Die Bilder werden expliziter, je tiefer man in die durch Trennwände gegliederte Glashalle der Neuen Nationalgalerie vordringt. Doch Andy Warhol interessierte sich weit weniger für „nackte Tatsachen“, als es auf den ersten Blick scheinen mag. Tatsächlich sollte die Berliner Ausstellung anfangs Drella heißen. Drella war der Spitzname Warhols seit den frühen Factory-Jahren: eine Mischung aus Dracula und Cinderella, die beiden Seiten des Tag und Nacht arbeitenden Künstlers, darin sehr viel Schein und noch mehr Scham. Ein doppelter Warhol: jener Andy, der morgens erst einmal „seinen Warhol“ überzog, um aus dem Haus zu gehen – wie er in seiner 1975 veröffentlichten Philosophy of Andy Warhol schreibt.
Die Schönheit des Queeren
Der jetzige Titel der Ausstellung Velvet Rage and Beauty zielt stärker auf die erotische Doppelgesichtigkeit Warhols, der schwul war zu einer Zeit, in der die Liebe von Männern zu Männern noch strafbar war. Er nimmt seine Scham stärker in den Blick; es ist die Scham, ein Ausgestoßener der Gesellschaft zu sein, der trotzig die Schönheit des als ‚schmutzig‘ angesehenen Queeren und Fluiden hochhielt. „I never met a person I couldn’t call a beauty“ ist einer der lange übersehenen Schlüsselsätze aus seiner Philosophy. Der Satz kontrastiert die Mainstream-Vorstellung von Warhol als Porträtist der Glamour-Welt: jene Vorstellung also, die unser Bild des weitgehend schamlosen Karrieristen prägt, der nur darauf aus war, die Schönen und Reichen noch schöner und reicher erscheinen zu lassen. Dracula eben, der Blutsauger. Denn Andy liebte Geld. Doch das war wahrscheinlich auch wieder nur ein Teil seiner Scham – gleichzeitig die dicke Wand jenes Renommees, das ihn vor staatlicher Verfolgung schützte.
Blotted Lines
Cinderella lernen wir gleich zu Beginn der Ausstellung kennen: ein junger Mann, zart und empfindsam wie ein schüchternes Mädchen, der sich mit Schwärmereien für Filmstars die Schulzeit in Pittsburgh schönträumt und sie mit zarten, dennoch präzise gesetzten Linien für sich und später auch für zahlendes Publikum einfängt. „Blotted Lines“ nennen Kritiker:innen diese Zeichentechnik. Dabei werden Umrisse so schnell mit Tusche gezogen, dass die noch nasse Zeichnung mit einem leeren Blatt Papier, das wie Löschpapier auf das erste Blatt aufgelegt wird, abgenommen und damit spiegelverkehrt gedoppelt werden kann: Aus eins mach zwei, aus einem Original eine Kopie. Und vielleicht gab es eine Stimme in Andys Kopf, die diese Distanzierung, diesen, wenn auch kleinen, Sicherheitsabstand lachend kommentierte: „Ich war’s ja gar nicht, ich hab‘s nur abgekupfert.“ Andy jedenfalls wird noch während seines Studiums in Pittsburgh Meister dieser Technik.
Er bleibt der Umrisslinie und damit der Figur treu. In einer Zeit, in der die Abstraktion New York erobert, schlägt sich Warhol auf die figurative Seite und damit auf die Seite der Narration. Fotografie und Film flankierten von Beginn seiner Factory-Zeit an die künstlerische Bildproduktion. Auch hier kann Warhol einen mechanischen Produktionsschritt einlegen, indem er die Kamera zwischen sich und die Welt schiebt: ein – wenn auch nur hauchdünnes – Feigenblatt. Was er uns zeigt, ist die immer wieder neue Suche nach Schönheit, Glanz, Party und Perfektion, daneben seine unverhohlene Faszination für Freaks.
Die Dehnung der Zeit
Es entsteht ein vielschichtiges Werk, dessen Eckpunkte wir kennen, und von denen einige in der Ausstellung zu sehen sind: ikonische Bilder, spektakuläre Momente oder zu Kunst stilisierte Objekte und Markennamen, tausende Marilyns, Mona-Lisas, hunderte Elvisse, Stapel von Jaggers, daneben Autounfälle, Suppendosen, Coca-Cola-Flaschen. In die plakativen Großformate schlichen sich immer wieder männliche Schönheiten, von Warhol manchmal nur zwischen Tür und Angel fotografiert, oder zu Werbezwecken. Manche dieser Bilder inspirieren ihn zu eigenen Serien. Er zeigt sie in Ausstellungen, meist in Europa. Das war nicht nur angesichts der Strafbarkeit von Homosexualität mutig, sondern auch vor dem Hintergrund der in den 1980er Jahren ausgebrochenen HIV-Pandemie, an deren Anfang Homosexuelle sowohl als Verursacher als auch als Opfer zusätzlich diskriminiert wurden. Den beiden Kurator:innen Klaus Biesenbach und Lisa Botti ist es zu verdanken, dass die so entstandenen Männer-Serien erstmals zusammen in einer Ausstellung zu sehen sind.
Der eigentliche Überraschung ist jedoch kein Mann und keine noch so explizit dargestellte Sexpraktik, sondern – Langeweile. Und damit stößt die Schau zu einem oft übersehenen Aspekt von Warhols Bildern vor: die Dehnung der Zeit bis ins Unerträgliche. Mag der Titel des Films „Blowjob“ bis heute prickelnd und aufregend klingen, eine halbe Stunde lang in das Gesicht eines Mannes zu schauen, der – ohne dass es zu sehen ist – oral befriedigt wird, bleibt mühsam. Um wieviel mehr der achtstündige Blick einer Standkamera auf das Empire State Building des Nachts. Der Film endet abrupt, ein Höhepunkt bleibt aus.
Existenzielle Fluidität
Andy Warhol war, und das lässt sich zwischen allen lustvoll inszenierten Sex-Szenen oder Blicken des Begehrens auch sehen, ein ernster und liebender Mann. Ihn faszinierte die existenzielle Fluidität jener Menschen aus der New Yorker Subkultur, die nicht nur zwischen männlich und weiblich oszillierten, sondern auch zwischen privat und öffentlich, zwischen „nur cool“ oder „schon berühmt“. Er selbst wollte stets jemand anders sein und schaute sich vieles ab bei den Leuten, die er hinreißend fand.
Und das zeigt uns die Berliner Ausstellung: Warhols Begeisterung für Menschen – wenn auch hier Männer eindeutig im Vordergrund stehen – und seinen Sinn für die eigentümliche Mischung aus existenzieller Langeweile und individueller Schönheit. Sie prägt sein gesamtes Werk und wurde lange unter dem Schlagwort Pop-Art missverstanden.
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Angaben zur Ausstellung
„Andy Warhol: Velvet Rage and Beauty“
Neue Nationalgalerie Berlin
Bis zum 6. Oktober 2024