Was wissen wir über Russland? Was denkt Russland über sich selbst und über die Welt? Und was wird in Russland über Russland geschrieben? Der Blick auf das riesige Land mit seinen 145 Millionen Einwohnern wird in den westeuropäischen Medien häufig auf einzelne Aspekte oder Personen fokussiert, oft wird unsere Wahrnehmung durch Klischees und Mythen geformt und dadurch verengt. Die 2015 von Wissenschaftlern und Journalisten ins Leben gerufene Internet-Plattform dekoder.org will dazu ein Gegengewicht schaffen: Sie übersetzt Texte aus den unabhängigen russischen Medien, die den deutschsprachigen Lesern sonst nirgendwo zugänglich sind. „Russland entschlüsseln“ heißt das lakonisch formulierte Ziel, das fast schon wie eine Utopie klingt – es bietet einen spannenden Querschnitt des zivilgesellschaftlichen Diskurses.
Ein Soundmix unabhängiger Stimmen
Wir wollen, dass die Leserinnen und Leser in der deutschsprachigen Gesellschaft mehr über Russland erfahren: als Sachwissen, aber als Sachwissen mit Kopf und Herz.
Mit diesen Worten präsentieren Chefredakteurin Tamina Kutscher und Übersetzungsredakteurin Friederike Meltendorf das erste dekoder-Jahrbuch, das 2019 im Verlag Matthes & Seitz erschienen ist.
Ziel ist es,
einen Textkörper zusammenzubauen, der die mittlerweile fast fünf Jahre dekoder abbildet: das, was in Russland passiert ist, das, was Russland ausmacht, das, was in Russland gedacht wird und nicht zuletzt das, was in Russland zu sehen ist.
Im Jahrbuch werden Texte aufgeführt, die für die Debattenlandschaft Russlands von 2015 bis 2019 kennzeichnend waren. Die Autoren repräsentieren verschiedene Generationen russischer Journalisten, Wissenschaftler und Schriftsteller. Der Band enthält neben journalistischen Essays und Hintergrundartikeln zur Kultur auch Reportagen und Interviews. Es gibt auch ungewöhnliche Formen wie Debattenschauen, Fotostrecken und die Transkription eines anonymen Handymitschnitts. Ein spannender Soundmix aus unabhängigen Stimmen.
Um den Lesern das Fremde und Unverständliche näher zu bringen, werden Texte nicht nur übersetzt, sondern mit kurzen Einleitungen, Kommentaren, Fußnoten, Fotos und Verweisen auf ergänzende Materialien versehen. Das Buch wird damit zu einem Wegbegleiter, der die Orientierung im „Kosmos Russland“ erleichtert.
Szenen aus der Tiefe
„Der FSB und mein riesiger rosa Schwanz“ lautet der Titel des Essays, der den Band eröffnet. In parodistischer Form entwirft die Journalistin und Schriftstellerin Olga Beschlej die emotionale Logik der Überwachungsangst. Wie soll man sich verhalten, wenn man einen Anruf vom FSB (Föderaler Sicherheitsdienst Russlands) bekommt? „Den erfahrenen Kollegen zufolge soll man sofort, nachdem der FSB einen kontaktiert und einen Gesprächstermin vorgeschlagen hat, in allen sozialen Netzen darüber berichten.“ Voller Ironie erzählt Beschlej über ihre persönliche Erfahrung des Kontakts mit den Geheimdiensten.
Die Petersburger Journalistin Maria Tarnawskaja begibt sich in die Welt der Obdachlosen und berichtet von deren Leben. Beim Lesen dieser „Szenen aus der Tiefe“ bewegt man sich zwischen Entsetzen und Mitleid, Neugier und Staunen. Wer sind diese Menschen? Warum sind sie im Abseits? Einige Geschichten scheinen absurd zu sein, wie die von dem ehemaligen Schneider Wassili. Nach dem Umbruch der neunziger Jahre hat er quasi aufgehört zu existieren:
Ein sehr sympathischer Mann, der Anfang der 1990er Jahre im Gefängnis landete und als er rauskam, war es, als hätte es ihn nie gegeben: Er tauchte in keiner Datenbank auf, keinem Dokument, weder beim Standesamt noch bei seinen ehemaligen Arbeitgebern noch in der Poliklinik – nirgends. Seitdem versucht Wassili zu beweisen, dass es ihn gibt, doch die Sache geht nur schleppend voran.“
Wie findet man aus der Tiefe wieder heraus? Die Journalistin spricht nicht nur mit Betroffenen, sondern auch mit dem Leiter der Hilfsorganisation „Notschleshka“ (etwa: Nachtasyl).
