Dieses Interview von Sieglinde Geisel mit Zoltán Danyi erschien ursprünglich in der Beilage „Bilder und Zeiten“ im e-paper der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 6. Januar 2024.
Rosenroman ist Zoltán Danyis zweiter Roman und spielt in seiner Heimat, der Vojvodina. Der namenlose Protagonist arbeitet als Rosenzüchter im Geschäft seines Vaters. In dem Roman geht es um den Alltag des Rosenanbaus, die Unmöglichkeit der Liebe und um den Peniskrebs des Protagonisten. Immer wieder drängt sich der Krieg in seine Erinnerungen.
tell: Rosenroman handelt von Rosen. Sie sind selbst Rosenzüchter. Wann haben Sie angefangen, Rosen zu züchten?
Zoltán Danyi: Das war nicht ich, sondern meine Eltern. Sie begannen, Rosen zu züchten, als ich sehr klein war, vielleicht ein Jahr. Ich war oft dabei, wenn sie mit den Rosen arbeiteten. Zuerst waren die Rosen größer als ich, dann wurde ich größer. Wenn ich heute mit den Rosen arbeite, muss ich mich hinknien, mich zwischen sie hocken, und so sind sie wieder größer als ich.
Es ist nicht nur ein Hobby, Sie sind ein professioneller Rosenzüchter.
Das bin ich, obwohl ich mich selbst nicht so sehe. Es ist ein Teil von mir geworden. Rosenzüchten ist eine schwierige Arbeit, körperlich anstrengend, aber ich würde es sehr vermissen, wenn es aus meinem Leben verschwinden würde. Derzeit ist die Situation problematisch: Die Produktionskosten sind gestiegen, aber der Verkaufspreis hat sich nicht geändert. Wenn man überleben will, muss man große Mengen produzieren. Aber ich ziehe es vor, ein kleiner Produzent zu bleiben.
In Ihrem Roman beschreiben Sie das Rosenzüchten als einen gewalttätigen Prozess, es kommt einer Kolonisierung der Pflanze gleich.
Das ist es auch.
Wann wurde Ihnen dieser Aspekt der Gewalt bewusst?
Beim Schreiben des Romans. In meinem ersten Roman „Der Kadaverräumer“ habe ich über den Krieg geschrieben, und nachdem ich über das verdammte Geschäft des Krieges geschrieben hatte, wollte ich über etwas anderes schreiben. Tatsächlich war es keine Frage der Wahl, ich spürte, dass ich über Rosen schreiben muss. Dann stellte sich heraus, dass das Schreiben über Rosen sehr nah am Schreiben über den Krieg ist. Beim Schreiben interessierte mich nicht die Symbolbedeutungen und das kulturelle Erbe der Rosen. Ich wollte so tief wie möglich herausfinden: Was ist eine Rose? Ich ging immer tiefer, ich wollte über Rosen schreiben, wie es noch niemand zuvor getan hat. Schließlich erkannte ich, dass das, was in den Kolonien geschah, mit den Rosen verbunden ist.
Sie haben sieben Jahre an „Rosenroman“ geschrieben.
Die ersten beiden Jahre folgte ein Scheitern dem andern, sechs oder sieben Mal gab ich nach dreißig, vierzig Seiten auf. Aber ich fing immer wieder an, als gäbe es etwas, das stärker ist als ich und mich vorantreibt. Heute würde ich sagen, es waren die Rosen. Sie waren stärker als ich.
Wie sind Sie beim Schreiben vorgegangen?
Ich machte Schreibübungen, Improvisationen, wie in der Musik. Ich spielte mit Rhythmus und Stil, aber auch mit Figuren und Motiven. Die Schwierigkeit bestand darin, dass ich über Rosen schreiben musste, doch diese waren mir zu nah. Ich wollte nicht über mich schreiben, ich wollte einen Roman schreiben. Dann entdeckte ich einige Gedanken, die mir in diesem Prozess halfen. Ein Gedanke war zum Beispiel, dass ich nicht danach suchte, wie ich die Realität beschreiben konnte, im Gegenteil: Ich suchte nach einer Möglichkeit, das, was geschehen war, gerade nicht zu beschreiben. Dieser Gedanke befreite mich. Ein anderes Leitprinzip bestand darin, dass ich über alles schreiben kann, aber immer mit einem papierdünnen Abstand zwischen der Realität und dem Roman. Nachdem ich diese Regeln gefunden hatte, begann das Schreiben zu fließen. Und dann sah ich, dass ich gar nicht alles wegwerfen musste, was ich zuvor geschrieben hatte. Einige Figuren aus meinen frühesten Versuchen tauchten in der Geschichte wieder auf, manchmal erst sechs oder sieben Jahre später.
