Das neue Buch von Marica Bodrožić ist in Zeiten, in denen das pure Dagegensein en vogue und Krieg wieder zu einer ganz selbstverständlichen politischen Kategorie geworden ist, mehr als ein Coming Of Age Roman. In Das Herzflorett wird vielmehr die Überwindung und Durchkreuzung einer familiären Gewaltspirale mit sinnlicher Wucht und Empathie erzählt.

Die Protagonistin Pepsi ist zu Beginn ein neunjähriges Mädchen, die bei ihren Verwandten in Dalmatien aufwächst und nun auf ihren sehnlichen Wunsch hin zusammen mit den beiden Geschwistern zu ihren Eltern in die hessische Provinz zieht. Dorthin waren diese kurz nach Pepsis Geburt zum Arbeiten gezogen, um mit dem Geld die Verwandtschaft im damals noch existierenden Jugoslawien zu unterstützen.

Gewalterfahrungen

Als Pepsi jedoch im Jahre 1983 bei ihren Eltern im Hessischen landet, möchte sie am liebsten sofort wieder zurück. Denn es fehlt ihr nicht nur der südliche Himmel, das Gras, die Blumen, sondern vor allem beginnt nun ein fast zehnjähriges Martyrium der körperlichen und seelischen Gewalt. Die Mutter wird von der Arbeit aufgezehrt und verhärtet immer mehr, da ist kein Platz für Zärtlichkeiten oder Zuwendung. Der Vater betäubt alles, was ihn quält, mit Unmengen an billigem Schnaps.

Die Kinder stören nicht nur, sie werden zur Projektionsfläche für das eigene Elend, die selbst erlebte Gewalt und die Verbitterung darüber, kein wirkliches Leben zu haben außer der alltäglichen Plackerei. So kommt es, dass die „Erziehung“ aus Prügel, Verboten, Demütigungen und sadistischen Strafen besteht wie dem berüchtigten, vom Vater euphemistisch so genannten Reisspiel, bei dem Pepsi stundenlang mit bloßen Knien auf Reiskörnern ausharren muss, die sich in ihre Haut bohren.   

Jedes kleinste Widerwort von Pepsi macht die Mutter zur Furie. So droht diese eines Tages, Pepsi an dem Baum vor dem Haus zu erhängen und bei lebendigem Leib zu verbrennen. Diese Drohung trifft das Mädchen

im Herzpunkt wie ein Messer, das sich wendet und dreht, wie das Florett der fechtenden Olympiaken.

Pepsi, das weiß der Leser bereits, ist eine begeisterte Zuschauerin der Fechtmeisterschaften im Fernsehen. Das Herzflorett handelt also von den Stichen ins Herz der Protagonistin – und auch der Leser spürt diese Stiche beim Lesen der Gewaltszenen.  

Sprung in die Lebendigkeit

Doch es gibt auch eine metaphorische Bedeutung des Wortes „Herzflorett“, durch die eine weitere und ganz andere, hoffnungsvollere Ebene des Romans sich öffnet – ebenfalls inspiriert vom Fechtsport. Die Fechtenden, das beobachtet Pepsi ganz genau, springen im entscheidenden Moment, also bevor der Stich wirklich verletzen könnte, voneinander weg.

Diese Bewegung fasziniert Pepsi, und sie ahmt dies auf ihre Art nach, indem sie sich irgendwann von den Drohungen und Wutreden der Mutter nicht mehr gemeint fühlt. Durch diese Distanz gewinnt Pepsi eine neue Lebendigkeit, so wie es beim Fechten geschieht:

Mag man noch so oft getroffen werden, man muss wissen, wie man in die Lebendigkeit zurückkommt. Wenn sie voneinander wegspringen, scheinen die Fechtenden ein neues Leben zu beginnen, deutlich zeigt das ihr Atem […].

Das Florett als Metapher für ein neues Leben. Zehn Jahre lang träumt Pepsi nicht nur davon, sie erkämpft sich jeden Tag ein kleines Stück der Lebendigkeit, indem sie tatsächlich als Kind und später als Jugendliche in eine andere Welt springt, die in der Natur, auf den Tapeten und vor allem in der Welt der Bücher zu finden ist.

Einzig die Namenswahl scheint in diesem Roman nicht geglückt. Man hat das Gefühl, die Romanfigur Pepsi wird durch diesen Namen zwar in ihren schelmischen Anteilen erfasst, aber nicht in ihrem tiefen, beobachtenden Ernst – eher erscheint sie dadurch ins Reich der Fantasy entrückt. Vielleicht ist dieser Name jedoch als Brücke gemeint, um die Erzählstimme ganz nah an die Empfindungen des Kindes heranzuführen. Diese werden zuweilen in einer scheinbar „kindgemäßen“, ganz sinnlichen Sprache ausgedrückt. Die besondere Gabe von Marica Bodrožić besteht jedoch darin, die sinnliche Sphäre der staunenden Begegnung des Kindes mit den Bäumen, den Tieren, dem Gras und schließlich der Welt hinüberzuspielen in philosophische Einsichten, die ein Kind so nicht auszudrücken vermöchte.

