Der tell-Mitarbeiter Herwig Finkeldey ist Arzt und Literat. Für tell schreibt er regelmäßig über die Corona-Pandemie.

Die aktuelle Lage der Pandemie erinnert mich an eine „drȏle de guerre“, einen Sitzkrieg. Man wartet auf die von vielen Modellen vorhergesagte und in Deutschland noch nicht eingetroffene Apokalypse und vertreibt sich die Zeit mit Planspielen und Gedankenexperimenten.

Wie viele Patienten werden schwer betroffen sein? Wie viele von ihnen werden sterben, wie viele überleben? Welche Rolle spielen die Ressourcen des Gesundheitswesens in diesen Planspielen, welche das Klima? Hat das Virus vielleicht doch saisonale Spitzen und wird sich die Lage im Sommer entspannen?

Das Trolley-Problem

Ich höre und lese viele Meinungen zu Covid-19. Als Intensivmediziner habe ich dabei nicht selten den Eindruck, dass Lautstärke und Fachwissen sich umgekehrt proportional verhalten. Das gilt besonders, wenn der berühmte Trolley über die Intensivstationen rumpelt.

Das Trolley-Problem ist ein philosophisches Gedankenexperiment, in dem ein Weichensteller die ungebremste Fahrt einer Straßenbahn (englisch: trolley) in eine fünfköpfige Menschenmenge verhindern kann, indem er die Weiche stellt – freilich um den Preis, dass der Straßenbahnwagen nun einen einzelnen Menschen überrollt, der auf dem Nebengleis steht. Fünf Menschenleben gegen eines, da scheint die Entscheidung nicht schwer zu fallen. Allerdings nimmt bei dem Unglück mit den fünf potenziellen Opfern das Schicksal seinen Lauf von selbst, während der Wagen im anderen Fall, mit dem einen Opfer auf dem Nebengleis, aktiv umgelenkt wird. Doch wer wollte diese Entscheidung fällen, wer die Weiche betätigen?

Grauzonen der Medizin

Manche glauben nun, das Trolley-Problem sei eins zu eins auf die Situation auf Intensivstationen in der Covid-19-Pandemie übertragbar. Die Wörter Triage und Selektion fallen in moralisch aufgewühlten Diskussionen. In Norditalien, in Spanien ist dieses Dilemma Realität. Oder etwa nicht?

Wenn die Kapazitäten des Gesundheitssystems nicht ausreichen, kommt es in der Tat zu diesem Dilemma. Doch ist dieses keineswegs so statisch und berechenbar, wie es das Gedankenexperiment nahezulegen scheint. Denn die moderne Medizin hat Wirklichkeiten und Grauzonen geschaffen, die das Trolley-Konstrukt nicht einmal annähernd beschreibt.

Brücke oder Planke?

Ich möchte dies mit einem anderen Bild anschaulich machen. Intensivmedizin besteht darin, einem Patienten eine Brücke über einen reißenden Fluss zu bauen, den er allein nicht überqueren kann. Idealerweise geht sein Weg am anderen Ufer dann so weiter wie bisher. Bestünde die Intensivmedizin ausschließlich aus solchen Idealfällen, ließe sich das Trolley-Experiment in der Tat auf das Dilemma der Krankenhäuser bei fehlenden Kapazitäten anwenden: Als Arzt müsste ich dann die Rolle des Richters über Leben und Tod übernehmen.

Aber die Wirklichkeit der High-Tech-Medizin sieht anders aus, und das ist hier entscheidend. Denn nicht selten baut man dem Patienten keine Brücke, sondern verlängert nur die Planke, von der er, nach qualvoller Therapie, dann doch in diesem Fluss versinkt. Manchmal weiß man von vornherein, dass es so enden wird. Manchmal aber fängt man in guter Hoffnung die Therapie an und muss dann feststellen, dass die Brücke doch nur eine Planke ist. Auf halbem Weg zeigt sich: Es war vergebens.

Die Rolle von Vorerkrankungen

Deswegen finden auf Intensivstationen regelmäßig Re-Evaluationen statt: Ist unser Ziel realistisch, ist unsere Therapie sinnvoll oder verlängern wir nur Leiden? Bei solchen Überlegungen spielen die nun angesichts der Coronavirus-Krise vielzitierten „Vorerkrankungen“ eine zentrale Rolle, denn von ihnen hängt es oft ab, ob ein Patient eine akute schwere Erkrankung mit Hilfe der Intensivmedizin bewältigen kann oder nicht.

