Große Literatur aus Belarus
Zwei Lektüretipps von Sieglinde Geisel
Ich empfehle dieses Jahr zwei Bücher des großen belarussischen Autors Alhierd Bacharevič. Sein opus magnum Europas Hunde ist im Februar 2024 auf Deutsch erschienen (im belarussischen Original 2017), eine irrwitzige Phantasmagorie in sechs Teilen, die bis ins Jahr 2050 reicht. Eigentlich sind es sechs komprimierte, locker verbundene Romane: Die erfundene Sprache Balbuta spielt eine wichtige Rolle, es gibt wiederkehrende Figuren, und die Bewohner der späteren Welten diskutieren über die Ereignisse der Vergangenheit, beispielsweise darüber, dass es einst ein Land namens Belarus gegeben hat, das allerdings längst vom russischen „Reich“ geschluckt wurde und nun nur noch dessen Westgrenze darstellt.
Der Roman ist nicht nur politisch visionär, sondern auch sprachlich eine Meisterleistung, und zwar sowohl des Autors als auch seines Übersetzers Thomas Weiler. Eine der interessantesten Figuren des Romans ist eine uralte Babka mit schamanischen Fähigkeiten, und so sieht sie aus:
Ein schwarzes, greisenhaft grobporiges, wie eine gusseiserne Pfanne verbackenes Gesicht, dicklippig, mit gekräuselten grauen Härchen am Kinn, dem kleinen feuchten Dotter der Augen, in dem die blaue Iris schwamm.
Alhierd Bacharevič
Europas Hunde
Roman
Aus dem Belarussischen von Thomas Weiler
Voland & Quist 2024 · 740 Seiten · 36 Euro
ISBN: 9783863913151
Das letzte Buch von Herrn A. ist 2023 auf Deutsch erschienen (im belarussischen Original 2020). Um seine Schulden bei seinem Verleger zu begleichen, muss der Dichter A. dreißig Märchen schreiben. Er wohnt beim Verleger, und jeden Abend liest er der Familie und den Hausangestellten die Geschichte vor, die er an diesem Tag geschrieben hat: Literaturkritik live in Form einer poetologischen Scheherazade, so unterhaltsam wie intelligent. Zwischen den Figuren entspinnt sich dabei eine Romanhandlung, die weit über eine bloße Rahmenerzählung hinausgeht.
Zugleich geht es ganz zwanglos um Kriterien für Literatur.
„Ich hatte Angst, und ich lächelte dabei… Ich mag es, wenn Furcht und Lachen zusammengehen, wie zwei schöne Burschen.“
So die Frau des Verlegers über ein Märchen.
Jede Geschichte führt uns ein anderes Genre vor: Krimi, phantastische Begebenheit, modernistische Innerlichkeit – ein virtuoses Sammelsurium, bei Bedarf mit analytischen Schlaglichtern wie hier in einer politischen Parabel:
In den Jahren meiner Jugend fand in meiner Heimat die Große Revolution statt. Zur Macht kam das Volk, und der Führer des Volkes war der Große Genosse Kyndyrgyl. Er träumte vom Glück für alle – mit Ausnahme derer, die es nicht verdienten.“
Alhierd Bacharevič
Das letzte Buch von Herrn A.
Roman
Aus dem Belarussischen von Andreas Rostek
Edition FotoTapeta 2023 · 464 Seiten · 25 Euro
ISBN: 9783949262234
Ein Meister des Fingierens
Ein Lektüretipp von Hartmut Finkeldey
Die Sterntagebücher von Stanisław Lem sind eine Auswahlausgabe der „Schriften“ des Reisenden und Forschers Ijon Tichy, und zwar handelt es sich um die erweiterte Neuausgabe. Die Werkauswahl enthält die „Reiseberichte“ diverser Weltraumreisen (nicht die 26., die sich als apokryph erweisen hat!) nebst wissenschaftlichen Schriften.
Schon in der „Einleitung“ durch „Prof Taratonga“ zeigt sich Lem somit als Meister des Fingierens. Die einzelnen Geschichten hier aufzuzählen, ist wenig sinnvoll: die berühmte Zeitschleifengeschichte mit lauter Tichys, die achte Reise (letztlich nur ein Traum), wo sich Tichy als Delegierter der Erde um die Aufnahme in den Rat der Vereinten Planeten bemüht – und natürlich scheitert, denn die Erde wird bekanntlich von Irren bewohnt, die wie blöde aufeinander einschlagen…
Das ist alles großartig, zugleich im besten Sinne witzig und reflektiert. Den Schluss bildet Ijon Tichys offener Brief „Retten wir den Kosmos“. Dort schildet er, welche seltsamen Lebensformen die Planetenwelt hervorgebracht hat.
