„Öffnen Sie das Buch auf Seite 99, und die Qualität des Ganzen wird sich Ihnen offenbaren.“ (Ford Madox Ford)
Wir lesen mit der Lupe und schauen, was der Text auf dieser Zufallsseite leistet.
(Warnung: Der Page-99-Test ersetzt keine Rezension.)

Der Mann, um den es auf dieser Seite geht, spürt „die nächtliche Stille des Velebit“, ein kroatisches Gebirge. Er weiß wieder, wo er ist, nämlich am Ende der Reise, so erfährt man im ersten Absatz, der mit einer Folge von Negationen endet:

[…] nein, er war nicht festgeschnallt, schaute durch kein Loch in der Decke, lag auf keiner Pritsche, keiner Liege, keinem Bett, keinem Brett.

Gesagt wird nur, worauf der Mann nicht liegt, eine Beschreibung ex negativo, endend mit einer Art Reim. Es wirkt, als sei er etwas entkommen – Gefängnis? Krankenhaus?

Stilistisch ist das eine kühne Entscheidung, denn das Unbewusste kennt keine Negation. Es hört in dieser Passage nur:

  • festgeschnallt
  • Loch
  • Pritsche
  • Liege
  • Bett
  • Brett

Was neurologisch in unserem Gehirn abläuft, wenn wir eine Negation verarbeiten, hat der argentinisch-kanadische Autor Alberto Manguel durch einen Schlaganfall erlebt. Im Gesprächsband Ein geträumtes Leben beschreibt er, wie er seine Sprache allmählich wiedererlangt. Die Frage der Krankenpflegerin, ob er Schmerzen habe, kann er nicht einfach verneinen. „Mein Gehirn versuchte zu formulieren ‚Schmerz, ja‘, und dann wollte es ein ‚Nein‘ darauflegen. Aber diese Brücke war nicht mehr da, und so bauten meine Neuronen neue Brücken. Nach einigen Wochen konnte ich sagen: ‚Ich habe Schmerzen, nein.‘“

Beim Lesen einer Negation leisten wir unbewusst jedes Mal diese Arbeit. Ob dies in der hier zitierten Passage einen literarischen Mehrwert ergibt, lässt sich aufgrund der Seite 99 allein nicht sagen.

***

Der nächste Satz ist zunächst rätselhaft. Ein Schäfer kommt aus dem Tal zurück, und der Mann begrüßt ihn mit den Worten:

“Die Zeit des Faulenzens ist vorbei, Šljiva“ […].

Dass der Mann mit dem Faulenzen nicht den Schäfer meint, sondern sich selbst, wird erst in der nächsten Zeile klar, hier taucht auch die Bezeichnung Cowboy auf.

“Die Zeit des Faulenzens ist vorbei, Šljiva“, begrüßte er den Schäfer, als der am nächsten Tag mit der Herde und dem Hund in den Talkessel zurückkehrte und erstaunt und mit offenem Mund auf den Cowboy starrte, der am Haus arbeitete, sich das Hemd ausgezogen hatte, nur das Halstuch bedeckte noch den Oberkörper, die Spitze des Dreiecks lag auf seiner knochigen Brust, und erst jetzt erkannte der Schäfer, wie ausgezehrt der Mann war, und er beschloss, ihm einen Krug frischer Milch zu bringen.

Es ist nicht ganz leicht, diesem Satz zu folgen. Holprig ist der Satz aufgrund der vielen „und“ sowie des Relativsatzes, dessen Fortsetzung ins Leere geht.

[…] begrüßte er den Schäfer, als der am nächsten Tag mit der Herde und dem Hund in den Talkessel zurückkehrte und erstaunt und mit offenem Mund auf den Cowboy starrte, der am Haus arbeitete, sich das Hemd ausgezogen hatte […]

Der zweite Teil dieses langen Satzes besteht in Wahrheit aus vier vollständigen Sätzen. Sie werden durch Kommas verbunden sowie einige „und“, die wieder etwas verquer in der Landschaft stehen. Ich setze jeweils einen Punkt, wo ein neuer Satz beginnt; der Übersichtlichkeit halber füge ich Zeilensprünge ein.

