Der Ungar László Krasznahorkai, der inzwischen in Berlin lebt und immer wieder als Kandidat für den Literaturnobelpreis genannt wird, galt bisher als einer der letzten Mystiker unter den großen Europäern. Nun feiert er in seinem neuen Buch ein wüstes Genrespektakel. Eine schlagwütige Rockergang, ein Arsenal an Schnellfeuergewehren und hochgradig korrupte Beamte konkurrieren in „Baron Wenckheims Rückkehr“ um den überraschendsten Auftritt.

Ein unschuldiger Seelenfänger

Der Roman gehört nicht zu Krasznahorkais aufs Transzendente und letzte Fragen zielenden Büchern. In ihnen, die so seltsame Titeln tragen wie Seiobo auf Erden, Der Gefangene von Urga oder Im Norden ein Berg, im Süden ein See, im Westen Wege, im Osten ein Fluss, ist das Geschehen in der Ferne angesiedelt: in Spanien, Japan und der Mongolei. Wann immer aber Krasznahorkai in seiner Prosa nach Ungarn zurückkehrt, scheint sich ihm eine einzige Melodie aufzudrängen: der „Satanstango“, so der Titel seines ersten Romans von 1985.

Auch in dem neuen Roman nimmt das Unheil mit einem Seelenfänger seinen Lauf. Nur ist es diesmal ein unschuldiger. Baron Wenckheim ist in den 50er Jahren nach Übersee geflohen – die Rückkehr in seine kleine südostungarische Geburtsstadt löst dort Euphorie aus. Mit liebedienerischer Brutalität reinigt man das Stadtbild von Obdachlosen und Bettlern, verschiebt die Müllberge des kleinen Boulevards in die Nebenstraßen und vertreibt die Waisen aus dem zweckentfremdeten Schloss der Wenckheims. Die Lösung aller Probleme scheint nah, denn dem Baron werden Reichtümer nachgesagt, und dem Bürgermeister steht schon eine stattliche Reihe von Springbrunnen vor Augen.

Der Text eines Toten

In Wahrheit allerdings ist Wenckheim ein armer Schlucker. In argentinischen Casinos hat er so oft Bankrott erlitten, dass die Familie um ihren Ruf fürchtete und den notorischen Spieler mit einem Handgeld in die Heimat geschickt hat. Ratlos sitzt der gealterte Baron in der Stadt, die er nicht wiedererkennt; gegenüber der Jugendliebe Marika bringt er vor lauter Schüchternheit kein Wort heraus. Marika wiederum glaubt, er habe auch sie nicht wiedererkannt und verlässt gebrochen die Stadt. Der depressive Baron sucht auf Bahngleisen den Freitod, und er findet ihn auch, allerdings in einer bösen Farce. Der Tote hinterlässt einen Text: eine Beschimpfung des „Scheißungarn“ im Allgemeinen und einiger städtischer Honoratioren im Besonderen. Als die Zeilen in der Zeitung erscheinen, beginnen die eben noch aggressiv unterwürfigen Stadtbewohner vor Niedertracht zu schäumen. Dann versinken sie jedoch in Angststarre. Denn plötzlich sind die Straßen voller Tanklastwagen, Kröten fallen vom Himmel, es gibt Tote und Vergewaltigte. Selbst der Polizeidirektor, der die Stadt mit einer gedungenen Rockerbande terrorisiert, verliert im Chaos den Überblick.

Doch diese derb-saftige Geschichte, die sich so gut nacherzählen lässt, ist nicht einmal die halbe Wahrheit über das Buch. Denn es enthält eine zweite Geschichte. Mit ihr beginnt das Buch, doch dann wird sie von Baron Wenckheims Rückkehr, Tod und Fluch nach und nach verdrängt. Diese zweite Geschichte handelt von einem namenlosen Professor, der an die Peripherie von Wenckheims Geburtsstadt geflohen ist. Im „Dornbusch“ hat er sich aus Müll eine Hütte gebaut. Sie wird von seiner unehelichen Tochter sowie einer Meute Journalisten belagert, bis die mit dem Polizeidirektor alliierte Rockerbande alle verjagt. Der Professor erschießt einen der Rocker und flüchtet. Ihm gelingt die Flucht, im Gegensatz zu Wenckheim: Marika, die Jugendliebe des Barons, erkennt den Professor jedenfalls auf einer vermutlich regierungskritischen Demonstration in Budapest. Die beiden scheinen die einzigen Überlebenden des Totentanzes in der namenlosen Kleinstadt.

Eine “Warnung” zu Beginn

Wie diese voneinander unabhängigen Genregeschichten zusammenhängen, deren rhythmische Satzgirlanden Christina Viragh hinreißend übertragen hat, bleibt rätselhaft. Anderes auch: Manche Kapitel tragen Überschriften wie „TRRR…“, „RAM“, „PAM“ oder „HMMM“, und am Ende vermerkt eine als „Notensammlung“ betitelte Aufzählung eine halbe Seite lang „verwendetes, verschwundenes Material“ (darunter: „der Professor“, „Marika“) sowie, auf mehr als acht Seiten, „verwendetes, vernichtetes Material“ (hier geht es unter anderem um die Leichen des Bürgermeisters und der Kleinstädter). Außerdem beginnt das Buch nicht etwa mit der Titelseite und den üblichen Angaben zu Autor, Titel, Gattung, Übersetzerin und Verlag – davor steht vielmehr ein mit „Warnung“ überschriebener Text. Höchst gelangweilt putzt darin „eine Art Impresario“ seine Zuhörer herunter, Musiker offenbar: Er wisse alles, sie hätten in dieser „Produktion“ zu gehorchen. Ein Dirigent? Der Erzähler, vom Autor mit einer deutlichen Hybris ausgestattet? Ein Schöpfergott?

László Krasznahorkai gibt dem Affen mit den beiden gewalttätig-traurigen Geschichten gleich zweimal Zucker, verweigert aber die beruhigende Deutung. Baron Wenckheims Rückkehr ist spannend, humorvoll und derb, dazu ein sprachlicher Genuss und eine Herausforderung. Die Lektüre lässt einen ratlos und fasziniert zugleich zurück.

Bildnachweis:
Beitragsbild: Reök Palota in Szeged, via Wikimedia Commons

László Krasznahorkai
Baron Wenckheims Rückkehrt
Roman · Aus dem Ungarischen von Christina Viragh
S. Fischer Verlag 2019 · 494 Seiten · 28 Euro
ISBN: 978-3-10-002237-0

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Von Jörg Plath

Jörg Plath ist Kritiker und Literaturredakteur bei Deutschlandfunk Kultur. (Foto: © Fotostudio gezett)

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