Amerika gibt es nicht“ heißt meine Lieblingsgeschichte von Peter Bichsel. „Auf jeden Fall erzählen alle dasselbe, und alle erzählen Dinge, die sie vor der Reise schon wussten; und das ist doch sehr verdächtig“, heißt es am Ende dieser Kindergeschichte über ein Land, das der kleine Colombin1 nicht entdeckt hat und Amerigo Vespucci vielleicht auch nicht.

Ich gehöre zu denen, die bis zum 19. Dezember noch nie etwas von Claas Relotius gehört oder gelesen hatten, diesem „Idol einer Generation“ (Ullrich Fichtner), dem „Superstar der deutschen Reportage“ (Juan Moreno). Die tröstliche Nachricht, dass ich damit nicht die einzige bin, verdanke ich Claudius Seidl. Nach einer Umfrage bei Freunden und Bekannten sowie einer Durchsicht seiner Timelines auf Facebook und Twitter kommt Seidl in der FAZ zum Schluss, „dass erstaunlich viele von denen, die sich sehr fürs geistige und politische Leben interessieren, Zeitungen lesen und auf die Namen der Autoren achten, von Claas Relotius noch nie gehört hatten“. Auch bei tell hatte vor seiner Enttarnung niemand von Relotius Notiz genommen. Ich glaube, ich kenne überhaupt niemanden, der ihn kannte, als man ihn noch feierte.

„Claas Relotius ist ein Mensch, den man ins Herz schloss, wenn man ihn kennenlernte. Ich lernte ihn nie kennen“, schreibt sogar Juan Moreno, der ihn hat auffliegen lassen. In der digitalen Welt ist Claas Relotius ein Phantom. Seinen Twitter Account gibt es seit Dezember 2018 (3 Tweets, 145 Followers, Stand 26. 12. 2018). Wenn man auf den Website-Link klickt, landet man auf einem gespenstisch leeren Bildschirm mit diesen rätselhaften Worten:

Der Spiegel-Skandal ist der Aufreger der letzten Woche des Jahres. Doch alle erzählen dasselbe: Die Aufarbeitung (so mustergültig wie Relotius‘ Reportagen einst schienen)! Das Storytelling (Fluch oder Segen?)! Die Dokumentationsabteilung beim „Spiegel“ (gibt es sie überhaupt?)!

„Ich bin krank und ich muss mir jetzt helfen lassen“, zitiert Ullrich Fichtner den ehemaligen Starreporter in seinem Abrechnungsartikel. Das würde jeder Groschenroman-Autor seine Figur an dieser Stelle ebenfalls sagen lassen.

Bei den Figuren in Relotius‘ Reportagen weiß man nie, ob es sie gibt oder nicht. Inzwischen bin ich mir bei ihrem Autor auch nicht mehr so sicher.

[1] “Ich bin ein Trottel, Herr König und heiße Colombo, meine Mutter nennt mich Colombin“, sagt Peter Bichsels Colombin dem König. Als der König ihn später fragt: “Colombin, was willst du werden?”, antwortet Colombin: “Ich will nichts werden, ich bin schon etwas, ich bin Colombin.” Er müsse doch etwas werden, meint der König und als Colombin fragt, was man denn werden könne, meint der König, er könne ein Seefahrer werden, der Länder entdeckt für seinen König. Als Colombin sagt, dass er dann er eben Seefahrer werde, lachen alle. Da rennt der Knabe weg und schreit: “Ich werde ein Land entdecken! Ich werde ein Land entdecken!” Er versteckt sich in den Wäldern, und als der Wochen später zurückkommt, behauptet er, er habe ein Land entdeckt. Der König sagt: “Du bist jetzt ein Mann, von nun ab heißt du Kolumbus.”
(Das ist eine extrem reduzierte Zeitraffer-Version von “Amerika gibt es nicht” aus dem Band Kindergeschichten.)

Beitragsbild:
Bildmontage von Sieglinde Geisel

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Von Sieglinde Geisel

Journalistin, Lektorin, Autorin. Gründerin von tell.

3 Kommentare

  1. Dank Sigi Geisel wissen wir es jetzt: Relotius mitsamt seinen Fälschungen ist eine Fälschung des Herrn Moreno. Moreno möchte dadurch auch einmal berühmt werden, indem Sigi Geisel ihn in Tell enttarnt. Vive Tell! Vivat Sigi!

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  2. Lustig. Den Wikipedia-Eintrag gibts seit dem 19. Dezember, 15:53 …

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  3. Es war und ist nicht die Masche Relotius, sondern die Masche “Der Spiegel”, die Relotius exzellent bediente.
    Auch heute (14.04.2020 in Coronas-Zeiten) wird “Der Spiegel” Autoren suchen und finden, die seiner Masche genauestens entsprechen.
    Also: “Sagen, was sein müsste!” lautet die Devise des Blattes.

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