Als Debüt eines Unbekannten wurde dieses Buch 1966 für den Prix Goncourt vorgeschlagen, in Kanada gilt es als zentrales Werk, doch im deutschsprachigen Raum blieb seine Veröffentlichung in einem kleinen Schweizer Verlag 2012 ohne großes Echo. Nun ist Réjean Ducharmes irrwitziger Roman Von Verschlungenen verschlungen noch einmal erschienen, zum Auftritt Kanadas auf der Frankfurter Buchmesse. Doch er droht ein weiteres Mal unterzugehen, weil die Präsentation des Gastlandes aufs nächste Jahr verschoben worden ist.

Sich selbst erfinden

Den vielfach prämierten und hier zu Lande völlig unbekannten Autor und Bildhauer, Jahrgang 1941, hätte dies nicht gestört – bis zu seinem Tod 2017 scheute Réjean Ducharme die Öffentlichkeit. In Von Verschlungenen verschlungen erzählt er auf ungemein radikale Weise von einer Heranwachsenden, die nichts will, als ihre Identität zu finden und darüber alles um sie herum zerstört.

Der Stolz verlangt, dass man das ist, was man sein will. Wichtig ist, dem Stolz Genüge zu tun, wichtig ist, sich selbst gegenüber nicht das Gesicht zu verlieren, wichtig ist der majestätische Auftritt vor einem Spiegel, wichtig sind die Ehre und die Würde, die aufrechterhalten werden gegen die fremden Mächte, von denen die neugeborene Seele heimgesucht wird. Was zählt, ist, sich für jede selbst ausgeführte Handlung verantwortlich zu wissen und gegen ein Leben zu leben, zu dem uns eine in uns vorgefundene Natur verdammt hat. Man muss sich gleich dem riesigen schwarzen Bewacher der bösen Genien auspeitschen lassen, um nicht einzuschlafen. Wenn es sein muss, werde ich mir, um die Augen offenzuhalten, die Augenlider ausreißen. Ich werde den Boden für jeden meiner Schritte auswählen. Mit dem bisschen Stolz, das ich habe, werde ich mich erfinden.

Bérénice Einberg ist eine Ich-Terroristin. Eine Ich-Terroristin mit Pickeln im Gesicht.

„Gebt mir schnell ein Gewehr!“

Der Roman beginnt mit dem Satz „Alles verschlingt mich“. Bérénice wehrt sich gegen die drohende Auslöschung. Hilfe hat sie nicht zu erwarten. Einsam wächst sie in einer ehemaligen Abtei auf einer Insel im Fluss auf. Die Eltern sind aufs Heftigste miteinander zerstritten und haben die Kinder unter sich aufgeteilt: Die aus Polen stammende Mutter emigriert nach Kanada und zieht den elfjährigen Christian im katholischen Glauben auf, der Vater, ein Armenier, lässt die neunjährige Bérénice in einer Abtei mit jüdischen Riten aufwachsen.

Doch Bérénice lehnt alles ab, was von anderen kommt und von den Eltern erst recht, dafür liebt sie ihren Bruder abgöttisch.

Als sich der pubertierende Christian jedoch einem Mädchen zuwendet, ersetzt sie ihn durch eine ihr ergebene Freundin. Mit ihr verbringt sie, verbannt vom Vater, fünf Jahre in New York, bis die jüdischen Verwandten sie nicht mehr bändigen können. Bérénice kehrt zurück in die Abtei und wandert dann nach Israel aus. Denn dort habe der Sechs-Tage-Krieg die Menschen sich selbst zurückgegeben, so Bérénice, hier könne sie endlich tun, wonach es sie gelüstet: „Gebt mir schnell ein Gewehr!“

Flüche von erlesener Qualität

Bérénice ist ein einzigartiger Wechselbalg aus Hass und Eloquenz. Ihre Sehnsucht nach Liebe, ihr Befremden angesichts der sprießenden Brüste, der Ekel vor der Menstruation und der sexuellen Gier der Gleichaltrigen – all das stattet sie mit einer Biographie aus, aber nicht mit Individualität. Bérénice wird älter, bleibt aber dieselbe. Sie macht keine Erfahrungen, spricht aber schon als Neunjährige so wie nur wenige Dreißigjährige, nämlich von „Alkyonen“, „hieratischen Posen“ und dem „Dimorphismus“. Das „hieroglyphisch“ immerhin ergänzt sie herablassend durch die Übersetzung „oder buchstäblich, meinetwegen“. Nicht zuletzt die zahlreichen Flüche der „rasenden Mänade“ sind von erlesener Qualität, ebenso wie die anarchischen Sprachspiele, von Till Bardoux mit viel Witz übersetzt.