Der Sozialarbeiter erzählt von seinen Erfahrungen:
Obdachlose verlieren ziemlich schnell ganz normale Fähigkeiten: Verantwortung für etwas zu übernehmen, etwas zu vereinbaren – sie brauchen das nicht. Auf der Straße sind andere Fertigkeiten gefragt: Wichtig ist, dass man sich bei minus 20 Grad richtig anzieht und mit zwei Stunden Schlaf am Tag auskommt.
Schätzungsweise 60 000 Menschen leben in Sankt Petersburg auf der Straße. Nicht jeder bekommt eine zweite Chance.
Der unsichtbare Staat
Liest man die Texte aus dem Abschnitt „Politik, Patriarch, Putin“, überkommt einen das Gefühl, dass Russland auch aus der Innenperspektive weiße Flecken aufweist. Der Analytiker Maxim Trudoljubow berichtet über einen ‚anderen‘, unsichtbaren Staat, der parallel zum ‚gewöhnlichen‘ Staat funktioniert:
Wir kennen seine Dimensionen nicht, wissen nicht, wie viel Geld und wie viel Leben durch ihn aus dem gewöhnlichen Staat abgezapft werden und dann in der Blackbox des parallelen, privaten Staates verschwinden.
Die Rhetorik des Rätselhaften und Unbestimmbaren sei zur Strategie der staatlichen Politik geworden, so der Journalist Sergej Medwedew, der in seinem Beitrag „Exportgut Angst“ das archetypische Bild des bedrohlichen Russlands untersucht:
Russland hat einen schillernden Raum der Unbestimmtheit geschaffen, in dem seine Rolle dämonisiert und, aller Wahrscheinlichkeit nach, überzeichnet wird – aber genau das ist offenbar, worauf Putin es angelegt hat.
Während viele Journalisten sich mit Russland als „Staat des Zaren“ befassen, kritisiert die Kulturhistorikerin und Publizistin Irina Prochorowa die „Putinfixiertheit“ der Medien und verweist auf die Notwendigkeit, den Blick zu erweitern und den Staat als komplexen Mechanismus zu betrachten.
Gehört Russland zu Europa?
Die Texte aus dem Abschnitt „Russland und der Westen“ reflektieren die Rolle Russlands im internationalen Kontext. Die ewigen Identitätsfragen, die schon im 19. Jahrhundert von Westlern und Slawophilen diskutiert wurden, sind nach wie vor aktuell. Gehört Russland zu Europa? Sind europäische Ideologien produktiv oder eher schädlich? Der Politiker Wladislaw Surkow, der in den russischen Medien als „graue Eminenz“ der russischen Politik gilt, stellt fest:
Das russische und das europäische Kulturmodell haben bei aller äußeren Ähnlichkeit eine unterschiedliche Software und inkompatible Schnittstellen. Sie fügen sich nicht in ein gemeinsames System.
Diese grundsätzliche Differenz der Kulturmodelle erkläre die schon seit Jahrhunderten andauernde „geopolitische Einsamkeit“ Russlands. Es sei höchste Zeit, diese „Einsamkeit“ als „Schicksal“ anzuerkennen, so Surkow.
Die Geister der Vergangenheit
Viele der im Buch aufgeführten Texte sind der kollektiven Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg und an die Geschichte der Gewalt in der Sowjetunion gewidmet: Wie prägen diese Geister der Vergangenheit das russische Leben? Wie ist es zu erklären, dass Stalin in Umfragen heute als eine der herausragendsten Persönlichkeiten Russlands genannt wird?
Mit dieser Frage setzt sich die russische Politologin Ekaterina Schulmann in ihrem Beitrag „Stalin – eine aufgezwungene Liebe“ auseinander:
Wenn man die Aktionen, Maßnahmen und Bekundungen anschaut, die sich als Anzeichen einer schleichenden Re-Stalinisierung oder einer Rehabilitierung Stalins deuten lassen, dann zeigt sich: Jeder dieser Fälle ist direkt oder indirekt von staatlicher Seite initiiert.
Diese Feststellung wirft Fragen auf: Welche Ziele werden durch die Staatspropaganda verfolgt? Wem nutzt die Wiederbelebung der alten Mythen?
Das kollektive Gedächtnis scheint unzuverlässig zu sein, daher sind biografische Berichte von Zeitzeugen von unschätzbarer Bedeutung. Im Mai 2017, kurz vor seinem Tod, veröffentlichte die Novaya Gazeta ein Interview mit dem Schriftsteller Daniil Granin. Er hebt darin die Unzulänglichkeit der offiziellen Kriegsgeschichte hervor:
Den Krieg, den ich erlebt habe, findet man nicht in Dokumenten. Auch was konkrete Ereignisse angeht, ist da nicht viel.
