Für den jungen amerikanischen Schriftsteller Thomas Wolfe war Deutschland eine zweite Heimat, es war die Herkunft seiner Vorfahren väterlicherseits. Zwischen 1926 und 1936 besuchte er Deutschland sechs Mal – das Ergebnis war eine geradezu unerschütterliche Liebe.
Das „kindlichste“ Volk der Welt
In den Briefen und Beschreibungen, die in diesem Band versammelt sind, spart Wolfe nicht mit Lob für die Schönheit des Landes, er ist fasziniert von den Städten, von der Pracht ihrer gotischen Architektur. Bei den Deutschen fühlt sich nicht fremd, er schwärmt von ihrer Ehrlichkeit und Großzügigkeit, sie sind „das kindlichste“ Volk der Welt.
Doch 1935 bemerkt er etwas, was ihn beunruhigt. In einem Brief an seinen Lektor Maxwell Perkins schreibt er:
Diese Nation ist heute jenseits des Schattens eines Restzweifels voll von Uniformen und dem Stampfen marschierender Männer – ich habe es gestern mit meinen eigenen Augen auf zweihundert Meilen in hundert Städten und Dörfern im friedlichsten, hübschesten und am freundlichsten wirkenden Land gesehen, das ich je besucht habe. Tausende von Gruppen, zahllose Divisionen von Menschen, angefangen von achtjährigen Kindern bis ihn zu Männern um die fünfzig, alle jenseits jeden Zweifels erfüllt von Hoffnung, Enthusiasmus und inspiriertem Glauben an eine fatale und zerstörerische Sache – und die Sonne schien den ganzen Tag, und die Felder sind so ungeheuer grün, die Wälder so überaus bezaubernd, die kleinen Städte so ungemein sauber und die Gesichter der Menschen die freundlichsten, die mir je begegnet sind; was kann man also sagen?
Hinweise auf das Unheil
Was diesen Brief so unheimlich macht, ist der Kontrast zwischen der Schönheit des Landes und der Zerstörungskraft, die sich in diesem Marsch ankündigt. Noch hat sich das fatale Unheil nicht entwickelt, das fünf Jahre später den ganzen Kontinent in Brand setzen wird, aber Wolfe sieht die ersten Hinweise.
Thomas Wolfe hat diesen Brief auf der Wartburg geschrieben, ein Ort von immenser symbolischer Kraft: Zufluchtsort Luthers und Schauplatz von Wagners Tannhäuser, und damit ein „Erinnerungsort“ Deutschlands (im Sinn von Étienne François und Hagen Schulzes dreibändigem Werk). Es scheint also kein Zufall zu sein, dass Wolfe seine zwiespältigen Betrachtungen über Deutschland, das deutsche Volk und den Einfluss Hitlers, den er übrigens nie namentlich nennt, gerade an diesem Ort schreibt: „ein großartiger, legendärer Berg“ in der Nähe von Weimar, ein Ort, der „so viel vom Geist des großartigsten Deutschlands in sich trägt“.
Das Böse und die Hoffnung
Es ist für mich erstaunlich, wie Wolfe bereits zwei Jahre nach Hitlers Machtergreifung alle Hinweise lesen konnte für das, was danach geschah, ohne Scheu vor dem Widerspruch, den die Deutschen für ihn verkörperten.
Aber ich möchte Dir sagen, dass mir gänzlich unverständlich ist, wie jemand, der hierherkommt so wie ich, es fertigbringen könnte, dieses Land, seine edle gotische Schönheit, und seine lyrische Anmut nicht lieb zu gewinnen oder die Deutschen nicht zu mögen, die, wie ich glaube, die reinsten, freundlichsten, warmherzigsten und achtbarsten Menschen sind, die ich in Europa kennengelernt habe.