Alles scheint von Anfang an da gewesen zu sein. Wie bei einer Pflanze: Das Samenkorn enthält die ganze Pflanze. Doch wenn man den Samen hat, gibt es keine Möglichkeit zu wissen, was daraus wachsen wird.
Hatten Sie solche Regeln auch beim Schreiben von „Der Kadaverräumer“?
Nein. Bei meinem ersten Roman war es die Energie der Sprache, die Energie der „Kampfsätze“, wie ich sie nannte, die mich vorantrieb. Aber das Verhältnis von Fiktion und Wirklichkeit ist in beiden Romanen etwa gleich, und das gilt für alle Romane, die ich kenne: Es ist etwa 40 zu 60 Prozent. Es funktioniert auch umgekehrt: Der Anteil von Fiktion in der sogenannten Wirklichkeit beträgt ebenfalls etwa 40 Prozent.
Wie haben Sie ihren Protagonisten gefunden?
Ich erinnere mich an dem Moment, als ich den ersten Satz des Romans in einem meiner Notizbücher fand. Ich hatte ihn einige Wochen zuvor geschrieben, ohne zu wissen, dass er ein guter Anfangssatz war.
Der erste Satz lautet: „Ich stand am Fenster und wartete, dass die Sonne unterging, denn das war die Regel, und wenn ich nicht wollte, dass etwas Schlimmes geschah, musste ich warten, bis sie untergegangen war.“
Es beginnt mit einem ganz normalen, geradezu banalen Satz, doch dann geschieht etwas. Der Satz scheint einen Riss zu haben, damit wurde er für mich interessant. Und dann auch die Sprache, die ich dahinter spürte, ihre ungewöhnlich Musikalität.
Sie hatten diesen ersten Satz. Was geschah dann?
Ich bemerkte, dass all meine Schreib-Improvisationen in die gleiche Richtung gingen: Ich kam ständig zum physischen Aspekt zurück, versuchte immer wieder, die körperliche Arbeit mit den Rosen zu beschreiben. Nun begann ich, bewusst darüber zu schreiben. Ich beschrieb die Werkzeuge, die wir verwenden, und es sind lauter scharfe Werkzeuge: Messer, Scheren, Spaten, Gartenschere und die Fräse, eine brutale Maschine mit rotierenden Klingen. Diese Werkzeuge führten dazu, dass ich über den Körper schrieb, und so kamen die Operationen in die Geschichte.
Der Protagonist hat Peniskrebs, Sie beschreiben die Operationen sehr detailliert.
Das war keine frühe Entscheidung. Zuerst habe ich die physische Arbeit und die scharfen Werkzeuge beschrieben, die man beim Rosenzüchten verwendet. Dann bemerkte ich, dass ich nicht mehr über Rosen schrieb, sondern über den Körper, es ging um das Aufschneiden eines lebendigen Körpers, und das entspricht einer Operation. Ich erkannte, dass ich über Rosen nur aus der Perspektive der Chirurgie schreiben kann und über Chirurgie aus der Perspektive der Rosen. Diese beiden Ebenen begannen miteinander zu interagieren, und so kam der Krieg als dritte Ebene in den Roman: durch diese scharfen Instrumente und durch die Eingriffe, die mit ihnen vollzogen wurden.
Sie wollten nicht über den Krieg schreiben…
Ich wollte so tief in das Thema der Rosen eindringen, wie ich konnte, und ich musste akzeptieren, dass der Krieg in diesem Motiv enthalten war.
Peniskrebs ist eine sehr ungewöhnliche Krankheit.
Auch das hat mit den Rosen zu tun. Wenn wir an eine Rose denken, kommt uns als erstes die Blüte in den Sinn. Es ist das, was wir lieben, was wir sehen und riechen möchten, wir kümmern uns nicht um die Blätter, die Dornen, die Zweige. Und die Blüte ist das Geschlechtsorgan der Pflanze.
