Dieser Essay ist die Grundlage eines Online-Vortrags auf Zoom, den Sieglinde Geisel für das Einsteinforum gehalten hat. Im Gespräch stellt Rüdiger Zill Sieglinde Geisel kritische Fragen zu ihren Thesen.


Eine Woche danach gab es zu dem Vortrag ein Online-Seminar mit Zuschauer-Fragen:

Der Verriss hat einen schlechten Ruf –  aus besseren Gründen und aus schlechteren. Zu den besseren Gründen gehört die Menschlichkeit. „Muss es gesagt werden? Muss es jetzt gesagt werden? Kann man es freundlich sagen?“ Diese drei Fragen soll man sich stellen, bevor man Kritik übt, so empfiehlt es der Buddhismus.

Fehlgelenkte Aufmerksamkeit

Nicht nur gegen dieses Prinzip verstößt der Verriss, er verstößt auch gegen die guten Sitten unserer eigenen Kultur. Denn wenn ich einen Autor verreiße, sage ich ihm coram publico, dass sein Werk nichts taugt. Wenn überhaupt, dann sagt man so etwas unter vier Augen, ermahnt mich ein befreundeter Lektor, und ich muss ihm recht geben. Wenn Kritik konstruktiv sein soll, muss sie im Wohlwollen geäußert werden, und auch dagegen lässt sich nichts sagen.

Der zweite gute Grund dafür, keine Bücher zu verreißen, ist die fehlgelenkte Aufmerksamkeit. Ein Verriss erregt Aufsehen. Das führt dazu, dass die geballte öffentliche Aufmerksamkeit Büchern zukommt, die es nicht verdient haben.

Das einzig sinnvolle Vorgehen besteht für einen Kritiker darin, zu schweigen über Werke, die er für schlecht hält und sich leidenschaftlich für jene Werke einzusetzen, die er für gut hält, insbesondere wenn sie vernachlässigt oder vom Publikum unterschätzt werden.

So W. H. Auden in seinem Essay „Reading“.

Eine Literaturkritik der Empfehlungen?

In der Blogosphäre gehört diese Einstellung zum guten Ton: “Literaturblogger wollen gar keine Kritiker sein”, so die Bloggerin Caterina Kirsten 2015 in einem vielbeachteten Kommentar. Die Laien-Kritiker lesen aus Begeisterung: Es geht nicht um Kritik, sondern um einen subjektiven Austausch über Bücher. Einander auf gute Bücher aufmerksam zu machen, sei sinnvoller, als sich über schlechte Bücher aufzuregen, so ein breiter Konsens.

Wenn die Welt wäre, wie sie sein sollte, bestünde die Literaturkritik nur aus Empfehlungen. Doch wer würde in dieser besseren Welt leben wollen? Und wer würde sich dann überhaupt noch für Literaturkritik interessieren? Genau. Es gibt für das literarische Leben etwas, was noch schlimmer ist, als Verrisse. Nämlich keine Verrisse.

Ich sehe drei gute Gründe für den Verriss.

Erstens: Es gibt mehr schlechte Bücher als gute

Ninety percent of anything is crap.

So lautet die gängige Version von Sturgeon’s Law. Der Science-Fiction Autor Theodore Sturgeon hatte dieses Gesetz propagiert, um sein eigenes Genre gegen Verrisse zu verteidigen.

Im Original lautet das Zitat so:

Ninety percent of [science fiction] is crud, but then, ninety percent of everything is crud.

Gegen das Mittelmaß

Die Klage über schlechte Literatur ist nichts Neues. Schon Gotthold Ephraim Lessing forderte von der Kritik

die billige [d. h. angemessene] Verachtung und Wegräumung des Mittelmäßigen oder des Elenden.

Nicht nur Kritiker beklagen das Mittelmäßige oder Elende in der zeitgenössischen Literatur. Theodor Fontane regte sich über Kollegen auf, die sich über Verrisse aufregen:

Es ist furchtbar billig und bequem, immer von den Anstandsverpflichtungen der Kritik zu sprechen, zum Himmelwetter, erfüllt selber erst durch eure Leistungen diese Verpflichtungen.

Eine Kritik, die den Namen verdient, folgt daher der Aufforderung von Virginia Woolf (in ihrem Essay „Wie man ein Buch lesen sollte“):

Vergleichen wir jedes Buch mit den größten seiner Art.

Ein paar Sätze weiter heißt es, in bester Wolf-im-Schafspelz-Rhetorik:

Selbst der neuste und geringste Roman hat das Recht, an den besten gemessen zu werden.