Wir Ärzte versuchen abzuschätzen, welche Ressourcen der Patient hat und welche Vorerkrankungen ihn zusätzlich belasten. In den aktuellen Debatten um Covid-19 meinen manche in vorschneller Empörung, es sei verwerflich, diese Vorerkrankungen in die Überlegungen und in die Gespräche mit den Patienten (häufig ist das nicht mehr möglich) und den Angehörigen mit einzubeziehen. Doch das ist keineswegs verwerflich, es ist sogar geboten: Ein Intensivmediziner, der seine prognostischen Überlegungen ohne das Einbeziehen von Vorerkrankungen anstellt, begeht einen schweren Fehler.

Im Einklang mit dem Patienten

Und bei diesen Fragen hört die Komplexität der modernen Medizin noch lange nicht auf. Denn nicht selten erreichen die Patienten zwar das andere Ufer – doch davon, dass ihr Leben weitergeht wie zuvor, kann keine Rede sein. Oft leben sie mit schweren Beeinträchtigungen weiter, schlimmstenfalls als Dauerbeatmete in einem Beatmungsheim. Sie haben dann eine Kanüle im Hals, die direkt in die Luftröhre geht und an der das Beatmungsgerät angeschlossen ist. Es gibt Patienten, die das wollen – die Mehrheit möchte es nicht, und viele lehnen es bereits im Vorfeld mit einer Patientenverfügung ab.

Im Idealfall, den es in der Realität allerdings nur selten gibt, trifft man eine Therapieentscheidung im Einklang mit dem Patienten, den Angehörigen und auch mit sich selbst. Und das ist durchaus nicht immer die Entscheidung zur Maximaltherapie. Einer Patientin, die schon schwer lungenkrank ist, dazu herzkrank und dement, wird man nicht unbedingt eine Langzeitbeatmung empfehlen, sondern man wird vielmehr einen palliativmedizinischen Ansatz verfolgen.

Aber auch das ist in gewisser Weise noch ein selten eindeutiger Fall. In der Intensivmedizin trifft man Entscheidungen oft unter extremem Zeitdruck und ohne genaue Kenntnis über Vorsorgevollmachten oder Verfügungen.

Was ist ethisch korrekt?

Wenn ich als Arzt nun eine Situation geschaffen habe, in der eine Patientin, die das nie wollte, dauerhaft beatmet werden muss – habe ich dann ethisch und medizinisch korrekt gehandelt? Oder ging es mir vor allem um die eigene juristische Absicherung? Denn wenn keine entsprechende Patientenverfügung vorliegt, droht einem Arzt möglicherweise der Vorwurf der unterlassenen Hilfeleistung. Wobei im Fall einer Situation, die von vornherein kaum Hoffnung erlaubt, diese unterlassene Hilfeleistung womöglich die ethisch besser zu vertretende Handlung darstellt. Das ist ein echtes Dilemma, bei dem Ethik und Rechtsprechung in Widerspruch zu einander geraten können.

Die Covid-19-Lungenentzündung kann Kerngesunde und Menschen mit leichten Systemerkrankungen ebenso treffen wie Schwerkranke und Hochbetagte, die vielleicht vor Jahren schon ihren Wunsch bekundet haben, auf lebensverlängernde Maßnahmen im Fall einer schweren Erkrankung mit unsicherer Prognose zu verzichten.

All das ist im Einzelfall abzuwägen. Mit flächendeckenden „Kriterien“, wie sie nun für den Fall der Triage gefordert werden, sind solche Situationen nicht zu bewältigen.

Eines aber sollte klar geworden sein: Bei dieser durch die moderne Medizin geschaffenen, komplexen Wirklichkeit kommt der Trolley zum Stehen. Er kann diese Wirklichkeit nicht mehr abbilden – und sollte ins Museumsdepot rollen, wo er hingehört. Er setzt eindeutige Situationen voraus, die es in der medizinischen Wirklichkeit ganz einfach nicht gibt.

Bildnachweis:
Beitragsbild: Schockraum der Uni-Klinik Mannheim im Bereitschaftszustand, via Wikimedia
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Von Herwig Finkeldey

Ein Kommentar

  1. Marc Djizmedjian 14. April 2020 um 15:32

    Danke für diese differenzierzen Überlegungen, die mich die Situation besser verstehen lassen.

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