zur Eindämmung einer bedrohlichen Krankheit jedes Verständnis. Den Widerstand gegen den Klimaschutz konnte man noch halbwegs mit dem Unwillen erklären, an die nächste Generation zu denken. Aber eine Pandemie, die einen selbst gefährdet, als eine Erfindung der „Lügenpresse“ darstellen?
Zunächst habe ich mir diesen Irrsinn damit zu erklären versucht, dass die Populisten hier wieder mit ihrer Behauptung punkten wollen, die Politik „verarsche“ das Volk – ein offenbar lustbringendes Gefühl. Doch dann brachte mich das Verhalten von Boris Johnson auf eine neue Idee. Nachdem er zunächst in Populistenmanier gezögert hatte, sieht er nun die Notwendigkeit der Maßnahmen ein und handelt. Die Einschränkungen für Großbritannien wurden eben erst verlängert. Dieser Sinneswandel könnte in einem Zusammenhang mit seiner eigenen Erfahrung mit COVID-19 stehen. Er weiß, dass er ein zweites Leben geschenkt bekommen hat, und er hat begriffen, dass er zwar die öffentliche Meinung kontrollieren kann, nicht jedoch das Virus. Vielleicht ist gerade die uneingestandene Angst vor diesem Kontrollverlust der tiefere Grund dafür, dass so viele Populisten das Virus leugnen.
Sehr geehrte tell-review, Hr. Finkeldey, ich find’s gut, dass tell review nicht nur mit den Fragen nach Sprache, Stil, Kunst weiter macht wie bisher, sondern auch reagiert und Ideen zur Pandemie als Ereignis untersucht. Ich finde überall Texte, die einfach wiedergeben, was wer denkt oder sagt, und wenige, die untersuchen, welche Denkfiguren was für Bezüge haben. Wenn ich Sie richtig verstehe, so überlegen Sie, welche Motive jemand haben könnte, die Begründungen der Bundes- und Landesregierungen für die Schliessungen von Schulen, Fußballstadien und Theatern zurückzuweisen. Die Bundes- und Landesregierungen verweisen darauf, das der unweigerliche Kontakt zwischen bereits Infizierten und noch nicht Infizierten in weiter geöffneten Schulen, Fußballstadien und Theatern zu einem exponentiellen Anstieg der Zahlen von Erkrankten führen würde. Für diesen Verweis gibt es sowohl medizinische Daten über den bereits erfolgten Verlauf der Pandemie als auch mathematische Prognosen, die die medizinischen Daten nutzen. Sie überlegen, dass eine Person, die diese breit akzeptierte Begründung für sich zurückweist, damit auch die auf sich bezogene Möglichkeit zurückweist, sie könne durch eine Ansteckung mit Sars2-Cov19 binnen 10 Tagen an Lungenentzündung erkranken und mit einer bestimmten Wahrscheinlichkeit an Lungenversagen sterben. Danke für die Suche nach unerklärten Gründen, es beruhigt zwar nicht, die Überlegung nachzuvollziehen, doch es bietet einen Weg, den Zulauf für scheinbar leugnende Positionen zu verstehen.