Gegen den Hype

Einerseits stimme ich Virginia Woolf zu, wenn sie gleiches Recht für alle Bücher fordert. Andererseits gilt für den Verriss, was für jeden Angriff gilt: Man soll sich einen würdigen Gegner suchen.

W. H. Auden:

to be worth attacking a book must be worth reading.

So gehört es sich zum Beispiel nicht, Debüts zu verreißen. Es sei denn, ein neustes und geringstes Buch werde gehypt. Doch in einem solchen Fall wird nicht die Autorin verrissen, sondern die Kritikerinnen, die sich an ihrem selbst erzeugten Hype besaufen. Wer allerdings das neuste cool kid on the block verreißt, macht sich unbeliebt bei den Kollegen: Unversehens ist man ein party pooper. Wenn es sich bei den Kollegen um Redakteurinnen handelt, auf deren Aufträge man als freischaffender Kritiker angewiesen ist, kann das durchaus Folgen haben.

Was erklärt, warum auch bei den dümmsten Hypes niemand die Notbremse zieht.

Zweitens: Kritiker müssen Farbe bekennen, wenn sie einen Verriss schreiben

Mit einer wohlwollenden Kritik bin ich als Rezensentin immer auf der sicheren Seite, „your old faithful: the eternally favorable review“, so nannte es die amerikanische Kritikerin Elizabeth Hardwick in ihrem Essay „On the Decline of Book Reviewing” von 1956. Wenn mir zu einem ordentlich geschriebenen Roman nichts einfällt, erzähle ich die Handlung nach, füge ein paar Hintergrundinfos zum Autor hinzu und stemple meine favorable review mit dem bewährten Ausruf „Ein Meisterwerk!“, und alles ist gut.

Begreifen, was uns langweilt

Wer dagegen ein Werk verreißt, ist Rechenschaft schuldig. Emil Staigers Maxime: „Begreifen, was uns ergreift“ gilt erst recht dann, wenn uns ein Buch nicht ergreift, wenn es uns langweilt, ärgert, auf die Nerven geht und was der Sünden gegen die legitimen Bedürfnisse der Leser mehr sind. Mit einem schlichten: „Mir hat’s nicht gefallen“ kommt man nicht durch, jedenfalls nicht jenseits von Amazon-Reviews und Blogs.

Das heißt: Wenn ich ein Werk verreiße, muss ich meine Kriterien überprüfen. Das setzt voraus, dass ich sie mir erst einmal bewusst mache. Deshalb gehört der Verriss zum Kerngeschäft der Literaturkritik: Er ist sozusagen eine Selbstreinigungsmaßnahme. Ohne gelegentliche Verrisse wird die Kritik schlampig, ihre Werkzeuge stumpf, ihr Blick verschwommen.

Was die Schärfe angeht, bin ich der Meinung, daß in der geistigen Welt durch Schwammigkeit mehr Unheil entstand als durch Härte.

Gottfried Benn.

Flöhe und Elefanten

Angesichts der Mittelmäßigkeit der Gegenwartsliteratur seien Kritiker dazu gezwungen, ihre Maßstäbe preiszugeben, sagt George Orwell in seinem Essay „In Defence of the Novel“.

An das Gros der Romane einen vernünftigen Standard anzulegen, ist, als wollte man einen Floh mit einer Waage für Elefanten wiegen. Eine solche Waage würde Flöhe gar nicht anzeigen. Man müsste stattdessen eine neue Waage konstruieren, die den Unterschied zwischen großen und kleinen Flöhen misst.

Und genau diese Unterscheidung ist die Achillesferse der Kritik. Verrisse haben nur Sinn in der Elefantenkategorie, doch dazu muss man Elefanten und Flöhe auseinanderhalten können.

Drittens: Wir lesen gern Verrisse

In Der doppelte Boden, seinem Gespräch mit Peter von Matt, spricht Marcel Reich-Ranicki von der Freude der Leser am Verriss. Dies sei nicht seine Schuld, so MRR, sondern es liege an der Schlechtigkeit der Menschen: Wir sind nun einmal schadenfreudige Wesen, die sich am Leid der anderen ergötzen.

Gegen die Scheinlebendigen

Die Literaturgeschichte beginnt mit Mord und Totschlag, mit Krieg, Verrat und Heldentum. Mit der Kritik verhält es sich ebenso: Sie lebt vom Konflikt, und auch hier geht es zumindest metaphorisch um Mord und Totschlag.

Kritik ist die Kunst, die Scheinlebendigen in der Literatur zu töten.

Friedrich Schlegel.

Walter Benjamin:

Nur wer vernichten kann, kann kritisieren.

