Unter ernstzunehmenden Autoren haben die Adjektive keinen guten Ruf. Stilratgeber fordern, sie, soweit möglich, aus dem Text zu entfernen. Sind die Substantive die Bäume im Wortwald, so gleichen die Adjektive parasitären Pilzen, die die Kraft der Substantive schwächen.

Kein Adjektiv wird als Parasit geboren. Es ist der gedankenlose Gebrauch, der dieser Wortart ihren schlechten Ruf eingetragen hat. Gedankenlos heißt: Wir erfahren nichts durch das Adjektiv, es macht lediglich Stimmung, es klebt am Substantiv wie ein lästiger Werbezettel, es macht auf billige Unterhaltung. Wenn sich Literaturkritiker explizit mit der sprachlichen Gestaltung eines literarischen Textes auseinandersetzen, kritisieren sie, neben den sogenannten schiefen Metaphern, mit Vorliebe floskelhafte Adjektive.

Auch Literaturkritiker sind Autoren. Wie halten sie es in ihren eigenen Texten mit den Adjektiven?

Zur Sache: das verreißende Adjektiv

Wer regelmäßig Rezensionen liest, weiß, dass der Verriss seltener ist als das Lob. Aus Leserperspektive ist das zu bedauern. Negative Rezensionen sind durchweg unterhaltsamer als positive, da sie etwas von der Hellsichtigkeit und der Präzision guter Literatur haben.

Wer negativ urteilt, sieht sich eher bemüßigt, sein Urteil detailliert und mit Sachargumenten zu begründen, und diese Sachlichkeit merkt man den Adjektiven an. Wird ein Text oder Elemente darin als öde, wirr, prätentiös, konstruiert, einfallslos, manieriert, überambitioniert oder redundant bezeichnet, so bedeutet jedes dieser Adjektive etwas anderes.

Interessanterweise schreiben Kritiker eher selten, ein Text sei einfach nur schlecht oder langweilig, sei es, weil diese Adjektive als zu unpräzise für eine Kritik erscheinen, sei es, weil die Zeiten von Marcel Reich-Ranickis triumphalistischem Verriss-Stil definitiv vorbei sind.

Wenn man mehrere Kritiken zum gleichen Buch liest, fällt Folgendes auf: Liest man nach den ersten lobenden Kritiken einen Verriss, so ist es häufig, als öffnete sich hinter der Szene ein Vorhang. Auf einmal erkennt man das eigentliche Bild. Der Verriss ist präziser, weil er auf Mängel deutet, über die die anderen hinweggelesen haben. Oft bringt der Verriss das treffende Zitat, das allein schon beweist, dass sich die Lektüre nicht lohnt.

Stimmung! Das lobende Adjektiv

Anders sieht es auf dem weiten Feld der positiven Adjektive aus. Das sachlichste Adjektiv in der Literaturkritik ist lesenswert. Dieses knochentrockene Wort bildet (zusammen mit seinem Äquivalent empfehlenswert) den Kern einer Rezension: Kaufen oder nicht kaufen?

Manchen Rezensenten ist das zu sachlich, so dass sie noch ein Intensitätspartikel drankleben. Besonders beliebt ist unbedingt.

Moderatorin: Ziehen wir ein Fazit. Ist Leander Müllers neuer Roman Fluchtpunkt Sankt Pauli lesenswert?

Rezensent: Unbedingt!

Damit könnte man es belassen.

Doch ist eines zu bedenken: Eine Buchbesprechung ist nicht nur eine Analyse, sondern sie versteht sich immer häufiger als ein Unterhaltungsmedium. Ein untrügliches Zeichen dafür ist die Verwendung stimmungsmachender Adjektive.

Ein prominentes Exemplar ist wunderbar. Wunderbar taucht zuverlässig in Rundfunkbesprechungen auf. Was wäre das Rezensionswesen ohne dieses Wort! Doch es stellt sich die Frage, warum ausgerechnet wunderbar so beliebt ist. Warum sprechen die Rezensenten deutlich seltener von einem großartigen und kaum je von einem herrlichen Roman? Schon gar nicht verwendet man umgangssprachliche Adjektive wie toll, super, saugut und geil oder veraltete wie prächtig oder trefflich. Wunderbar ist zur Konvention geworden.

99 Luftballons: das gefühlige Adjektiv

Selbstverständlich ist nicht alles wunderbar, was ein Rezensent auf den Tisch bekommt, es kann auch großartig, glänzend, grandios, furios, famos sein, wobei literarische Debuts gern als fulminant bezeichnet werden und seltener als wunderbar. Warum das so ist? Weil man als Kritiker halt so schreibt.

