Pandemiebedingt feierte das Online-Magazin Geschichte der Gegenwart (GdG) seinen fünften Geburtstag in der vergangenen Woche nicht mit einem Cüpli in Zürich, sondern auf Zoom. Das hatte den Vorteil, dass ich der Einladung im Newsletter auch von Berlin aus folgen konnte. Wie viele Leser:innen dabei waren? Ich habe nicht nachgezählt, auf meinem iPad waren es jedenfalls mehr als drei volle Bildschirmladungen mit Zoom-Kacheln.
Zwei Mal pro Woche veröffentlicht GdG einen Text von etwa 10 000 Zeichen Länge. Das Format: „der lesbare, aber durchaus anspruchsvolle, gut argumentierende Text auf begrenztem Raum“ (Svenja Goltermann im Geburtstagsinterview auf GdG), „ohne Fachjargon und Fußnoten, aber mit dem Anspruch, zum Weiterdenken anzuregen“ (Brigitta Bernet ebd.).
Gegen autokratische Tendenzen
GdG ist ein Kind unserer Zeit: Das Internet hat das Online-Magazin möglich gemacht, nötig wiederum wurde es wegen der Verschiebung des Overton-Fensters nach rechts. GdG will „den populistischen, illiberalen und autokratischen Tendenzen“ in den Debatten unserer Zeit etwas entgegensetzen.
Damit ist GdG nicht allein, das wollen auch Medien wie Perspective Daily oder die Republik. Was GdG von anderen Neugründungen der letzten Jahre unterscheidet, ist die Tatsache, dass sie aus der Wissenschaft kommt. Gegründet wurde die Plattform von fünf Geisteswissenschaftlern und -innen der Universität Zürich, heute umfasst die Redaktion zehn Männer und Frauen in Zürich, Berlin, Halle und Tel Aviv.
„Wir sind etwas Drittes“
Wissenschaftler:innen übernehmen damit die Rolle von Public Intellectuals. Zwei Aussagen an der Zoom-Geburtstagsfeier waren für mich in diesem Zusammenhang zentral:
- Durch GdG habe er die Erfahrung gemacht, dass seiner Forschung eine Relevanz außerhalb der Sphäre der Universität zukomme, sagte Janosch Steuwer, Historiker an der Martin-Luther-Universität Wittenberg-Halle. Dies habe sein Arbeiten und Denken auch innerhalb der Universität verändert.
- GdG sei kein Konkurrenzprodukt, so Gesine Krüger, Professorin für Geschichte der Neuzeit und Außereuropäische Geschichte an der Universität Zürich. Weder gegenüber der Wissenschaft noch gegenüber dem Journalismus sehe man sich in einem Wettbewerb. „Wir sind etwas Drittes.“
Klarheit als Kriterium
Dieses Dritte befindet sich an der Schnittstelle zwischen Wissenschaft und anspruchsvoller Öffentlichkeit – eine Zone, die im deutschen Sprachraum bisher brach lag.
Für mich ist GdG daher auch ein sprachliches Ereignis. Die Toleranz der Geisteswissenschaften gegenüber dem Jargon in den eigenen Reihen habe ich nie verstanden. Schon Arthur Schopenhauer hatte sich über das Geschwurbel aufgeregt. Er beklagte „das Verstecken der bittersten Gedankenarmuth unter ein unermüdliches, klappermühlenhaftes, betäubendes Gesaalbader“ und stellte fest: „Es ist nichts leichter, als so zu schreiben, daß kein Mensch es versteht; wie hingegen nichts schwerer, als bedeutende Gedanken so auszudrücken, daß Jeder sie verstehen muß.“
Auf GdG sind Klarheit und Verständlichkeit ein Kriterium für die Qualität der Texte. Es wäre zu hoffen, dass dies in die Geisteswissenschaften zurückwirkt. Denn der Jargon beschädigt nicht nur die Wissenschaft: Der Nimbus einer undurchdringlichen Komplexität trägt zu Entfremdungserscheinungen bei, aus denen die Rechtspopulisten Kapital schlagen.
Greta Thunberg hat den Zusammenhang von Demokratie und Wissenschaft mit der ihr eigenen Klarheit formuliert:
Zwischen Journalismus und Akademie
In der Pandemie wie beim Klimawandel hängt das Leben von Menschen von der Umsetzung wissenschaftlicher Erkenntnisse ab. Dass die Wissenschaft sogar unter diesen Bedingungen um die Autorität des Faktischen kämpfen muss, ist ein Alarmzeichen für ihr Verhältnis zur Öffentlichkeit.
Dabei geschieht der wissenschaftlichen Integrität kein Abbruch, wenn wissenschaftliche Erkenntnis mit Worten transportiert wird, „die in die lebendige Sprache Eingang gefunden haben“ (Ossip Mandelstam). Bisher ist GdG denn auch nicht mit dem Vorwurf mangelnder Wissenschaftlichkeit konfrontiert worden, so Philip Sarasin auf eine diesbezügliche Frage beim Geburtstagszoom.
Mit verständlichen Texten, die von wissenschaftlicher Arbeit gespeist werden, hat GdG in den letzten fünf Jahren zu einem eigenen Ton gefunden. Drei zufällig ausgewählte Beispiele:
- Die Historikerin Inka Sauter (Jerusalem) unternimmt in ihrem Text über das Wort „Volkstum“ eine Tiefenschürfung in die Sprachdebatten des 19. Jahrhunderts, als das Wort „Volk“ im Zuge des aufkommenden Nationalbewusstseins seine Bedeutung änderte.
- In ihrem Essay „Der Milizionär kommt ins Spiel“ zeigt die Slawistikprofessorin Sylvia Sasse (Zürich), wie Pussy Riot mit ihren Aktionen eine subversive Tradition der politischen Dissidenz aus Sowjetzeiten fortführen.
- Der Geschichtsprofessor Christian Geulen (Konstanz) geht in seinem Text „Rassismus ohne ‚Rassen‘“ der Frage nach, ob man mit der Tilgung des Begriffs Rasse den Rassismus besiegen könne.
Ein Modell für den Dialog
Die Öffentlichkeit befindet sich in einem Strukturwandel, und das ist gut so: Wir brauchen dieses Dritte zwischen Journalismus und Akademie heute dringender denn je. GdG hat ein Modell für den Dialog der Geisteswissenschaften mit der Öffentlkichkeit geschaffen. Forscher:innen, deren Arbeit auch jenseits des Elfenbeinturms relevant ist, gibt es an jeder Universität (sonst hätte sie ein Legitimationsproblem). Daher müsste es eigentlich an jeder Universität ein solches Magazin geben.
Damit der Dialog der Wissenschaft mit der Öffentlichkeit vom Ausnahme- zum Normalfall werden kann, müssten allerdings finanzielle Strukturen geschaffen werden. Bisher ist GdG (wie tell) ein professionelles Freizeitprojekt, das vom Enthusiasmus seiner Macher:innen lebt.
P.S.: Wer mich kennt, wird sich über den Gender-Doppelpunkt wundern. Ich habe ihn von GdG übernommen, als kleine Reverenz. Glücklich bin ich damit nicht – wie mit allen anderen Operationen im Wortinneren. Die einzig erträgliche Form des Genderns ist für mich der Wechsel zwischen der weiblichen und der männlichen Form. Doch bei diesem Text hätte dieses sprachschonende Verfahren entweder zu Missverständnissen geführt oder mich zu inhaltlich überflüssigem Kopfzerbrechen genötigt.
Nur: Nicht Gendern ist auch keine Lösung.