In seinen „Techniken des Kritikers in 13 Thesen“ hat er die grausigste Metapher für den Verriss geprägt:

Echte Polemik nimmt sich ein Buch so liebevoll vor, wie ein Kannibale sich einen Säugling zurüstet.

Die Kritikerin als Star

Dass wir Verrisse gern lesen, liegt allerdings nicht nur an unserer Schadenfreude, sondern auch daran, dass sie oft brillant geschrieben sind. Man spürt die Lust, mit der sich der eine Schreiber über den anderen hermacht, und dass es sich dabei um eine geächtete Lust handelt, steigert nur den Reiz.

W. H. Auden fand, Verrisse seien schlecht für den Charatker:

One cannot review a bad book without showing off.

Wenn die Kritikerin ein Buch verreißt, hat sie die Bühne für sich, sie ist der Star. Sie genießt ihren Auftritt – und die Leser mit ihr. Vielleicht ist sie ungerecht mit ihrem galoppierenden Verriss und erliegt der Versuchung, die lobenswerten Seiten des zerzausten Werks der Show zu opfern? Never mind.

Gegen „die Schreiber falscher Bücher“

Doch haben die ninety percent crap überhaupt etwas Besseres verdient?

Sind es nicht Verbrecher, die Bücher, die uns Zeit und Mitgefühl gestohlen haben; sind sie nicht die heimtückischsten Feinde der Gesellschaft, Verderber, Schänder, die Schreiber falscher Bücher, schwindelhafter Bücher, Bücher, die die Luft mit Krankheit und Verwesung erfüllen?

Sagt die Wölfin Virginia Woolf.

Wäre die Literaturkritik, wie sie sein sollte, meint Arthur Schopenhauer,

so würde jedem schlechten Schriftsteller, jedem geistlosen Kompilator, jedem Abschreiber aus fremden Büchern, jedem hohlen, unfähigen, anstellungshungrigen Philosophaster, jedem verblasenen, ekeln Poetaster, die Aussicht auf den Pranger, an welchem sein Machwerk nun bald und unfehlbar zu stehn hätte, die juckenden Schreibefinger lahmen, zum wahren Heil der Litteratur, als in welcher das Schlechte nicht etwan bloß unnütz, sondern positiv verderblich ist.

„Unverschämte Eindringlinge“

Schopenhauer ist der Erfinder des rant, ein Meister des Verreißens von Elefanten wie Hegel, Schelling & Co.

Angesichts der Tatsache, dass schlechte Literatur Lebenszeit vernichtet, gebe ich ihm Recht, wenn er sagt:

Es ist durchaus falsch, die Toleranz, welche man gegen stumpfe, hirnlose Menschen, in der Gesellschaft, die überall von ihnen wimmelt, nothwendig haben muß, auch auf die Litteratur übertragen zu wollen. Denn hier sind sie unverschämte Eindringlinge, und hier das Schlechte herabzusetzen ist Pflicht gegen das Gute: denn wem nichts für schlecht gilt, dem gilt auch nichts für gut.

Nur wer verreißen kann, kann auch loben. Deshalb schadet der Verzicht auf den Verriss ausgerechnet jenen zehn Prozent der Bücher, die kein crap sind. Die empörte, pointierte, entschiedene Kritik tut das, worin der Wortbedeutung nach die Aufgabe der Kritik besteht: Sie unterscheidet zwischen dem, was die Lektüre lohnt und dem, was Lebenszeit vernichtet.

Wenn die Literaturkritik sich den Verriss verbietet, arbeitet sie an der Abschaffung ihrer selbst.

Bildnachweis:
Beitragsbild von George Hodan Lizenz: CC0 Public Domain

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Von Sieglinde Geisel

Journalistin, Lektorin, Autorin. Gründerin von tell.

9 Kommentare

  1. Die Bloggerinnen und Prekariatskritiker bekommen die zu besprechenden (zu kritisierenden) Bücher ja nicht von einer Redaktion aufs Auge gedrückt, sondern fangen an zu schreiben, wenn sie das betreffende Buch, das sie sowieso gelesen hätten, zu einer weiter ausholenden Erklärung reizt. Darum finden sich Verrisse in der immer etwas schläfrigen Blogosphäre selten.
    Da ich einen Schulaufsatz zu Bertolt Brecht einst mit dem Satz: “Ich hasse Brecht” begonnen habe, würde ich mir zugestehen, dass ich fähig wäre zu polemisieren. Aber es entspricht meinem Temperament mehr, die Kunst bei Büchern zu zeigen, von denen ein oberflächlicher User vielleicht sagen würde: Das kann ich auch, oder: Was soll das?
    Sich mittels Inhaltsangaben um eine kritische Äußerung herumzumogeln … das sind dann Rezensenten, keine Kritiker. Ein Blogger, der aufmerksam ein Buch lobend bespricht, kann dies durchaus als Kritiker tun, während ein lauer Kritiker eher auf der Seite des Rezensenten zu sehen wäre, der letztlich nichts anderes tut, als ein Buch kurz in die Kamera zu halten.