Neben dieser Bewunderung für „alles, was wunderbar und schön und erregend war“, erkennt er im gleichen Atemzug den Abgrund, der sich hier auftut. Wolfe schreibt seinem Verleger (hier im Original):
Now I so much want to see you and tell you what I have seen and heard, all that has been wonderful and beautiful and exciting, and about those things that are so hard to explain because one feels they are so evil and yet cannot say so justly in so many words as a hostile press and propaganda would, because this evil is so curiously and inextricably woven into a kind of wonderful hope which flourishes and inspires millions of people who are themselves, as I have told you, certainly not evil, but one of the most childlike, kindly and susceptible people in the world.
Leider wird in der deutschen Fassung die Ausdruckskraft dieses Briefs nicht ganz wiedergegeben, und die Übersetzung von „evil“ mit „grundböse“ bleibt fragwürdig.
Ich würde Dich jetzt sehr gern treffen und Dir erzählen, was ich gesehen und gehört habe, alles, was wunderbar und schön und erregend war, und all die Dinge, die so schwer zu erklären sind, weil man spürt, wie grundböse sie sind, und die man dennoch nicht angemessen in Worte fassen kann, wie es eine feindliche Presse und Propaganda täte, weil dieses Böse so eigentümlich und untrennbar mit einer Art wunderbarer Hoffnung verwoben ist, die Millionen Menschen aufblühen lässt und inspiriert, die ihrerseits, wie ich Dir bereits schrieb, gewiss nicht böse sind, sondern vielmehr das kindlichste, freundlichste und am leichtesten zu beeindruckende Volk der Welt.
Unfassbare Widersprüche
Thomas Wolfe versucht die Eigenschaften, den Charakter des deutschen Volkes zu erfassen – und er formuliert dabei Widersprüche, die für viele bis heute unfassbar geblieben sind.
Er sieht voraus, dass aus dieser „wunderbaren Hoffnung“, aus dieser Schönheit und Kindlichkeit eine Katastrophe entstehen wird.
[Es] würde womöglich das größte Unglück und Leid über die Menschen bringen, die ich hier kennengelernt habe und die mir allerliebenswürdigste Gastfreundschaft erwiesen haben.
Was meint Wolfe mit der „wunderbaren Hoffnung“? Welche Art von Hoffnung kann Menschen einerseits „aufblühen“ lassen und andererseits mit dem Bösen verwoben sein?
Es ist die Hoffnung auf eine Auferstehung in einem fast religiösen, metaphysischen Sinn. Das Volk bewegt sich freudig in Richtung Katastrophe, weil es leicht zu beeinflussen ist. Es folgt dem „Dark Messiah“, Wolfes Bezeichnung für Adolf Hitler in seinem posthum publizierten Roman You Can’t Go Home Again.
„Wir sind alle miteinander verdammt“
Aber Wolfe weiß auch, dass das nicht nur die Deutschen betrifft:
Ich glaube mehr und mehr, dass wir alle verbunden und befleckt sind mit jedweder Schuld und allem Bösen, das in dieser Welt sein mag, und dass wir andere nicht beschuldigen und verdammen können, ohne dass dies letztendlich als Anklage unserer selbst auf uns selbst zurückfällt. Wir sind alle miteinander verdammt und werden alle vom selben Stock geteert, und für das, was hier geschah, sind wir in gewissem Maß alle verantwortlich.
Er spricht in der Vergangenheitsform über etwas, was sich noch nicht ereignet hat – weiß er schon 1935, was geschehen wird?
Zugleich sind die Deutschen für ihn, und das scheint mir noch wichtiger, nicht anders als alle anderen Menschen:
Wir sind alle verantwortlich.
Im Widerspruch zwischen der Freundlichkeit der Menschen und dem Bösen, zu dem dieselben Menschen fähig sind, erkennt Thomas Wolfe ein Symptom von etwas, das die ganze Menschheit in sich trägt. Schon 1934 beschreibt er Deutschland in seiner Novelle Dunkel im Walde, seltsam wie Zeit als „jenes unbekannte Land, nach dem unser Geist sich in der Jugend so leidenschaftlich sehnt, das die dunkle Seite unserer Seele ist“.
In Deutschland, so heißt es weiter, „haben wir, was wir haben, wissen wir, was wir wissen, sind wir, was wir sind“. Deutschland, so könnte man schließen, fasziniert Thomas Wolfe gerade deshalb, weil es alles einschließt, wozu die Menschen fähig sind.
