Die Mühen des Fremdseins
Ein Lektüretipp von Sieglinde Geisel
In Wer wir sind erzählt Lena Gorelik ihre eigene Geschichte vom Auswandern. Reflexionen über das Erzählen und die Frage nach der Indiskretion gegenüber der eigenen Familie gehören ebenso zu dieser assoziativen Prosa wie Rückblenden in die elf Kinderjahre, die die Ich-Erzählerin Lena in Sankt Petersburg verbracht hat, bevor die Familie als jüdische Kontingentflüchtlinge nach Deutschland auswanderte und sich mit den Mühen des Fremdseins konfrontiert sah.
Migration ist eine Frage der Sprache. Lena Gorelik bevölkert ihren Roman ganz selbstverständlich mit russischen Wörtern. Das Russische wandert ins Deutsche ein, während wiederum Lena im Roman alles daransetzt, sich das Deutsche zu eigen zu machen.
Die deutsche Sprache habe ich mit den Ohren aufgesaugt, ein Wort nach dem anderen, auf der Zunge gekostet, geschmeckt, gefaltet, abgelegt, zum sorgfältig ausgesuchten Zeitpunkt hervorgeholt wie ein schönes Kleid zu Feiertagen.
Lena Gorelik
Wer wir sind
Roman
Rowohlt Verlag 2021 · 320 Seiten · 22 Euro
ISBN: 978-3-7371-0107-3
Vom Glück der Planlosigkeit
Ein Lektüretipp von Herwig Finkeldey
Der Irrweg von Martin Lechner ist eine expressive Shortstory- und Kurzprosasammlung um den irrlichternden Helden Lars Gehrmann, Sohn einer alkoholkranken Mutter und im Visier des Jugendamts. In einem freiwilligen sozialen Jahr leistet er Dienst in einer psychiatrischen Anstalt. Dort trifft er auf Menschen – Angestellte wie Patienten –, die ihren eigenen Irrweg konsequent verfolgen und anderen auf deren Irrwegen gewissermaßen im Wege stehen.
Zurück in der Schule hält Lars einen Vortrag über seinen Ur-Ur-Ur-Großvater, den eine Hirnverletzung „befreit“ hatte „von sich selbst, von seinem Zwang, Gehorsam zu leisten und die Zukunft zu planen“. Die leistungsorientierte Lehrerin urteilt hart:
„Wie haben wir uns das übrigens vorzustellen, dieses Glück der Planlosigkeit, von dem Sie gesprochen haben? […] Glück, mein lieber Lars, ist Arbeit. Wer sich von jedem Moment herumpusten lässt wie eine Feder, der erreicht nichts, das ist die Wahrheit, gar nichts.“
Was ohne Plan und Ziel durchs Leben wankt und versucht, den Augenblick zu fangen, gilt in der Leistungsgesellschaft als nutzloses Dasein. Martin Lechners Figuren auf ihren Irrwegen sind das beste Gegenargument.
Ein Buch für alle, die sich im Strandkorb verstören lassen möchten.
Martin Lechner
Der Irrweg
Roman
Residenz Verlag 2021 · 272 Seiten · 24 Euro
ISBN: 978-3-7017-1730-9
Skandinavienthriller
Ein Lektüretipp von Frank Heibert
Manchmal braucht es im heißen Sommerurlaub einfach einen Krimi, und wer will dann schon etwas mittelmäßig Geschriebenes oder zu schnell Übersetztes lesen? Soeben bei List erschienen und punktgenau vom Marketing als Skandinavienthriller plaziert: der Roman Alles gehört mir, wie der Titel im norwegischen Original heißt, Alt er mitt; auf Deutsch trägt er den Titel Tiefer Fjord.
Ruth Lillegraven schreibt auch Gedichte, Kinderbücher und Theaterstücke. Der Mix ist perfekt, das Private (eine ausgefranste Ehe, kindliche Traumata) vermengt sich mit dem Politischen (Karrierismus, Korruption, Kampf für das Gute); dazu kommen mehrere Morde und einiges an überraschenden Wendungen. Das wäre Konfektion, wären die Figuren und Stimmungen nicht so plastisch beschrieben.
