Literatur kann eine Deutungsinstanz sein. Kein Wunder sind derzeit Romane über Flüchtlinge gefragt. Abbas Khiders Roman „Ohrfeige“ erzählt von Flüchtlingen, doch nicht von jenen, die uns heute beschäftigen, sondern von den Irakern, die Anfangs des Jahrtausends vor Saddam Hussein geflohen sind, wie übrigens auch Abbas Khider selbst, der mit 19 Jahren erstmals verhaftet worden war, 1996 nach Jordanien und Libyen entkommen konnte und seit 2004 in Deutschland lebt. Nach eigenen Angaben hat Khider mit dem Roman bereits vor vier Jahren begonnen, die heutige Situation konnte er nicht voraussehen. Die Probleme von Geflüchteten, die in Deutschland Asyl suchen, sind die gleichen geblieben, könnte man sagen. Trotzdem haben die Flüchtlinge von heute andere Probleme.
„Sie, Frau Schulz, gehören zu jenen, die hier darüber entscheiden, auf welche Weise ich existieren darf oder nicht“, sagt Karim, allerdings nur in seiner Fantasie. Die Ohrfeige, die der deutschen Bürokratie gilt, soll stellvertretend Frau Schulz verabreicht werden, in Form der Geschichte, die sie sich nun anhören muss, wehrlos, denn in seinem Tagtraum hat Karim die Sachbearbeiterin in ihrem Amtszimmer an den Drehstuhl gefesselt und geknebelt.
Spannung und Tiefe ergeben sich aus dem Wie des Erzählens, nicht dem Was, deshalb garantiert ein aktueller Stoff nicht, dass die Geschichte tatsächlich zündet. Es beginnt schon damit, dass wir die herbeigeträumte Frau Schulz sofort wieder vergessen. Statt eines anklagenden Monologs lesen wir eine ganz normale Erzählung, und jedes Mal, wenn ein „liebe Frau Schulz“ eingestreut ist, erschrickt man kurz.
Die Langweile beim Lesen hat allerdings verschiedene Gründe. So plätschert Roman über weite Strecken als durchschnittliche Sozialreportage vor sich hin: „In der Gegend des Münchner Hauptbahnhofs gibt es viele ausländische Supermärkte, Cafés, Imbisse, Restaurants, kleinere Lebensmittelgeschäfte und ebenfalls zahllose Verein verschiedener Volksgruppen. Da sind die Kurden, Turkmenen, Christen, schiitische und sunnitische Muslime“ etc.
Verunglückte Metaphern und eine unbeholfene Ironie verhindern, dass man sich auf den Text einlässt. Karim will nach Finnland, doch was ihn dort erwartet, weiß er noch nicht: „Meine Beziehungen zu den dortigen Ämtern sind ja noch ganz jungfräulich“ – als gäbe es hier etwas zu entjungfern.
Die größte Schwäche des Texts allerdings besteht darin, dass Khider nicht erzählt. Er nennt, behauptet, erwähnt, doch wir erleben dabei nichts. Ein Ausruf wie „Wir sind komplett ausgeliefert!“ bleibt leer. Show, don’t tell!, möchte man dem Autor auf jeder Seite zurufen. Zumal er es könnte, denn ab und zu blitzen Sätze auf, die die Tür zum Erzählen aufstoßen könnten:
Es geschah viel in dieser Zeit, aber nichts, worauf ich stolz bin.
Das sagt Karim Menzy über jene drei Jahre und vier Monate, die er als Flüchtling in Deutschland verbracht hat. Ein Satz, der in seine Seele führen könnte, ebenso wie dieser hier:
Was bedeutet es für mich, wenn ich weder in der Heimat noch in der Fremde leben darf? Frau Schulz?
Was bedeutet es, wenn einem die Existenz verweigert wird? Wie fühlt sich einer, der aus der menschlichen Gesellschaft ausgeschlossen wird?
Kommen wir zu der politischen Dimension dieses Romans. „Vermutlich wäre mir nie im Leben der Gedanke gekommen, mein Land zu verlassen, wenn diese elenden Brüste nicht aufgetaucht wären.“ Beim plastischen Chirurgen erfährt Karim, dass er an Gynäkomastie leidet. Den Behörden darf er von seinen Brüsten nichts erzählen, denn „der Traum, ein normaler Mann zu werden“, ist kein Asylgrund. Stattdessen muss Karim sich „eine Story basteln, die den gesetzlichen Anforderungen entspricht“.
Wir begegnen in diesem Roman ausschließlich jenen Flüchtlingen, die man in manchen Kreisen als „Scheinasylanten“ bezeichnet. Karim ist wegen seinen Brüsten abgehauen, Salim wegen dem eigenen Vater.
Es ist doch absurd, dass man erst ernsthaft verfolgt und gefoltert werden muss, um ein Recht auf Asyl zu erhalten
empört sich einer.
Angesichts der derzeitigen Debatten könnten sich solche Sätze in eine Ohrfeige für die Flüchtlinge verwandeln. Eigentlich müsste dieser Satz die Frage nach sich ziehen, was es bedeutet, dass wir Westler überall hin dürfen, ohne einen Asylantrag stellen zu müssen, andere Menschen aber nicht. Hier könnte ein Gespräch unserer Gesellschaft mit sich selbst beginnen, doch der Roman lädt nicht dazu ein. Den Figuren fehlt es an Tiefe, dem Roman an gedanklicher Schärfe.
Ohrfeige
Roman
Hanser-Verlag, 2016 · 220 Seiten · 19,90 Euro
ISBN-13: 978-3446250543
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