In den Wirren der sich auflösenden Monarchien Ost- und Mitteleuropas begann im Jahr 1919 der Polnisch-Sowjetische Krieg. Sein Ausgang 1921 hat die weitere Entwicklung Osteuropas entscheidend geprägt. Doch im Westen sehen ihn viele als Fußnote.
Über diese Fußnote hat der Historiker Stephan Lehnstaedt nun ein schmales, aber wichtiges Buch verfasst. Im Norden zog sich dieser vergessene Krieg bis ins Baltikum, im Süden bis weit in die Ukraine. Dass die Frage nach einer ukrainischen Nation danach siebzig Jahre lang nicht mehr auf der Tagesordnung stand, ist ein Ergebnis dieses Kriegs, denn über die nationalen Bedürfnisse der ukrainischen Bevölkerung hatte der Sozialismus gesiegt. Damit ist einer der zentralen Gedanken des Buches angedeutet: die Frage nach dem Motiv der Staatenbildung. Nationalismus oder Sozialismus – diese beiden Prinzipien prallen direkt aufeinander, wenn man die Folgen dieses Kriegs analysiert.
Lehnstaedt schreibt:
Das eigene Vaterland war den meisten Osteuropäern ausgangs des 19. Jahrhunderts eine geliebte Idee – aber keine, mit der sie auf einen eigenen Nationalstaat hoffen konnten. Zu fest saßen die Kaiser in Wien, St. Petersburg und Berlin auf ihren Thronen.
Das änderte sich mit dem Ende der Monarchien. Zunächst kam der Sozialismus nicht gegen die enormen Bindekräfte nationaler Identitäten an, das war dem sowjetischen Politkommissar der Südfront, Josef Stalin, klar. Lenin und Trotzki dagegen wollten mit der Roten Armee den Sozialismus über Polen nach Westen tragen.
Ein verheerendes Vorhaben, wie Lehnstaedt resümiert:
Mit Blick auf den weiteren Verlauf des 20. Jahrhunderts lässt sich wohl sagen, dass es eine ganz und gar kontraproduktive Entscheidung war, denn kaum je wurden Sympathien für den Sozialismus so gründlich bereits in ihren Ansätzen erstickt.
Auch aus dieser Erfahrung heraus entwickelt Stalin später das Konzept des „Sozialismus in einem Land“, was wiederum die Voraussetzung dafür war, dass er den Zweiten Weltkrieg als den „Vaterländischen Krieg“ im kollektiven Gedächtnis der Sowjetunion verankern konnte.
Ausführlich thematisiert Lehnstaedt die Leiden der Zivilbevölkerung, besonders die der Juden im Kriegsgebiet. Beide Seiten verübten Pogrome, allerdings begingen die polnischen Truppen dabei die größeren Verbrechen. Die Ursache dafür sieht Lehnstaedt in den Nationalbewegungen, dem Traum von ethnisch homogenen Staaten – „in denen für Juden kein Platz mehr war“.
Daraus folgte fast zwangsläufig eine gewisse Sympathie der osteuropäischen Juden für den Sozialismus.
Die Attraktivität des Kommunismus als internationale, nicht religiöse Ideologie für Juden bestand nun gerade im Gegensatz zu den Nationalbewegungen, die die Juden ausschlossen.
Viele Juden, die in den Kampfgebieten der Ukraine und den Masuren lebten, sprachen überdies russisch, aber nicht polnisch. Dies mag ebenfalls zur Attraktivität des Kommunismus beigetragen haben – obwohl auch die Sowjetunion antisemitisch agierte.
Lehnstaedt fasst die Auswirkungen dieses Krieges in seinem Buch gut zusammen. Sie reichen von den stalinistischen Säuberungen in der Sowjetunion und ihrer Militärstrategie im Zweiten Weltkrieg bis zur heutigen Identitätsfindung der Ukraine, ja bis zu den nationalistischen Tendenzen in Polen und bei den Identitären im Westen.
Im August 1920 gelang es Polen, die Rote Armee zurückzuschlagen – dieses „Wunder an der Weichsel“ war für Polen in der Zwischenkriegszeit identitätsstiftend. Es war Anlass für die Erinnerung an 1683, als Jan Sobieski den entscheidenden Schlag gegen die Türken vor Wien geführt hatte, denn mit dem Sieg über die Rote Armee konnte sich Polen ein weiteres Mal als Retter Europas vor einer Invasion aus dem Osten feiern lassen.
Seit dem Ende des Sozialismus wird nun dieser unterdrückte Mythos reaktiviert. Die Dritte Polnische Republik nach 1989 knüpfte identitätspolitisch an die Zweite Polnische Republik von 1919 bis 1939 an. Allerdings zeigt sich in den polnischen Populisten um PIS auch die aggressive, ausschließende Variante dieser identitätspolitischen Volte: Wer auf einen Mythos rekurriert, wendet sich dabei oft gegen jene Menschen, die in diesem Mythos nicht vorkommen.
Und so darf man sich nicht darüber wundern, dass Polens zweimalige „Abendlandsrettung“ sich auch in den Köpfen der europäischen Identitären und bei PEGIDA wiederfindet. Auch hier ist die Jahreszahl 1683 präsent, ähnlich wie der Kampf der Spartaner am Thermopylen-Pass. Gemeint ist freilich mit dieser „Rettung“ nichts anderes als die Abwehr derjenigen, die vermeintlich nicht zu Europa gehören sollen.
Bildnachweis:
Beitragsbild: Polnische Truppen in Kiew 1920, via Wikimedia Commons
Stephan Lehnstädt
Der vergessene Sieg
Der Polnisch-Sowjetische Krieg 1919-1921 und die Entstehung des modernen Osteuropa
Verlag C. H. Beck 2019 · 217 Seiten · 14,95 Euro
ISBN: 9783406740220