Bei einer anderen Gruppe von Floskeln steht die Gefühlswirkung des besprochenen Textes auf den Kritiker oder die Kritikerin im Vordergrund. Beliebt sind etwa berückend, berührend, bewegend, ergreifend, hinreißend, faszinierend und, als Höhepunkt: die Lektüre macht glücklich.

Derartige adjektivische Luftballons sind Signale dafür, dass das Buch, an das sie gebunden werden, bei Lesern eine individuelle Erfahrung erzeugen könnte, mehr jedoch auch nicht.

Manche Adjektive gehen vor Autor und Werk gleichsam in die Knie: groß, bedeutend, viel diskutiert, wichtig, relevant und anschlussfähig.

Groß und klein: das erhöhende Adjektiv

Doch groß ist kleiner als man denkt. Wird ein Schriftsteller, bei dem alle wissen, dass er groß ist, als groß bezeichnet, dann ist das ein ironisches Stilmittel, wenn etwa erzählt wird, wie der junge Heine den „großen Goethe“ besucht. Wird umgekehrt ein Schriftsteller, dessen Größe allgemein bezweifelt wird, als groß bezeichnet, drückt der Schreiber dem Leser eine Meinung aufs Auge, die dieser begründungslos zu akzeptieren hat.

Was bedeutet überhaupt die Aussage ein großer Roman? Hat seine Anfertigung viel Mühe bereitet? Ragt er unter den Neuerscheinungen des Jahres hervor? Wird man ihn auch in zehn Jahren noch lesen? Ist der Rezensent der Meinung, dass dieser Roman einst zu den Achttausendern der Literatur gehören wird?

Als klein wird ein Roman hingegen nicht deshalb bezeichnet, weil er misslungen wäre, sondern weil er entweder ein Nebenwerk ist oder weil er nur einen geringen Umfang hat. Zweifellos gibt es viele schmale Romane, die unter bestimmten Aspekten größer sind als dicke Romane, zum Beispiel Albert Camus‘ Der Fremde oder Pedro Páramo von Juan Rulfo.

Das Adjektiv bedeutend sollte die Tageskritik möglichst gar nicht verwenden. Bedeutend ist ein Autor oder ein Text erst durch seine Wirkungsgeschichte: Dass Virginia Woolf bedeutend ist, wissen Literaturinteressierte bereits, deshalb muss man das nicht sagen. Handelt es sich wiederum um eine Autorin, die niemand kennt, möchte der Rezensent uns etwas unterjubeln.

Allzeit bereit: das zweckdienliche Adjektiv

Unterhalb der Kategorie des Bedeutenden wieselt das Wort wichtig herum. Wichtig kann alles Mögliche sein, beispielsweise ist für einen Verlag ein Bestsellerautor wichtig, das versteht jeder. Wichtig kann auch viel diskutiert bedeuten. Wer wichtig sagt, postuliert, dass das, was für die Medien wichtig ist, auch für die Literatur wichtig sei und das Lesepublikum dem zu folgen habe. Die Literatur zeichnet sich hingegen dadurch aus, dass sie das Unwichtige wichtig erscheinen lassen kann.

Mehr über einen Roman und dessen Rezensenten verrät das Adjektiv relevant und sein Kollege anschlussfähig. Lyrik ist nie relevant und kurze Prosa ist es selten. Relevant ist ein Roman, dessen Autor es nicht in erste Linie darum geht, eine Sache in Kunst zu verwandeln. Das hat aus Sicht des Rezensenten den Vorteil, dass er über die Sache plaudern kann, ohne sich mit der Kunst beschäftigen zu müssen. Noch kunstferner ist anschlussfähig. Anschlussfähig woran? An den Diskurs. Wer steuert den Diskurs? Journalisten. Wie nennen Journalisten einen Roman, der das verwurstet, was alle bereits wissen? Richtig: wichtig.

Show, don’t tell in der Literaturkritik

Warum ist es für Leser wichtig zu wissen, dass ein Buch erfolgreich ist oder viel beachtet wird? Weil man davon ausgeht, dass es dann auch gut ist? Aber was ist mit erfolgreicher Trivialliteratur? Hat die den falschen Erfolg? Und wo beginnt der Erfolg? Ist es ein Preis, ein Stipendium, eine Auflage von über 3.000 Exemplaren (für Lyrik ein großer Erfolg). Wann ist es sinnvoll, von einem Bestseller zu sprechen? Und was verrät mir das Wort Bestseller über den Text? Soll ich durch diese Information zum Kauf ermuntert oder eher davon abgeschreckt werden?

Zuweilen wird in der Literaturkritik geschrieben, ein Prosatext sei misslungen, weil er nicht zeige, sondern behaupte. „Show, don’t tell“ gilt auch für die Kritik: Wenn sie das Werk in seiner Individualität überzeugend darstellt, etwa mit Zitaten, die für sich selbst sprechen, erübrigen sich lobende Floskeln.