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  2. Jürgen Kiel 14. Juli 2020 um 10:13

    Nach meiner Beobachtung erscheinen negative Aussagen in Literaturrezensionen meistens als Teilkritik. Gesamtverrisse sind selten, doch wenn sie veröffentlicht werden, geht es vor allem um künstlerische Schwächen, oder, wie bei „Stella“ von Takis Würger, darum, dass ein Projekt bereits im Ansatz verfehlt ist. Verrisse zwingen Kritiker, ihr gesamtes intellektuelles Besteck zu zücken und ihr Urteil, z. B. durch gut gewählte Zitate, stichhaltig zu begründen.
    Die kleinen Formen (vor allem die Lyrik, aber auch Kurzprosa und viele Erzählungen und manche Kurzromane) zwingen die Rezensenten, sich auf die künstlerischen Aspekte der Texte zu konzentrieren, d. h. auf das, was das Werk durch seine spezifische Komposition sagt.
    Anders im Fall unzähliger Romane. Romane können Unterhaltung, Publizistik und Kunst sein. Wenn Rezensenten schreiben, ein Roman sei spannend, berührend, fulminant, entwickle einen Sog etc., dann geht es um seine Unterhaltungsseite. Wenn sie schreiben, er sei „mehr als Unterhaltung“, nämlich wichtig, relevant und anschlussfähig, geht es um seine publizistische Seite. Beides gut zu verknüpfen, gilt als besonders gut. Spricht die Kritik von einem „großen Roman“, ist häufig genau das gemeint.
    Demnach kann ein Roman zu Recht gelobt werden, ohne dass künstlerische Aspekte im eigentlichen Sinne überhaupt zur Sprache kommen. Nicht weil die Rezensenten diese nicht bewerten könnten, sondern weil die Werke dafür zu wenig hergeben. Die Werke sind nicht deshalb künstlerisch uninteressant, weil sie sprachlich verunglückt, klischeehaft, schematisch geschrieben sind, sondern weil sie auf einer „Einwickelästhetik“ (Albrecht Fabri) beruhen.
    Es ist sinnlos und würde auch vom Lesepublikum nicht verstanden, wenn diese Romane deshalb durchgängig verrissen würden, denn es handelt sich häufig um hervorragende, „fehlerfreie“ Produkte, an denen kompetente Autoren manchmal jahrelang gearbeitet haben. Sie lassen sich problemlos und für alle nachvollziehbar rezensieren, aber sie sind nicht geschrieben worden, um ästhetische Reflexion zu provozieren. Einem Friedrich Schlegel würde dazu nichts einfallen, auch kein Verriss.
    Besser geeignet für den Verriss sind Romane, die einen Kunstanspruch vor sich her tragen, den sie nicht einlösen können, die keine Flöhe sind, sondern Zombie-Elefanten.

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    1. Wow, “Zombie-Elefanten” ist ein toller Begriff, danke! Mir fällt dazu etwa Daniel Kehlmann ein: Seine Essays und Interviews finde ich oft hervorragend, doch seine Romane halte ich für trivialisierte Hochliteratur, entsprechend leicht lassen sie sich verreißen (und ich wundere mich darüber, dass das kaum jemand tut), dazu passt auch, dass er seinen Roman “Tyll” pünktlich zum Jubiläum des Dreißigjährigen Kriegs veröffentlicht hat. Konfektionsware halt, ein Konsumprodukt mit dem entsprechenden Erfolg.
      Haben Sie weitere Beispiele dafür? Und auch für die Romane, die wichtig sind, jedoch künstlerisch belanglos? Ich denke dabei an Bücher, die für ihre eigene Epoche wichtig sind, als Diskussionsgrundlage und auch als eine Art Gebrauchsanleitung fürs Gegenwartsleben, die jedoch ihre eigene Zeit nicht überdauern.
      Das große Geheimnis ist ja immer die Frage, welche Romane das Zeug zum Klassiker haben. Meistens werden sie von ihrer eigenen Zeit nicht wahrgenommen, siehe Beckett, Kafka, Faulkner, Melville… Ein nachhaltig wichtiges Buch brauche zwanzig Jahre, bis es entdeckt werde, so Ezra Pound. Er beriet den Stahlerben James Laughlin bei dessen Verlagsgründung von New Directions: Während der ersten zwanzig Jahre machte der Verlag Verluste, hatte dafür dann eine Backlist, mit er er nachhaltig profitabel wurde (Brecht, Robert Walser, Kafka etc.). Heute ist es einer der letzten unabhängigen Verlage, die in Amerika überleben, nur ist es mit der Backlist schwierig geworden, da man im Internet alles antiquarisch für einen Cent bekommt… (aber das ist dann wieder ein anderes Thema,)