Erforschung der inneren Welt

Auf diese Weise öffnet sich der Text auf ein verborgenes Wissen hin, das die Erwachsenen oft verloren haben. Ein Wissen, das eher ein Fühlen und Spüren ist, aber äußerst genau in der Fähigkeit, den eigenen Sinnen in ihrer Begegnung mit der Welt zuzuhören und ihnen zu trauen.

Die Erforschung des eigenen Inneren und der äußeren Welt sind nicht voneinander zu trennen. Wenn Pepsi sich mit ihren Sinnen die Welt ertastet und sich der Welt öffnet, spürt sie, wie alles atmet, und erlebt sich selbst als Teil dieses Atems. Als sie das Alphabet lernt, werden auch die Buchstaben Teil dieses Atems, und so wundert sie sich nicht, „dass sie das Alphabet zuerst roch“. Sie konnte die Welt ansprechen und wurde von ihr angesprochen.

Jemand hatte ein Buch ins Wiesengrün fallen lassen und fortan sprachen Wiese und Buch sie als eine Sache an, leise und nachdrücklich, so wie es nur der Wahrheit eigen ist.

Die Menschen um sie herum, selbst ihre Geschwister, ahnten nichts von Pepsis anderen Verwandten

aus dem Land der Wolken, der Pflanzen, der Vögel, des Alphabets, ahnten nichts von den Gesprächen, die sie mit Schachbrettblumen, Schwalben und Heiligen führt, mit den Farben und Gesprächen der Kargheit im Karst. 

Für Pepsi sind die sinnliche Welt der Farben und Gerüche und die Welt der Buchstaben und Worte aufs Engste ineinander verwoben. Die sinnliche Welt ist beschriftet, sie ist lesbar, sie ist durch und durch Leben, das man schmecken, anfassen und riechen kann, und gleichzeitig ist es durch und durch Sprache.

Auf diese Weise erlernt Pepsi auch die neue Sprache im neuen Land, die für sie der Ausweg wird, um nicht in der „Axtsprache der Gewalt“ verharren zu müssen:

Die neuen Wörter der neuen Sprache biegen und wiegen sich wie Bambus im Sprachwind, und Pepsi schnappt bei jedem Wetter ein neues Worte und kostet es wie eine nährende Süßigkeit, zu der sie immer wieder zurückkehren kann. Sie legt sich Wort für Wort einen Sprachgarten an.

„V“ wie Vater

Unterstützung bekommt sie dabei von ihrer größten „Errungenschaft“: Eine freundliche Nachbarin hat ihr ein Lexikon geschenkt, in dem die Welt „buchstabenweise wach wird“. Mit den ersten Büchern, die sie in der neuen Sprache liest, geht sie auf eine Reise nach Innen, die sie letztlich aus dem Elternhaus befreien wird.

Pepsi reist an weit entfernte Orte in der Zeit und in der Welt, und dann verschwindet sie ganz weit in ihrem Inneren, wie andere zu einem anderen Kontinent reisen. Ihre Füßen bekommen Wurzeln und unterhalten sich unter der Erde mit den Bäumen, die sich mit ihr verbünden und ihre Wirbelsäule stützen.

Mit dieser von Buchstaben und Bäumen gestärkten Wirbelsäule gelingt es Pepsi, sich der Gewalt zumindest innerlich mehr und mehr zu entziehen. Sie lernt, den Faden zu durchtrennen, der sie scheinbar unrettbar an die familiäre Gewalt gebunden hatte.

Die neue Sprache hilft ihr auch, sich von den Eltern innerlich zu lösen. In einem Wörterbuch sucht sie unter dem Buchstaben „V“ danach, wer oder was ein Vater sei und entdeckt dabei, dass ihr Vater mit dem, was dort steht, nichts zu tun hat. Er kann also gar nicht ihr Vater sein. So wächst in ihr die Kraft zum Widerstand gegen das häusliche Gefängnis aus Gewalt, Schmerz und Erniedrigung.

Weltpolitik 

Dass Pepsi der Ausbruch aus dem Elternhaus gelingt, ohne dass sie sich selbst verhärtet oder in blinde Wut und Gegengewalt ausbricht, liegt nicht zuletzt daran, dass sie schon früh in eine andere Welt als die des Elternhauses eintauchen konnte – sprechend, hörend und riechend. Später erweitert sich diese Welt um die Bücherwelt und die Buchmenschen, die ihr zu ernsthaften und liebevollen Gesprächspartnern werden.