Dann darf man sich gelegentlich sogar ein lobendes Adjektiv gestatten. Franz Kafkas Kommentar zu Robert Walsers Roman Jakob von Gunten lautet schlicht:

Ein gutes Buch.

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Beitragsbild: Karolina Grabowska via Pexels.com

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Von Jürgen Kiel

8 Kommentare

  1. „Vergriffen“ ist immer noch das schönste Adjektiv.

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  2. „Lyrik ist nie relevant“ – treffender kann man die Engstirnigkeit des öffentlichen Bewusstseins kaum charakterisieren.

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  3. Um nicht missverstanden zu werden: Mit Engstirnigkeit meine ich nicht den Autor des obigen Beitrags. Dessen Beobachtung ist schon treffend. Ich meine das, was er beobachtet.

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  4. Sabine Paqué 4. Januar 2021 um 10:23

    Wieder etwas gelernt bei „tell“ – und das mit Vergnügen. Danke.

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  5. Jochen Schimmang 5. Januar 2021 um 14:36

    „O wie ist die Schönheit schön und das Hinreißende hinreißend!“

    Robert Walser, Der Spaziergang

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  6. Bei den wilden Messerstechereien und gefühligen Lobhudeleien des letzten Bachmann-Preises in Klagenfurt, so erinnere ich mich, stritten ein wie immer bissiger Philip Tingler und eine wie meistens über/anti-sympathische Mithu Sanyal anlässlich des Textes von Sophie Stein („Die Schakalin“).

    Man diskutierte über Passagen wie:

    „Und im Sommer, hatte sie gefragt – sie spazierten durch die geriffelten Dünen, vorbei an getrockneten Kuhfladen, die im Zwielicht an Wespennester erinnerten. Die Grillen erzeugten ein ohrenbetäubendes elektrisches Knistern.“

    Stein verwende zu viele Adjektive (Tingler). Aber wenn die Verwendeten doch passen würden, sei es nicht so schlimm, gar gut (Sanyal).

    In der Sache gebe ich Tingler, diesem bunt bemalten Pitbull des Literaturbetriebes, recht. Steins Text wirkt durch die Adjektive wie ein Vertrauensverlust hinsichtlich der Vorstellungskraft des Lesers. Adjektive im Übermaß wirken auf mich wie Freiheitsberaubung – ich darf die Lücken nicht selber füllen, der Text sperrt mich ein und zugleich aus, wie in dieser Passage von Stein:

    „Und als er bestürzt nachfragte, wie das denn passiert sei, demonstrierte sie ihm als Antwort, begleitet von diesem schelmisch-verlegenen Grinsen, nur die zupfende Bewegung ihrer Finger.“

    Dass die Nachfrage „bestürzt“ ist, das Grinsen „schelmisch-verlegen“, die Bewegung „zupfend“, darf ich mir nicht mehr anders vorstellen. Entweder so, wie es die Autorin will, oder ich muss den fiktionalen Pakt aufkündigen, das Buch weg legen und mir woanders meine Unterhaltung suchen.

    Die Kritik hat also recht, wenn sie Adjektive kritisiert.

    Sicher ist damit zum eigentlichen Thema des Artikels nichts gesagt.
    Oder doch?
    Denn: Sie, lieber Herr Kiel, schließen mit dem Aufruf an die Literaturkritik: Show, don‘ tell, und verstoßen gleichzeitig gegen Ihre eigene Prämisse!

    Wo, frage ich mich, sind Ihre Beispiele?!
    Alles, was ich bis auf ein mageres Kafka-Zitat finde, ist eine recht blutleere Taxonomie.
    Mag sie schon im Untertitel angekündigt sein, bräuchte eine solche „Übersicht“ die Lebendigkeit rezenter Beispiele, die furchtlos auseinandergenommen werden.
    Wer und wo sind denn die Kritiker, die es drauf haben? Wessen kongeniale Sprachgewalt verdient meine Aufmerksamkeit? Wer traut sich zum Verriss, und weiß mit Genuss zu vernichten? Wo soll ich hin, wenn ich belehrt, erfreut und bewegt werden will?

    Ins zahnlos gewordenen Literarische Quartett, in dem eine Thea D. sich spracharme Prominente einlädt? Im geschwätzigen, jetzt abgesetzten „Lesenswert“ unseres halbgaren Marcel Reich-Ranicki Epigonen Denis S.?
    Wenn ich für meinen literarischen Hunger zu Ihnen ins tell kommen oder dort bleiben soll, müssen Sie mich mit mehr füttern als anonymisierten Klassifikationen.

    Also: auf auf!

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  7. Und hier über den Verriss (ich bin mit Ihnen einig: die Literaturkritik ist viel zu zahm geworden):
    https://tell-review.de/der-verriss-eine-selbstreinigungsmassnahme-der-literaturkritik/

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