In „Der Kadaverräumer“ hatte der Protagonist ebenfalls Probleme mit dem Wasserlassen. In „Rosenroman“ beschreiben Sie diese Schwierigkeiten so detailliert, dass ich sie auch als Frau nachempfinden kann.
Als ich in „Der Kadaverräumer“ über den Krieg schrieb, kam unsere körperliche Existenz in den Fokus. Im Krieg geht es um den Körper des Feinds: Man will den Körper des Feinds zerstören. Man interessiert sich nicht für das, was er denkt, was er fühlt. Im Krieg sind wir nichts als Körper.
Der Protagonist von „Rosenroman“ ging nicht in den Krieg, sein Vater hat ihn herausgekauft. Auch Sie haben im Jugoslawienkrieg nicht gekämpft.
Das ist näher bei meiner eigenen Situation als der Fall des Protagonisten von „Der Kadaverräumer“, der Soldat war und der möglicherweise Kriegsverbrechen begangen hat. Aber auch mit diesem Protagonisten konnte ich mich bestens identifizieren. Die Möglichkeit, ein Mörder zu werden und die Möglichkeit, ein Opfer zu werden, ist in allen von uns angelegt. Oder in fast allen.
Der Protagonist in „Der Kadaverräumer“ ist traumatisiert, weil er im Krieg gekämpft hat. In „Rosenroman“ ist der Protagonist traumatisiert, weil er nicht in den Krieg gezogen ist.
Es ist das Gegenteil, und es ist genauso verheerend. Wenn Sie sich nicht selbst belügen wollen über das, was im Krieg geschehen ist, müssen Sie erkennen, dass Ihr Leben durch ihn zerstört wurde. Auch wenn Sie nicht traumatisiert sind, wird er Ihr Leben für immer beeinflussen.
Obwohl in „Rosenroman“ nicht viel geschieht, konnte ich kaum aufhören zu lesen, ich wurde von der Musikalität der Sprache mitgezogen.
Für mich geht es beim Schreiben nur um Sprache. Der Gegenstand ist nicht so wichtig, auch dann, wenn er wichtig ist. Das ist der erste Teil meiner Antwort. Der zweite Teil: Vielleicht gibt es keine Themen, sondern nur Sprache und Musik. Wenn ich eine Geschichte zu erzählen beginne, weiß ich nicht genau, wovon sie handeln wird. Worüber ich sprechen will, weiß ich erst, wenn ich die Sprache dafür gefunden habe. Terézia Mora hat diese Musikalität kongenial übersetzt.
Schreiben Sie gerne?
Ich schreibe gerne, obwohl Schreiben Leiden bedeutet und ich nicht gerne leide. Aber ich spüre immer, dass es eine Lösung gibt, und das lässt mich weitermachen, trotz des Scheiterns. Es ist wie bei einer Schatzsuche: Man weiß, der Schatz ist da, man muss ihn nur finden. Ich habe immer das Gefühl, ich werde in diesem Prozess etwas entdecken, was ich sonst nie herausgefunden hätte. Zum Beispiel die Parallele zwischen den Rosen und den Kolonien. Es ist wie Grundlagenforschung.
Warum geht der Charakter im Roman nach Brüssel?
Das erschien ebenfalls in meinen Improvisationen. Meine Intuition sagte mir: Hier könnte etwas sein, gehe weiter in diese Richtung und schaue, was du findest.
In den Augen des Protagonisten verwandeln sich die goldenen Ornamente an den Stadtvillen in Brüssel in Blutflecken, eine Metapher für das Blut der kolonisierten Afrikaner, die für dieses Gold ausgebeutet wurden.
Ich glaube, das ist der Grund dafür, dass ich in diese Richtung gehen musste. In meinen Schreibübungen begann ich, über die Kolonien zu schreiben, und ich war mir nicht sicher, worum es dabei ging. Als mein Charakter diesen Farbwechsel an den Gebäuden sieht, erschrickt er nicht, im Gegenteil. Er sagt: „Hier bin ich zuhause, das ist etwas Vertrautes. Es ist das, was mich mit Brüssel, mit Westeuropa und den Kolonisatoren verbindet.“ Es ist das gleiche Blut, das im Krieg in seiner Heimat vergossen wurde, und das führt zu einer Verschiebung in seinem Denken. Vielleicht sollten wir unsere gemeinsame europäische Identität in dem Blut begründen, das wir vergossen haben.