Bérénice ist keine Romanfigur, sondern eine Denkfigur – eine der Identität: eine Kreuzung aus dem radikal gesteigerten Willen zur Selbsterzeugung und dem Willen zur Vernichtung anderer, zur Befreiung vom Ennui und zum Streben in eine ganz andere Welt.

Die Ablehnung von allem

Bérénice verehrt den Kanadier Émile Nelligan, dessen Gedichte unter dem Einfluss Rimbauds und Baudelaires entstanden – ein diskreter Hinweis auf die literarischen Vorbilder ihrer Haltung. Die philosophische Adelslinie klingt zuweilen im hohen Zarathustra-Ton des Mädchens an: „Bérénice Einberg ist es, die euch das sagt.“

Den in der Literatur sonst gern genommenen Ausweg in die Selbstreferentialität verschmäht Ducharme: Bérénice liest zwar intensiv und stürzt auch die Sprache um, indem sie eine eigene zu entwickeln beginnt. Aber sie wird nicht zur Autorin.

Ducharme lässt Bérénices totale Ablehnung von allem und beinahe jedem nicht einmal – eine andere kulturell weidlich erprobte Ausflucht – in Wahnsinn münden. Sie bleibt mit ihrer überbordenden Suche, die alle Grenzen einreißt zwischen Spiel und Ernst, Naivität und Philosophie, eine Herausforderung, ein freies Radikal. Heutige Kinogänger dürfen sich an Nora Fingscheidts Film Systemsprenger (2019) erinnert fühlen, deren Hauptfigur freilich Kind bleibt.

Leben im Kopf

Die Adeptin der Tat ist ein krasser Gegenentwurf zum historischen Vorbild. In Racines Drama Bérénice entsagt die orientalische Prinzessin still-resigniert der Liebe zum römischen Kaiser Titus, weil die Römer sie nicht dulden. Ducharmes Terroristin der Selbstbehauptung gibt nicht klein bei, aber sie kennt auch kein liebendes Gegenüber. Sie ist furchtbar allein und bleibt es auch: Die Liebesobjekte erweisen sich als ihrer unwürdig, oder sie sterben früh.

Jede Annäherung an andere, jede Zustimmung, jede Dankbarkeit erscheint Bérénice als Schwäche und als Verrat an sich selbst. Das Eigene muss sich unterscheiden vom Fremden, und es erträgt die Nähe nicht. „Ich bin die vom Verschlungenen Verschlungene“, sagt sie einmal voller Schrecken, denn das Leben sei in ihrem Kopf und der Kopf im Leben. Das aber wäre das Ende, weshalb schnell eine neue Welt, ein neuer Kopf her muss und von Bérénice unentwegt herbeigeredet wird.

Die radikale Negativität dieser Jeremiaden eines an sich selbst nicht weniger als an der Welt leidenden Menschen sind weit entfernt von den vergleichsweise gesättigt und manieristisch wirkenden Tiraden eines Thomas Bernhard. Für den Roman – immerhin vor über fünfzig Jahren erschienen – nimmt auch ein, dass er die doch sehr überschaubare Ausgangssituation kunstvoll ausreizt bis zum Äußersten und dabei dem Ausbruchswunsch, den nicht nur Bérénice verspürt, sondern vermutlich auch mancher Leser, staunenswert einfallsreich eins ums andere Mal jede Ausflucht verstellt. Réjean Ducharme treibt die Vorstellungen von der Vervollkommnung des Menschengeschlechts zugleich auf die Spitze und durch den Fleischwolf. So brutal und unverbraucht kann die Moderne klingen.

Bildnachweis:
Beitragsbild von RETATU (pixabay.com), via needpix.com, Public Domain

Réjean Ducharme
Von Verschlungenen verschlungen
Roman · Aus dem Französischen von Till Bardoux
Matthes & Seitz 2020 · 311 Seiten · 15 Euro
ISBN: 978-3-75180-102-7

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Von Jörg Plath

Jörg Plath ist Kritiker und Literaturredakteur bei Deutschlandfunk Kultur. (Foto: © Fotostudio gezett)

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