“Die Zeit des Faulenzens ist vorbei, Šljiva“, begrüßte er den Schäfer, als der am nächsten Tag mit der Herde und dem Hund in den Talkessel zurückkehrte und erstaunt und mit offenem Mund auf den Cowboy starrte, der am Haus arbeitete, sich das Hemd ausgezogen hatte.
Nur das Halstuch bedeckte noch den Oberkörper.
Die Spitze des Dreiecks lag auf seiner knochigen Brust.
Und erst jetzt erkannte der Schäfer, wie ausgezehrt der Mann war.
Und er beschloss, ihm einen Krug frischer Milch zu bringen.

Das wirkt ziemlich achtlos dahingeschrieben. Dazu kommen ein paar Klischees: Dass die Milch beim Melken „schäumte und dampfte“ und dass sie dem Cowboy später über das Kinn tropft, hat man auch anderswo schon gelesen.

***

Diese Dinge fallen einem nur auf, wenn man genau hinschaut, immerhin hat der Text einen unleugbaren Schwung. Irritierend dagegen finde ich den Dialog, den der Cowboy nun mit dem Schäfer führt. Wir sind zwar in Kroatien, doch offenbar unterhalten die beiden Männer sich auf Deutsch.

„Ich werde dir helfen, ich will mich hier nicht einnisten wie die Made im Speck.“

Der Schäfer Šljiva hat Schwierigkeiten mit der Redewendung.

„Made, verstehst du?“ Der Cowboy bewegte seinen Zeigefinger wie einen Wurm in der Luft, und der Schäfer wich kurz zurück, wieder einmal, verstand dann aber und lächelte, während er weiter die Ziege melkte.

(Ein Schäfer, der Ziegen hütet?)

„Speck“, sagte der Schäfer mit seiner seltsam hohen Stimme und leckte sich über die Lippen, „Speck“, wiederholte der Cowboy und ahmte mit seinem Finger einen Wurm nach, der sich in ein Stück Speck, das er mit der anderen Hand in der Luft formte, hineinfraß.

Dass der Cowboy den Finger wie einen Wurm in die Luft hält, wusste ich bereits, die unbeholfene Beschreibung des mit der anderen Hand in die Luft geformten Stücks Speck wäre nicht nötig gewesen. Aber damit wirklich gar kein Zweifel mehr bleibt, wird die Made im Speck ein weiteres Mal bemüht, Šljiva zuliebe in vorauseilend gebrochenem Deutsch:

„Ich nix Made“, sagte der Cowboy, „ich helfe mit, mein Šljiva, ich bin kein Parasit des Volkes.“

Die sozialistisch anmutende Wendung „Parasit des Volkes“ wirkt in den kroatischen Bergen so wenig plausibel wie die Made im Speck. Seltsamerweise muss sie dem Schäfer nicht erklärt werden. Vielleicht ist es eine Ironie, die sich nur an die Leser richtet?

***

Der Cowboy hebt den Krug mit der frisch gemolkenen Ziegenmilch an den Mund,

und während er trank, atmete er den Geruch der Milch, sah das Weiß, obwohl er die Augen geschlossen hatte, Schnee, Milch, Schnee, Milch, Spuren im Schnee, Bauern ohne Milch und so hager, dass sie wie alte struppige Besen an den Zäunen und Wänden ihrer Höfe lehnten […].

Die Vision aus lauter Weiß kommt unvermittelt, seltsamerweise geht der Gedankengang des Cowboys vom Weiß zu den Bauern, denen dieses Weiß gerade fehlt. Plötzlich setzt der Cowboy den Krug ab und reicht ihn dem Schäfer, der nicht darben soll wie diese Bauern, die wie struppige Besen am Zaun lehnen.

„Trink du weiter, Kamerad, du arbeitest“

– hier bricht die Seite ab.

***

Mir ist, als müsste ich beim Lesen auf meine Füße achten, damit ich in dem unwegsamen Gelände nicht stolpere.