Nur selten sind die Motive, aus denen jemand etwas tut, ganz eindeutig. Unsere Handlungen werden von dem Wunsch bewegt, etwas Gutes zu tun, die Welt ein wenig zu verbessern, aber auch von dem Wunsch, dass wir selbst etwas davon haben.
A guilty pleasure ohne Schuldgefühle!
Ruth Lillegraven
Tiefer Fjord
Roman
Aus dem Norwegischen von Hinrich Schmidt-Henkel
List Verlag 2021 · 400 Seiten · 16,99 Euro
ISBN: 978-3471-3604-15
Der Kassandra-Effekt
Ein Lektüretipp von Sieglinde Geisel
Deutschland 2050 ist ein hervorragend recherchiertes, packend geschriebenes investigatives Sachbuch. Es liest sich wie eine Dystopie. Man kann mit dem Lesen kaum aufhören, auch wenn man das alles lieber nicht lesen würde. Denn hier ist nichts ausgedacht, im Gegenteil: Die Autoren zeichnen anschaulich nach, was die Wissenschaft prognostiziert.
So hat etwa die Technische Universität Dortmund vor zwei Jahren die Schäden untersucht, die bei Starkregen entstehen – ausgerechnet am Beispiel der Stadt Hagen, die jüngst tatsächlich von der Flutkatastrophe in Nordrhein-Westfalen betroffen war. Die Prognosen waren geradezu unheimlich korrekt: viele Punkte der Stadt mehr als einen oder gar zwei Meter unter Wasser, darunter ein Hauptverteilknoten für das Hagener Telefonnetz, ein Umspannwerk, Krankenhäuser und Altenheime.
So genau konnte man es also wissen, nur mochte es niemand glauben – der Kassandra-Effekt.
Wer verhindern will, dass Deutschland sich noch stärker verändert, als in diesem Buch geschildert, muss sofort mit dem schärfsten Klimaschutz anfangen, den er sich überhaupt vorstellen kann.
Toralf Staud / Nick Reimer
Deutschland 2050
Wie der Klimawandel unser Leben verändern wird
Kiepenheuer & Witsch 2021 · 384 Seiten · 18 Euro
ISBN: 978-3-4622-00068-9
Das Herbarium des deutschen Mannes
Ein Lektüretipp von Hartmut Finkeldey
Ich empfehle Heinrich Manns Untertan, und zwar in der neuen, von Werner Bellmann und Andrea Bartl vorzüglich herausgegebenen und kommentierten Ausgabe bei Reclam. Der Roman selber muss wohl kaum beworben werden; Tucholskys Lob bleibt gültig: “…das Herbarium des deutschen Mannes. Hier ist er ganz: In seiner Sucht, zu befehlen und zu gehorchen, in seiner Rohheit und Religiosität, in seiner Erfolganbeterei und in seiner namenlosen Zivilfeigheit.”
Das Herausgeber-Duo Bellmann und Bartl widmet sich auch den problematischen Aspekten des Romans, etwa einem unterschwelligen Antisemitismus (Napoleon Fischer, Staatsanwalt Jadassohn), den man weder verschweigen noch dramatisieren sollte, und ordnen ihn gerecht ein.
Einer der Höhepunkte des Romans (und eine kleine Spitze gegen den Bruder) ist Heinrich Manns satirische Schilderung von Diederichs und Gustes Opernbesuch. Natürlich wird Lohengrin gegeben.
„Erhebe dich, Genossin meiner Schmach“ meinte Diederich bei passender Gelegenheit selbst schon angewendet zu haben. Er verband Ortrud mit gewissen persönlichen Erinnerungen: ein ganz gemeines Luder, darüber war nichts zu sagen; aber irgendwas regte sich in ihm, wenn sie den Kerl einwickelte und unter sich hatte. Er träumte…
Heinrich Mann
Der Untertan
Roman
Herausgegeben von Werner Bellmann mit einem Nachwort von Andrea Bartl
Reclam Verlag 2021 · 494 Seiten · 36 Euro
ISBN: 978-3-15-011326-4