Dieser Page-99-Test geht auf einen Wunsch von Agnese Franceschini zurück. Der Krimi Olympia von Volker Kutscher ist zur Zeit ihre Abendlektüre. Sie könne danach wunderbar schlafen, und zwar keineswegs, weil das Buch langweilig sei: Der Stil habe etwas angenehm Beruhigendes.

Beruhigend sind Dinge, die unserer Erwartung entsprechen – und die Seite 99 entspricht in der Tat dem, was ich von einem Krimi erwarte.

Ich bin keine große Krimileserin, und doch erkenne ich den Sound sofort wieder:

– Rath kam gleich zur Sache.

– Rath betete die übliche Litanei herunter.

– „Haben Sie einen Moment Zeit?“, fragte Rath, nachdem er sich vorgestellt hatte. Ohne Marke, um kein Aufsehen zu erregen.

Das sind typische Krimi-Sätze. Auch das Inkognito des Ermittlers gehört zum Genre. Es macht uns zu Komplizen, denn wir wissen mehr als die Figuren. Diese Komplizenschaft ist stilbildend: Uns wird ständig zugezwinkert, und genau das macht das Krimi-Lesen so gemütlich, egal, wie ungemütlich die Dinge sind, die uns erzählt werden. Wir sitzen in der ersten Reihe.

Der Mann, dem Rath sich vorgestellt hat, heißt Ehlers. Ehlers bittet den Ermittler um drei Minuten Geduld, dann könne man sich bei einer Zigarette auf der Terrasse besprechen.

„Hört sich nach einem guten Plan an,“ sagte Rath. „Ich spendiere auch die Zigaretten.“

Genauso reden Detektive: Sie machen einen auf vertraulich, während sie im Hinterkopf ihr Gegenüber einschätzen.

Rath tritt auf die Terrasse und lässt den Blick schweifen.

Links säumten die Wohnhäuser der Amerikaner den Weg, gekrönt vom Sternenbanner, das im Abendwind knatterte, direkt vor ihm senkte sich das Gelände zur Dorfaue.

Hier flattert nicht einfach die amerikanische Flagge am Haus, nein, die Häuser werden „gekrönt vom Sternenbanner“. Das ist wohl leicht ironisch gemeint, noch ein Augenzwinkern des Autors.
(Bin ich übrigens die Einzige, die beim knatternden Sternenbanner an Hölderlins „im Winde klirren die Fahnen“ denken muss?)

Von hier aus sah das Treiben da unten aus wie ein Ferienlager.

Die beiden „aus“ in dem Satz sind nicht schön, aber was soll‘s.

Die Südamerikaner mit dem Gitarristen hatten inzwischen ein kleines Lagerfeuer entfacht.

Wenn man die Wörtchen „inzwischen“ und „kleines“ weglässt, geht der Satz so:

Die Südamerikaner mit dem Gitarristen hatten ein Lagerfeuer entfacht.

Das ist weniger harmlos, doch das wäre nicht im Sinne des Erfinders, denn Harmlosigkeit scheint hier Programm:

Da bekam man richtiggehend Lust, Urlaub zu machen.

In diesem Moment betritt Ehlers die Terrasse.

„So, Kommissar, da bin ich.“
„Oberkommissar“, verbesserte Rath und zückt sein Zigarettenetui. Ehlers griff beherzt zu.

Auch das Bestehen auf dem korrekten Rang ist ein Versatzstück der Krimiliteratur (jedenfalls dann, wenn wir es nicht mit einem Privatdetektiv zu tun haben, der dafür sorgen muss, dass die Polizei aus dem Spiel bleibt).

„Das trifft sich gut“, sagte er, „ich habe nech mehr viele.“

Zuerst bin ich gestolpert: Wovon hat er „nech“ mehr viele? Offenbar Zigaretten.

Ich kann dieses „nech“ nicht richtig lokalisieren. Gibt es einen Dialekt, den ich hier wiedererkennen sollte, oder ist das als generische Umgangssprache gemeint und soll diesen Ehlers als hemdsärmligen Typen markieren?

Wie dem auch sei: Von diesem „nech“ kann der Autor in den nächsten Sätzen gar nicht genug kriegen. Auf Raths joviale 0815-Frage: „Anstrengenden Tag gehabt?“ antwortet Ehlers:

„Das nech, aber viele Mitraucher.“ Er lachte. „Die Jungen vom Jugendehrendienst dürfen nech rauchen, wollen aber gerne. Da hilft man gerne mal aus. Außerdem isses nech verkehrt, wenn man bei denen noch was guthat. Die kommen auch öfter mal nach Berlin, anders als unsereiner, der drüben kaserniert ist.“

Jede Literatur muss an ihrem eigenen Anspruch gemessen werden. Wer auf die Axt für das gefrorene Meer in uns hofft, muss andere Bücher lesen.

Gerade deshalb eignet sich das Buch als Einschlaflektüre. Hier sind wir in Sicherheit. Der Autor meint es gut mit uns.

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Von Sieglinde Geisel

Journalistin, Lektorin, Autorin. Gründerin von tell.

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