Es müssen also neue Antworten auf alte Fragen gesucht werden. Die Kriegsgeschichte muss revidiert und neu gelesen werden, und das bedeutet, Fehler einzusehen und zuzugeben. Doch wer übernimmt die Verantwortung dafür? Diese Frage hängt schon lange in der Luft.
Der naphtalingetränkte Teppich an der Wand
Das dekoder-Jahrbuch schlägt einen Bogen von der Geschichte über die Politik bis zum Alltag. Diese Verbindung spürt man besonders deutlich in dem Abschnitt „Neues Wohnen“. Welche Bewusstseinsstrukturen, Rituale und Lebensstile hat die sowjetische Wohnpolitik geprägt? Sind diese bis heute gesellschaftlich wirksam? Die Slawistin Sandra Evans schreibt über die Geschichte der Kommunalka (etwa: Gemeinschaftswohnung). Nach der russischen Revolution wurden die großen Wohnungen der Oberschicht neu aufgeteilt und Familien der Arbeiterklasse zur Verfügung gestellt. Diese (Schicksals-)Gemeinschaften haben den Zerfall der Sowjetunion überlebt. Auch heute wohnt ein Fünftel der Bevölkerung von Sankt-Petersburg in Kommunalkas.
Die Schlüsselsymbole der materiellen sowjetischen Kultur erzählen viel über das Verhältnis der sowjetischen Vergangenheit zur Gegenwart Russlands. Die Schweizer Historikerin Monika Rüthers zeigt, wie sich die kulturellen Konnotationen des Wandteppichs im Laufe der Zeit gewandelt haben. Einst ein Symbol für Wohlstand, wurde er in postsowjetischen Zeiten zum Zeichen der Geschmacklosigkeit und „sovok“ (eine abwertende Abkürzung für das Sowjetische). Doch nach und nach kehrt der naphtalingetränkte Teppich wieder an die Wände der russischen Wohnungen zurück. Warum haben die alten Symbole eine solch starke Anziehungskraft? Woher kommt die Sehnsucht nach der Sowjetunion?
Kontrolle der Sprache
Das dekoder-Buch wendet sich darüber hinaus an alle, die sich für die russische Alltagssprache interessieren. Mehrere Texte bieten Einblick in die aktuelle Entwicklung des russischen Lexikons. Der prominente Kulturhistoriker und Philologe Gasan Gusejnov beschäftigt sich mit Metamorphosen der russischen Sprache nach dem Zerfall der UdSSR. In seinem Beitrag „Der Geist der Korruption“ beantwortet er etwa die Frage, warum es in der russischen Sprache so viele Jargon-Ausdrücke und Euphemismen für Schmiergeld und Korruption gibt.
Der Linguist Daniel Bunčić wiederum setzt sich mit den soziokulturellen Funktionen der russischen Vulgärsprache (russ.: „mat“) auseinander. „Seit 2013 stellen Gesetze die Verwendung von ‚obszöner Lexik‘ in den Medien unter Strafe“. Was ist so gefährlich an der Sprache? Rutscht damit die ‚subversive Kunst‘ in die Illegalität, fragt Bunčić. Staatliche Kontrolle der Sprache und Literatur hat in Russland allerdings eine lange Geschichte.
Ein Fenster ins heutige Russland
Der abschließende Teil mit dem Titel „Haste Töne“ enthält drei sogenannte Gnosen. Bei den Gnosen handelt es sich um eine neue journalistische Form, die von dekoder eigens entwickelt wurde, eine Mischung zwischen Fußnote und Hintergrundartikel. Eine davon ist Iwan Turgenjew gewidmet. Turgenjew hatte viel Zeit in Deutschland und England verbracht und war sein ganzes Leben lang auf der Suche nach den Verbindungslinien zwischen Russland und Westeuropa. Er wollte Russland für die Westeuropäer verständlich machen und war damit einer der wichtigsten Botschafter der russischen Kultur in Europa.
Auch heute steht die Entschlüsselung kultureller Zusammenhänge in Bezug auf Russland hoch im Kurs. Dekoder bietet mehr als nur einen Schlüssel zum besseren Verständnis der russischen Politik, Kultur und Gesellschaft, das Magazin veranschaulicht auch die zugrunde liegende Dynamik öffentlicher Debatten. Für Leserinnen und Leser eröffnet das dekoder-Jahrbuch ein neues Fenster, das viele spannende Sichtweisen aus und auf das heutige Russland ermöglicht.
Bildnachweis:
Beitragsbild: Rolltreppe in Moskuaer Metrostation,
Foto von Andrew Currie vie flickr, Lizenz CC BY-SA 2.0
Buchcover: Verlag
Tamina Kutscher / Friederike Meltendorf (Hg.)
dekoder
Russland entschlüsseln 1
Matthes & Seitz 2019 · 335 Seiten · 20,00 Euro
ISBN: 978-3-95757-764-1