Auf der Protestenes lebt ein kleiner Vogel, die Entsprechung des irdischen Papageis, doch redet er nicht, sondern er schreibt.
Stanisław Lem
Sterntagebücher
Roman
Aus dem Polnischen von Caesar Rymarowicz
Suhrkamp 2021 · 523 Seiten · 10 Euro
ISBN: 9783518471463
Die Lebenswelt urbaner Intellektueller
Ein Lektüretipp von Hartmut Finkeldey
Simone de Beauvoirs Roman Die Mandarins von Paris war 1955 der toast of the town in Paris und wurde sofort mit dem Prix Goncourt ausgezeichnet. Natürlich kann man ihn als Schlüsselroman lesen (Robert Dubreuilh ist Sartre, seine Frau Anne ist de Beauvoir usw.). Und als solcher ist er ein Zeitdokument: Er dokumentiert eine der wichtigsten geistesgeschichtlichen Epochen Europas im zwanzigsten Jahrhundert, als um 1950 der französische Existenzialismus zur Leitphilosophie der Modernität avancierte und man sich zugleich mit Marx intensiv auseinandersetzte.
Darüber hinaus aber ist er ein Roman über die Lebenswelt urbaner Intellektueller überhaupt, ihrer intellektuellen Debatten, ihrer Streitereien, Zerwürfnisse, Gegnerschaften, ihrer amourösen Abenteuer – also ihrer Sehnsucht nach Liebe und Anerkennung.
Somit ist der Roman heute so aktuell wie eh: Im Jahr 2024 ist er auch ein Roman über uns.
Verrückt ist es, an wie viele Dinge man nicht denken darf, wenn man ohne Entgleisung von einem zum anderen Ende des Tages gehen will.
Simone de Beauvoir
Die Mandarins von Paris
Roman
Aus dem Französischen von Ruth Ücker-Lutz und Fritz Montfort
rororo Taschenbuch 1975 · 1033 Seiten · 16 Euro
ISBN: 9783499107610
Deutsch-deutsche Befindlichkeiten
Ein Lektüretipp von Herwig Finkeldey
Das Sachbuch Ungleich vereint von Steffen Mau ist das rechte Buch zur rechten Zeit, gewissermaßen eine vorweg genommene Analyse der Landtagswahlen im Herbst, deren Ergebnis mutmaßlich in einem fulminanten Stimmenzuwachs zugunsten der AfD und einem Eintritt des BSW in die ostdeutschen Landesparlamente bestehen wird. Die Landkarte der Europawahl gibt ja exakt die alte deutsch-deutsche Grenze wieder: Das AfD-Blau färbt das Gebiet der ehemaligen DDR ein, das CDU/CSU-Schwarz die alte Bundesrepublik, jeweils mit einigen rot-grünen Einsprengseln.
Es ist hier nicht der Ort, alle Thesen und Beobachtungen aus Maus Buch zu analysieren. Exemplarisch seien seine klugen Beobachtungen zum Jahr 1990 genannt. Das Ergebnis der Einheit nennt Mau eine „ausgebremste Demokratisierung“, die nach der „Selbstermächtigung“ des Revolutionsherbstes 1989 zur „Selbstentmachtung“ durch die Übernahme eines fremden, vermeintlich gut funktionierenden Systems führte, im Jahr 1990.
Die rasche Enttäuschung bewirkte sehr unterschiedliche Deutungen in Ost und West. Dagegen resümiert Steffen Mau:
Wer in der Ost-West-Debatte mit Schuldbegriffen operiert, ist schon auf dem Holzweg.
Man kann diesem Buch nur wünschen, dass es vielen hilft, diesen „Holzweg“ zu verlassen. Sei es nun am Strand der Lübecker Bucht oder am Strand von Usedom oder Hiddensee.
Steffen Mau
Ungleich vereint
Suhrkamp 2024 · 168 Seiten · 18 Euro
ISBN: 9783518029893