Den Titel von Zsófia Báns Erzählungsband Weiter atmen darf man als ernstgemeinte Aufforderung verstehen, bei aller souveränen Ironie, über die diese Autorin in reichem Maße verfügt. Der Atem stockt einem bei der Lektüre oft und drastisch.

Atmungsorgan Haut

Bán lässt Gegensätze und Nichtzusammengehöriges so zusammenprallen, dass sich blitzartig die Erkenntnis eines zuvor verborgenen Zusammenhangs einstellt. Sie kombiniert Flüchtlinge und Kinderlose, Zirkusartisten und Sülze, Ausländerhass und Rock’n-Roll-Seligkeit sowie – in der ersten, programmatischen Erzählung – Frösche und Menschen. Die einen, so heißt es in „Hautatmung“, lebten im Wasser und an Land, die anderen in Vergangenheit und Gegenwart. Beide seien also Amphibien, deren Atmungsorgan Haut nicht mit Fett eingerieben werden sollte, weil sie sonst ersticken: die Tiere an Mangel an Luft, die Menschen an Mangel an Erinnerung und damit Bewusstsein.

Die Haut sei also für beide lebenswichtig. Doch den Menschen, und hier endet die Analogie ein wenig kippelnd, trenne die Haut bzw. der Vorhang zwischen den Zeiten von der Vergangenheit. Daher, so Bán, brauche es Werkzeuge, um wieder an den Punkt zu gelangen, „wo die Zeit, die Erinnerung, die Haut, die Wunde aufreißt und das Herz bricht“.

Das emotionale Unterfutter

Báns Werkzeuge sind ästhetischer Art. In „Die Voyager-Goldplatte“ reist ein Ungar in den besten Jahren sehnsüchtig zu seiner Jugendgeliebten in Rio. Die Brasilianerin hat sich unübersehbar von ihm entfernt, doch ihre geistig behinderte Schwester ermöglicht den Sprung über drei Jahrzehnte hinweg. Als sie den Namen des damals geliebten Hundes sowie zwei ungarische Wörter ausspricht, mit denen sich die drei einst gemeinsam vergnügten, ist das „Gewebe des Nachmittags“ (die Haut der ersten Erzählung) mit einem Mal „aufgeschlitzt“, und heraus quillt das emotionale Unterfutter der verlorenen Zeit: die miteinander verflochtenen Gefühle von Liebe und Zuneigung, Eros, Zärtlichkeit und Fürsorge.

Glück ohne Schrecken wird bei Bán nur Menschen mit Einschränkungen zuteil: Das geistig behinderte Romakind Robika braucht jeden Tag unbedingt ein neues Stück Seife, um darin seine Finger vergraben zu können. Eine Hure freut sich im Krankenzimmer kindisch über ihre eben vergrößerte Brust – vor zwei an Brustkrebs erkrankten Frauen. Eine zackige Kleinbürgerin schaltet allabendlich das Licht ihres gewaltigen Aquariums ein und so die unangenehme Außenwelt vollkommen aus. Sie alle glauben an das „Es-war-so-und-so-Märchen, immer gleich, immer unbeirrbar, mit dem immer gleichen kühlen Ende“.

Avancierte Konstruktionen

Mit solchen Brüchen, Fragmenten und Ungleichzeitigkeiten dürfte die 1957 in Rio de Janeiro geborene Zsófia Bán vertraut sein: Sie ist in Brasilien und Ungarn aufgewachsen und hat einige Jahre in den USA verbracht, heute lebt sie als Anglistik-Professorin und Literaturkritikerin in Budapest. Überzeugend sind ihre Geschichten immer dann, wenn sie an Denkbilder erinnern und zum Denken anregen. Wenn die zentralen Gedanken dagegen allzu deutlich hervortreten wie etwa in der Erzählung über den in jungen Jahren spurlos verschwundenen Arthur Rimbaud, verlieren die Geschichten ihre reizvoll irritierende Doppelgesichtigkeit.

Diese Doppelgesichtigkeit entsteht durch die intellektuelle Freude an erzählerisch avancierten Konstruktionen: mit der Unmittelbarkeit des Beginns, der Schärfe der Zuspitzungen oder der Häufigkeit der Reflektionen, die die Handlung einfrieren. Oft ist es die Montage von zwei Erzählebenen, manchmal der Bezug auf frühe Fotografien, die in unscharfem Schwarzweiß seltsam anmutende Menschen zeigen. All das kommt mit existenzieller Dringlichkeit und Hitchcock-ähnlichem Suspense daher. Zsófia Bán schenkt emotionale wie rationale Intimität, und Terézia Mora hat beides in ein kraftvoll federndes Deutsch übertragen.

Zorn und Trauer über Ungarn

Der Eindruck einer hochreflektierten Emotionalität ergibt sich auch, weil die Autorin ihren Zorn und ihre Trauer über Ungarn unter Victor Orbán nicht verleugnet. Bereits auf der dritten Seite des Bandes ist die Rede vom „Land, das scheinbar dasselbe ist“ wie früher. Dann kommen Gewalt und Hass gegen Ausländer, Juden, Bettler, Sinti und Roma zur Sprache. Zsófia Bán schildert voller Sympathie und Wehmut Fünfzig- und Sechzigjährige, die auf einem Konzert der Rolling Stones ihre Jugend suchen – und lässt alle Ironie fahren, wenn sich ein ehemaliger Klassenkamerad als Hetzer betätigt. Auch diese Erzählung gehört wegen der vordergründigen politischen Kritik zu den wenigen schwächeren in Weiter atmen. Die meisten sind schlichtweg atemberaubend.

Bildnachweis:
Beitragsbild: Luca Severin: Budapest
via Unsplash

Zsófia Bán
weiter atmen
Erzählungen
Aus dem Ungarischen von Térezia Mora
Suhrkamp 2020 · 173 Seiten · 22 Euro
ISBN: 978-3518429099

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Von Jörg Plath

Jörg Plath ist Kritiker und Literaturredakteur bei Deutschlandfunk Kultur. (Foto: © Fotostudio gezett)

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