Bildnachweis:
Beitragsbild: Willy Pragher, CC BY 3.0, via Wikimedia Commons
Buchcover: Verlag
Thomas Wolfe
Eine Deutschlandreise
Literarische Zeitbilder 1926-1936
Aus dem Englischen von Renate Haen, Irmgard Wehrli und Barbara von Treskow. Herausgegeben von Oliver Lubrich
Manesse Verlag 2020 · 416 Seiten · 25 Euro
ISBN: 978-3717524243
„Widersprüche, die unfassbar sind“ – ist damit gemeint, dass Hitler and his henchman Deutsche waren, Beethoven auch? Oder ist damit gemeint, dass ein Deutscher, eine Detusche in sich Widersprüche vereinigt, die unfassbar sind? Ich glaube nicht daran, dass bildende Kunst und schöne Literatur etwas anzuhalten vermögen, wenn Gewalt fortschreitet, daher ist es für mich kein Widerspruch, dass die Deutschen Europa mit Gewalt überzogen haben und zu Haus Dirigenten wir Furtwängler Beethoven zur Aufführung brachten.
Ich denke, darum geht es Wolfe nicht (und Agnese macht das doch m.E. auch sehr klar). In seinem Roman „Es führt kein Weg zurück“ (derzeit auf deutsch, wenn ich es richtig sehe, nicht erhältlich absurderweise) gibt es die berühmte Passage Olympia 1936 (Wolfe war damals tatsächlich in Berlin). Es geht ihm um dies Problem: Dass ein Volk all sein Hoffen, Sehnen, Glauben ins „so offenkundig Makabre“ (Thomas Mann 1934) und Verbrecherische investierte. Und dabei gläubig war. Spannend, dass Wolfe und Thomas Mann zu ganz ähnlichen Ergebnissen kommen. Und zwar vor Auschwitz, vor dem, was Nazi-Deutschland von anderen miesen, gewaltbereiten Diktaturen trennt und so einzigartig macht. Wolfe war germanophil, zweifellos. Gerade deswegen aber spricht er – gestorben September 1938 – Nazi-Deutschland das Gericht! Man lese die Seiten in „Es führt kein Weg zurück“, in der am Grenzbahnhof Aachen ein Jude verhaftet wird, der offenbar fliehen will. Ein Jahrhunderttext, m.E.
Agnese: Vielen Dank, it rang a bell, Du hast mir Thomas Wolfe wieder nahe gebracht.
Disclaimer: Ich bin mit Tell und Agnese verbandelt.
Disclaimer-Disclaimer: nicht persönlich, sondern als gelegentlich Schreibender… (Das Denken in Disclaimern wäre auch mal ein Kurzessay wert…)
Wieder eine Perle in diesen „Seiten“ entdeckt. Danke tell und danke Agnese Franceschini
Ich habe in einem Interview von Sam Keen mit dem Psychologen Ernest Becker aus dem Jahr 1974 eine Passage gefunden, die den scheinbaren Widerspruch zwischen der „wunderbaren Hoffnung“ und dem „Bösen“ erklärt (sort of).
Becker vertritt die These, dass alle Bestrebungen des Menschen darauf abzielen, die Tatsache seiner Sterblichkeit zu bewältigen.
Ich zitiere die Passage auf Englisch:
„Man is an animal that has to do something about his ephemerality. He wants to overcome and be able to say, ‚You see, I’ve made a contribution to life. I’ve advanced life, I’ve beaten death, I’ve made the world pure.‘ (…)
The popularity of cults like Nazism stems from the need for a heroic role. People never thrive as well as when they feel they are bringing purity and goodness into the world and overcoming limitation and accident.“
Später im Interview stellt Becker dann die Frage:
„How do you get people to feel that society is set up on a heroic order without grinding up some other society, or finding scapegoats the way the Nazis did?“
(Quelle: „The Heroics of Everyday Life“, in Sam Keen: Voices and Visions. New York 1974)