„Öffnen Sie das Buch auf Seite 99, und die Qualität des Ganzen wird sich Ihnen offenbaren.“ (Ford Madox Ford)
Wir lesen mit der Lupe und schauen, was der Text auf dieser Zufallsseite leistet.
(Warnung: Der Page-99-Test ersetzt keine Rezension.)
Auf der Seite 99 von Radio Sarajevo habe ich fast nichts zu meckern. Wir sind in einer Schulklasse, und die Schüler haben begriffen, dass sie bei ihrem Lehrer namens Karahasan ohne jedes Risiko schwänzen können. Gefahr lauert allerdings außerhalb der Schule, denn in Sarajevo herrscht Krieg.
Das bisschen, was ich zu meckern habe, betrifft Redundanzen.
Schon vor der Rückkehr zur Schule hatten wir ständig nach Gelegenheiten gesucht, für ein paar Minuten an die frische Luft zu gehen, die Schule gab uns nun die Möglichkeit, es täglich für ein paar Stunden tun zu können.
Warum nicht einfach „es täglich für ein paar Stunden zu tun“?
Der Lehrer merkt sich die Namen der Schüler nicht.
„Du – kennst du die Antwort?“, fragte er und warf dabei seinen Blick unbestimmt zwischen die Stuhlreihen, sodass man nicht wissen konnte, wen er meinte.
Der letzte Satzteil schwächt den Text. Literatur lebt von Lücken (auch von kleinen), sie aktivieren mich als Leserin. Doch hier bekomme ich alles mit dem Löffel gefüttert.
Im dritten Beispiel sind es Anführungszeichen, die mir beim Lesen den Steigbügel hinhalten.
Er führte nicht einmal ein Klassenbuch, die „Noten“ – willkürlich festgesetzte Zahlen nach kryptischen Abfragen – schrieb er in einem Notizblock der Polizeigewerkschaft auf.
Die Anführungszeichen markieren eine ironische Distanzierung, doch diese ist in der Bemerkung zwischen den Gedankenstrichen bereits enthalten.
***
Das sind Schönheitsfehler, die sich leicht beheben ließen. Allerdings finde ich auch kaum etwas, was auf dieser Seite 99 stilistisch hervorzuheben wäre, und wenn, dann ist es ebenso bescheiden.
Ich kann dafür zwei der oben angeführten Zitate noch einmal verwenden:
„Du – kennst du die Antwort?“, fragte er und warf dabei seinen Blick unbestimmt zwischen die Stuhlreihen, sodass man nicht wissen konnte, wen er meinte.
Der unbestimmt zwischen die Stuhlreihen geworfene Blick ist eine originelle Formulierung von bildlicher Kraft: Ich sehe den Lehrer vor mir.
Er führte nicht einmal ein Klassenbuch, die „Noten“ – willkürlich festgesetzte Zahlen nach kryptischen Abfragen – schrieb er in einem Notizblock der Polizeigewerkschaft auf.
Hier gefällt mir die Genauigkeit: Der Notizblock (und damit der ganze Satz) wird interessanter durch die Polizeigewerkschaft.
Gegen Ende der Seite gibt es einen weiteren Satz, der stilistisch ambivalent ist. Die erste Hälfte des Satzes lautet:
Die Kämpfe an diesem Tag beschränkten sich zwar auf Popcorngeräusche einzelner Scharmützel,
Das Wort „Popcorngeräusche“ ist aufgeladen, gerade weil es etwas Harmloses benennt: Es steht in einer Spannung zur Tatsache, dass diese Scharmützel tödlich enden können. Damit wirft dieses Wort ein Schlaglicht auf die Gewöhnung an den Krieg.
Die zweite Hälfte des Satzes ist dagegen aufgebläht:
und wir wussten auch ungefähr, wo man sich in der unmittelbaren Umgebung unserer Siedlung vor Scharfschützen in Acht nehmen musste.
Diese Wörter erwähnen etwas, was man sich auch denken kann. Nicht nur machen sie den Satz schwerfällig, sie lenken auch von der Ungeheuerlichkeit ab, dass die Schüler ganz selbstverständlich wissen, wo sie erschossen werden könnten.
Wenn man den Satz zuspitzt, wird der Ernst der Lage spürbar:
und wir wussten auch ungefähr, wo man sich vor Scharfschützen in Acht nehmen musste.
Fazit
Das ist solide erzählt, und der Stoff ist zweifellos relevant, das Buch möglicherweise spannend. Aber stilistisch findet sich auf dieser Seite 99 mehr oder weniger gepflegtes Mittelmaß.
Tijan Sila
Radio Sarajevo
Roman
Hanser Berlin 2023 · 172 Seiten · 22 Euro
ISBN: 9783446277267
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