Fazit:

Man sollte beim Lesen der mehr als tausend Seiten wohl besser nicht zu genau hinschauen.


Angaben zum Buch

Clemens Meyer
Die Projektoren
Roman
S. Fischer 2024 · 1056 Seiten · 36 Euro
ISBN: 9783100022462

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Von Sieglinde Geisel

Journalistin, Lektorin, Autorin. Gründerin von tell.

5 Kommentare

  1. Es mag den eigenen Horizont sprengen, aber es soll tatsächlich und schier unglaublich, fast an ein Wunder grenzend, mirakulös, wie wir Freunde der Nudel sagen, in der Tat vorkommen, daß ein Mann, dessen Beruf es ist, Schäfers zu sein, nicht nur auf dem Feld mit Schafen und dazu womöglich auch mit Hütehunden umgeht, sondern daß er zuweilen und in anderen Zusammenhängen, zumal als ländlicher Mensch, wie zu vermuten steht in dieser Region, auch eine Ziege zu melken imstande ist. Man kann, als Bewohner einer Großstadt und weit ab vom Land, so etwas gar nicht fassen, aber solche Grenzfälle des Lebens kommen manchmal auch in der Literatur vor.

    Was an dem Satz, der da beginnt mit „Die Zeit des Faulenzens ist vorbei“, schwierig ist oder warum ihm gar schwer zu folgen sei, entzieht sich meiner Kenntnis. Ich zumindest hatte keine große Mühe, diesen Satz auf Anhieb zu verstehen und ihm sogar auch noch zu folgen. Aber da liest wohl jeder anders. Mir fiel in diesem Kontext jedoch ein Zitat Adornos ein: „Nur, was sie nicht erst zu verstehen brauchen, gilt ihnen für verständlich; …“

    Daß ein Satz eben nicht mit Punkten und Zeilensprung abgetrennt ist: man könnte meinen, dies sei vielleicht ein Stilmittel und ergibt beim Lesen einen bestimmten Sound. Der Kritikerin wünsche ich ansonsten viel Vergnügen beim Lesen von Proust, Joyce oder Musil. Da kommen sehr lange Sätze vor.

    Wenn man einen Text zudem derart verändert, stellt sich eine andere Wirkung ein. Genau deshalb hat der Autor ja genau diese Interpunktion und diese Anordnung von Wörtern derart gesetzt. Wenn ich „Wanderers Nachtlied“ „Über allen Gipfeln ist Ruhe. In allen Wipfeln spürst Du kaum einen Hauch. Die Vögelein schweigen im Walde. Warte nur! Balde ruhst du auch“ derart verändere, entsteht eine völlig andere Wirkung und das ganze wirkt läppisch und banal. Eine große Zahl an Gedichte kann man durchs Beseitigen von Zeilensprüngen dann als trivial erscheinen lassen.

    Fazit: Der Page-99-Test ist leider für solche Formate und solche Romane völlig ungeeignet. Eine „Gewebeprobe“ kann man nur entnehmen, wenn man das Ganze bereits kennt und dieses „Gewebe“ bzw. das Gemachtsein dieser Textur vor dem Hintergrund der ganzen Komposition beurteilt. Und das will heißen: daß der Kritiker diesen Roman gelesen hat.

    Im übrigen sollte man ein Format nicht überstrapazieren. Anfangs ist es witzig. Irgendwann fängt es an zu nerven.

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    1. Naja, mutwilliges Missverstehen ist auch eine Kommunikationstechnik. Schade, ich würde gerne diskutieren, gerade mit jemandem, der die ganzen tausend Seiten gelesen hat, z.B. über den „Sound“: Da würde mich dann interessieren, wie selbiger zustande kommt (und ob es mehr ist als ein bloßer Sound, ich gehe bei diesem Wort eher in Deckung).