Der Jugoslawienkrieg liegt beinahe dreißig Jahre zurück. Hat sich in Serbien etwas geändert?
Der offizielle Umgang mit dem, was geschehen ist, hat sich in Serbien nicht geändert, das ist traurig, tragisch und gefährlich. Denn solange wir uns nicht mit dem auseinandersetzen, was wir getan haben, werden wir es nicht hinter uns lassen können. Mehr noch: Was vor dreißig Jahren in Jugoslawien passierte, war der Beginn von etwas in Europa, von dem wir dachten, es würde nie wieder geschehen. Alles, was jetzt geschieht, hat in Jugoslawien begonnen.
Warum?
Der Geist des Kriegs wurde wieder aus der Flasche gelassen. Der Jugoslawienkrieg zeigte, dass der Weg des Kriegs wieder ein Weg sein kann, Dinge zu lösen. Das kam nach dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr in Frage.
Sie denken, Putin hätte die Ukraine nicht angegriffen ohne den Jugoslawienkrieg?
Wahrscheinlich nicht.
Sie sind derzeit Stadtschreiber in Zug. Die Schweiz hatte keinen Krieg mehr seit 1848. Wie fühlt es sich für Sie an, hier zu sein?
Am Anfang war es seltsam. Einige Tage lang fühlte es sich an, als wäre ich im Gefängnis. In einem schönen, komfortablen, angenehmen Gefängnis, aber trotzdem ein Gefängnis. Ich wusste nicht, warum ich mich so fühlte. Dann bekam ich den Rat, im Zugersee schwimmen zu gehen. Anfang Oktober war das Wasser ziemlich kalt, aber das Wetter war schön, die Sonne schien auf die Berge wie in einem Gemälde, und als ich im kalten Wasser schwamm, fühlte ich mich zum ersten Mal seit meiner Ankunft wohl.
Ein paar Wochen später zeigte mir Ilma Rakusa die Zürcher Altstadt. In einer hübschen Gasse sah ich ein altes Geschäft mit Holzläden, und für einem Moment hatte ich das Gefühl, diesen Ort zu kennen. Es erinnerte mich an einen alten Laden in meiner Heimatstadt, eine Kindheitserinnerung, da war ich etwa sechs Jahre alt. Es war viele Jahre vor dem Krieg, und das ist entscheidend: Zu jener Zeit war es undenkbar, dass uns so etwas wie ein Krieg geschehen könnte. Ich bin in einem schönen Land aufgewachsen, in einer schönen Stadt, einem schönen Ort wie Zürich. Ich schätze mich sehr glücklich, diese Erfahrung gemacht zu haben, dass es Zeiten gab, in denen Krieg undenkbar war.
Wie werden Ihre Bücher in Serbien aufgenommen?
In Serbien existieren meine Bücher nicht. Ich hätte einen guten Übersetzer, aber meine Bücher sind nicht auf Serbisch übersetzt, auch in keine andere Sprache des ehemaligen Jugoslawiens. Mir wurde gesagt, es gebe in Belgrad das Gerücht, „Der Kadaverräumer“ sei ein anti-serbisches Buch, und das sei einer der Gründe, warum niemand es verlegen wolle.
Ihre Bücher könnten in Serbien Teil der Auseinandersetzung mit dem Krieg sein.
Vielleicht ist dies der Grund dafür, dass sie nicht übersetzt werden. Sich diesen Dingen zu stellen, ist unangenehm und schwierig. Aber darin könnte so viel Kraft liegen. Was für ein großartiges Leben könnten wir führen, wenn alle sich der Realität stellen würden.
Auf tell ist bereits ein Interview zu Zoltán Danyis erstem auf Deutsch übersetzten Roman Der Kadaverräumer (Suhrkamp 2019) erschienen: „Da der Krieg nun einmal geschehen ist, muss ich ihn lieben.“
Bildnachweis:
Beitragsbild: Zoltán Danyi in seinem Rosenfeld (Gergely Túry)
Angaben zum Buch
Zoltán Danyi
Rosenroman
Roman
Aus dem Ungarischen von Terézia Mora
Suhrkamp 2023 · 441 Seiten · 26 Euro
ISBN: 978-3518431306
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Zoltán Danyi
Rosenroman
Roman
Aus dem Ungarischen von Terézia Mora
Suhrkamp 2023 · 441 Seiten · 26 Euro
ISBN: 978-3518431306