Das Hineinwachsen in das neue Leben (ein plötzlicher Sprung ist es natürlich nicht) wird begleitet von den Erinnerungen an das alte. So lebt das Mädchen teilweise in einer feingestimmten Gleichzeitigkeit des Gestern und Heute, in dem die Zukunft schon spürbar wird. Es fließen darin die Kindheit in Dalmatien und das jetzige Leben in Hessen stetig ineinander, denn jedes Erlebnis und jede Entdeckung in Hessen wird von Pepsi mit einem Rückblick auf Ereignisse der früheren Kindheit abgeglichen. So wird der Leser an beide Orte mit gleicher Intensität hingeführt.

Vor diesem Hintergrund spielen weltpolitisch bedeutsame Ereignisse in die Zeit des Romans hinein, der ziemlich exakt die Jahre zwischen 1983 und 1991 umfasst: das Reaktorunglück von Tschernobyl, der Fall des Eisernen Vorhangs und der Beginn der Jugoslawienkriege. Der Blick darauf aus Sicht der ‚Zugereisten‘, der ‚Ausländer‘ und vor allem der selbst vom Krieg Betroffenen öffnet den Text auf eine weitere Dimension. Dabei geben die Kriegsereignisse in der entfernten Heimat auch die Gelegenheit, Pepsis Eltern aus anderer Perspektive zu zeigen, denn sie beherbergen nun Flüchtlinge aus Bosnien und Kroatien und kümmern sich mit aller Kraft um sie. So erleben wir sie mit einem Mal als hilfsbereite Menschen, der Vater hört sogar auf zu trinken.

Buchstabenfelder ernten

Gegenüber Pepsi ändert sich jedoch nichts, im Gegenteil. Die Mutter versucht, die inzwischen 18-Jährige mehr denn je zu kontrollieren und zu beherrschen. Es bleibt nur der Bruch, bei dem Pepsi viel Unterstützung erfährt, und bei dem ihr zugleich die Bücher helfen. Lesen ist für Pepsi ein körperlicher Vorgang, bei dem Buchstabenfelder geerntet werden wie früher die Felder der Erdbeeren, der Kartoffeln und des Mangolds. Und wie einst ihre Hände die Pflanzen geerntet haben, erntet jetzt ihr Auge die Sätze. Man mag solche Formulierungen als reine Metaphern empfinden, doch in ihren Poetikvorlesungen berichtet die Autorin, dass sie als Kind tatsächlich Buchstabenfelder gesehen hat, die des Abmähens oder eben Erntens in gleicher Weise bedürfen wie Getreide- oder Gemüsefelder. Es ist für sie eine wörtlich zu nehmende Kindheitserfahrung.

Die im Roman immer wieder spürbare Sinnlichkeit der Sprache spiegelt dieses poetologische Selbstverständnis der Autorin wider: Für Marica Bodrožić ist die wirkliche Sprache nicht die der abstrakten Begriffe, mit deren Hilfe wir die Dinge zu Objekten machen, um sie uns anzueignen, was schließlich zur Entfremdung von der Welt führt. Vielmehr ist für sie die erste Sprache, in der wir der Welt begegnen, die unserer Sinneseindrücke.

Mit der zweiten Sprache, in der die Worte als leiblich-geistige Gebilde auftreten, hat der Mensch die Möglichkeit, die Eindrücke der Kindheit in Poesie zu verwandeln und sich auf diese Weise aus der Entfremdung zu befreien. Das Herzflorett gibt dafür ein eindrucksvolles Beispiel: Die Autorin führt die Leser zu den Wurzeln der Sprache und des Menschseins zurück, das es ihnen erlaubt, sich als ebenso leiblich-sinnliche wie geistige Wesen zu erfahren.

Bildnachweis:
Beitragsbild: Klaus Wolken über einem Fluss via flickr

Angaben zum Buch

Marica Bodrožić
Das Herzflorett
Roman
Luchterhand 2024 · 288 Seiten · 24 Euro
ISBN: 9783630876603

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Von Frank Hahn

Freier Autor in Berlin und Vorsitzender des Vereins „Spree-Athen e.V.“, der regelmäßig ins Literaturhaus Berlin zu Vorträgen aus den Bereichen Philosophie und Literatur einlädt.

Ein Kommentar

  1. Klasse, diese Rezension lesen zu können, das Buch klingt durch die Rezension wie eine bewundernswerte Selbstbeobachtung beim Schaffen von inneren Bildern. Kennt jemand hier vielleicht Par Avion von Hafid Bouzza? Teile der Rezension klingen für mich wie die Art, in der Par Avion Sinneserfahrungen nachbildet.

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