  2. wie unhöflich, die hier etablierte und weiterhin gut balancierte Praxis der Seite-99-Tests abzutun! Der Seite-99-Test kann viel oder wenig herausfinden, das hängt von den Umständen ab. Es kann eine Methode mit Tiefgang sein oder eine, bei der an der Oberfläche gekratzt wird, je nachdem.
    Doch wenn jemand alle auf dem Markt angebotenen Schokoladensorten schon probiert hat und sich bei diesem Probieren an Schokolade so satt gegessen hat, dass sein Interesse in der Zwischenzeit zu anderem abgewandert ist, dann soll der vielleicht als Gewährsmann dafür, ob Schokolade schmeckt, erstmal sich zurückhalten.
    Ich freue mich auf die nächsten Seite-99-Tests!

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  3. Verehrter Kommandant,
    die gelehrte Eitelkeit langer Schachtelsätze vergrätzt nur den selbsternannten Geistesadel nicht. Aber keine Sorge: „Der Umstand, daß Intellektuelle meist mit Intellektuellen zu tun haben, sollte sie nicht dazu verführen, ihresgleichen für noch gemeiner zu halten als den Rest der Menschheit.“
    Alle Übrigen, abgekanzelt mit Adorno-Zitaten, dürfen eine Sprache schätzen, die unterhalten und bewegen will, ohne auch noch bemüht belehren zu müssen. Wir — „die andern Menschen, insbesondere die einfachen“, welche – bis auf wenige Ausnahmen – nur die Leseproben von der Longlist kennen, brauchen die Nase nicht zu rümpfen, wenn es um den ungeschlossenen Kreis des hermeneutischen Zirkel geht. Kleingeistige Konsumenten wie ich, unfähig, wahre Kunst zu erkennen, selbst wenn sie uns in den Hintern beißt, brauchen ebensolche Handreichungen, um eine Kaufentscheidung zu treffen und den Massenbetrug aufrechtzuerhalten. Was wir nicht benötigen, sind müßige Vergleiche mit Joyce oder Musil oder gar Proust, denn, Herr Kommandant, uns ist sowieso „jedes Buch suspekt (…), das nicht kürzlich erschien“.
    Hoffen wir sodann, dass Ihre Faustformel, verehrter Kommandant, nicht auch Sie selbst betrifft: „Anfangs ist er witzig. Irgendwann fängt er an zu nerven.“ 😉

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  4. Es geht nicht darum, was Sie schätzen oder nicht schätzen, das ist auf der Ebene der Subjektivität gewiß interessant, sei es für die Kneipenpauderei oder fürs Poesiealbum. Doch für Literaturkritik sind solche privaten Wertschätzungen unerheblich. Ein Roman wird nicht dadurch besser, daß ein Leser mit einfachen Sätzen gut zurechtkommt. Er wird es übrigens, da kann ich Sie beruhigen, auch nicht durch besonders komplizierte Sätze.

    Sätze, die mit „gelehrte Eitelkeit langer Schachtelsätze“ anfangen, verraten leider die beschränkten Möglichkeiten und eine Art Sparwasserwitz – wobei das bei mir als Ehrenossi nicht ossig gedacht war. Kleiner Tip für Sie: Setzen Sie nicht Ihren eigenen Bewußtseinsstand an die Stelle von anderen.

    Ein „ungeschlossener Kreis des hermeneutischen Zirkels“ ist leider Blödsinn – das ist wie ein Dreieck ohne drei Ecken. Aber vielleicht meinten Sie auch nur Goethe: „Dann hat er die Teile in seiner Hand,/ Fehlt leider! nur das geistige Band.“ Und leider herrscht auch in den Redaktionen des Kulturradios, den damaligen die Dritten Programme des Hörfunk, bei der E-Musik inzwischen die Gewohnheit, nicht mehr die ganze Symphonie, mithin die Komposition als Ganzes, zu bringen, sondern Versatzstücke und „schöne Stellen“ herauszubrechen. Dem gegenwärtigen Stand des Bewußtseins mag man damit Genüge tun.

    Sie müssen Musil, Proust oder Joyce nicht mögen. Nur eben haben diese Autoren ästhetische Maßstäbe gesetzt, hinter die es kein Zurück gibt. Was nicht heißt, daß Sie gerne auch Konsalik, Kurzsatz- oder Midcultprosa lesen dürfen.

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