  3. Jürgen Kiel 14. Juli 2020 um 11:28

    Kehlmann ist ein gutes Stichwort, weil er den üblichen Einwickelästheten überlegen ist, ohne gleich ein Elefant zu sein. Er hat ein hervorragendes Gespür für Qualität, sieht keinen dogmatischen Gegensatz zwischen Kunst und Unterhaltsamkeit und hat die Meister intensiv studiert, ohne nur einen nachzuahmen. Als Nabokov-Fan konnte ich erkennen, dass er einiges von dessen Erzähltechniken gelernt hat (was mir gefällt), ohne Nabokovs Abgründen zu nahe zu kommen. Kehlmann ist ein Musterschüler, der vermutlich keine Risiken eingehen könnte, selbst wenn er das wollte. Er macht alles mit dem Kopf und weiß das. Zu gebildet und phantasiereich, um lediglich ein Floh zu sein, ist er ein intelligenter, netter Bernhardiner, der erfolgreich in die Elefantenschule gegangen ist und sich einen Rüssel übergezogen hat.
    Die deutsche Gegenwartsliteratur ist für einen Leser wie mich oft einfach zu nett, d. h. sie hat ein zu treuherziges Verhältnis zur Realität, ihr fehlt die „Unverständlichkeit“.
    Ein aktuelles Beispiel ist für mich der neue Roman „Stern 111“ von Lutz Seiler, den ich gerade lese. Thematisch interessiert mich das überhaupt nicht, aber Seiler schreibt eine derart abwechslungsreiche, durchgearbeitete Prosa, dass ich bei der Stange geblieben bin und die hervorragenden Kritiken, die der Roman erhalten hat, gut nachvollziehen kann. Der Roman will nicht mehr sein als er ist, und das was er will, macht er gut.
    Aber auch er ist zu nett, zu nett…

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  4. Chapeau!
    Das musste heute einmal gesagt werden! Die Autorin steht mit ihrer Ansicht nicht allein, was sie mit köstlichen Zitaten belegt.
    Übrigens was Robert Schumann hinsichtlich der Musikkritik etwa derselben Meinung und wurde dafür sattsam angefeindet.

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  5. Jürgen Kiel 15. Juli 2020 um 11:27

    Zum Thema passt die Untersuchung der Kultursoziologin Phillipa K. Chong zur Rezensionspraxis in der US-amerikanischen Literaturkritik. Das Buch wird in der SZ vorgestellt.

    https://www.sueddeutsche.de/kultur/unter-bekannten-wo-die-milden-kerle-wohnen-1.4966606

    Der Verriss wird zum Dodo der Literaturszene.

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  6. Wenn es so wäre, dass zehn Prozent crap sind, was ist das deutsche Wort für crap? Mist? Schund? Spreu? Mir fällt es schwer zuzustimmen, dass neun von zehn Büchern es nicht wert wären, gelesen zu werden. Manche mögen Nachtzug nach Lissabon, andere nicht. Ein Verriss von Nachtzug nach Lissabon mag mir helfen, wenn ich zu denen gehöre, für die es crap wäre, wenn ich das Buch läse. Er mag mir eine Möglichkeit, mit dieser Sorte crap eine gute Zeit zu haben, verbauen, wenn mein Geschmack in Richtung crap ausgebildet ist. Oder Knausgard. Oder Bellow. Oder Littell. Ich habe Spass an einem Verriss, der in einem ernstgemeinten Buch crap findet, und ich habe Zweifel, ob Verrisse Bücher ernst genug nehmen.

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  7. Bücher sollen von Empfehlungen leben.
    Der Jahrmarkt der Eitelkeiten – oder Literaturkritik genannt – kann sich getrost abschaffen.

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  8. Wenn Literaturkritik nur noch aus Empfehlungen besteht, wird sie irrelevant.
    Nicht nur, weil die Literaturseiten dann unglaublich langweilig werden, sondern auch weil man im Verriss viel genauer die Kriterien benennen muss, an denen die Qualität von Literatur gemessen werden kann.

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