Das hundertjährige Jubiläum der Veröffentlichung von Thomas Manns Roman Der Zauberberg nimmt der Lektor und Literaturwissenschaftler Thomas Sparr zum Anlass, ein ebenso kurzes wie kurzweiliges Buch zu schreiben. Grundlage war ein Vortrag, den Sparr im Februar 2024 in Davos gehalten hatte: einmal vor Schülern und einmal abends vor einem älteren, anspruchsvollen Publikum. Das Lebensalter des jeweiligen Publikums spiegle die beiden Lebensalter wider, in denen er selbst den Zauberberg gelesen hatte, so Sparr. Die beiden Lesungen vor den unterschiedlichen Generationen sei daher eine „Selbstbegegnung“ gewesen – ein Gedanke, der Thomas Mann sicher gefallen hätte.
Der Zufall des ABC
Strukturprinzip von Sparrs Text ist das Alphabet. Von A wie „Ankunft“ bis Z wie „Zauberberge“ findet der Autor zu jedem Buchstaben ein Stichwort, das mit dem Roman korrespondiert.
Die Reihenfolge der Beiträge sind dem Zufall des ABC geschuldet, manche sind länger, andere eher kurz. Es versteht sich von selbst, dass manche Buchstaben anders oder auch mehrfach zu vergeben gewesen wären.
Der „Zufall des ABC“ weist schon auf das geheime Grundmotiv von Sparrs Buch hin. Denn durch diesen Zufall werden alle dargestellten Motive gleich gewichtet. Sie sind gleich wichtig und gleich viel wert, trotz ihrer Unterschiedlichkeit. Das ist das demokratische Prinzip: Wir sind nicht gleich, aber wir sind gleich viel wert und haben gleiche Rechte. Und genau so nennt Sparr, unter Bezugnahme auf Helmut Jendreieks Thomas-Mann-Studie von 1977, den Zauberberg einen „demokratischen Roman“. Alle anderen Bezeichnungen – Bildungsroman, Zeitroman (im doppelten Sinne, wie Thomas Mann schon selbst dargelegt hatte), Gesellschaftsroman, Ideenroman – würden zwar Aspekte des Romans treffen, seien aber letztlich zu eng gefasst. Hierbei haben Sparr und Jendreiek wiederum Thomas Mann selbst als Gewährsmann.
Mann schrieb im Zauberberg über die Sitzordnung an den sieben Esstischen:
Es war eine Demokratie von Ehrentischen, kühn gesagt. Dieselben übergewaltigen Mahlzeiten wurden an ihnen gereicht, wie an allen anderen […]; und die daran speisenden Völkerschaften waren ehrenwerte Mitglieder der Menschheit, wenn sie auch kein Latein verstanden und sich beim Essen nicht übertrieben zierlich benahmen.
Ein „queerer“ Roman avant la lettre?
In einem demokratischen Roman haben eben alle Platz, und jedes fast schon zufällig gewählte Stichwort darf Anlass sein für weitere Reflexionen. Der Umstand der Homosexualität im Werk Thomas Manns und natürlich auch im Zauberberg ist für Thomas Sparr gewissermaßen der Elefant im Bild, der jahrzehntelang nicht wahrgenommen wurde. Und so wählt er unter dem Buchstaben Q das Stichwort „Queer“, die Buchstaben X und Y wiederum werden zum „XY-Chromosomen“ zusammengefasst.
In beiden Kapiteln zeigt Sparr dezidiert, wie Leben und Werk bei Thomas Mann ineinandergreifen und die „Problematik der Sexualität“ beinahe alles überlagert. Ebenso zeigt Sparr, wie der Autor diese ‚Problematik‘ im Werk darstellt: häufig verdeckt, im Zauberberg aber mitunter auch unverblümt offen. So schreibt Thomas Mann über eine tuberkulosekranke „ägyptische Prinzessin“, sie sei „eine sensationelle Person mit nikotingelben, beringten Fingern“, die „von den Hauptmahlzeiten abgesehen, bei denen sie Pariser Toiletten trug, in Herrensakko und gebügelten Hosen umherging, übrigens von der Männerwelt nichts wissen wollte, sondern ihre zugleich träge und heftige Huld einer rumänischen Jüdin zuwandte“. Thomas Mann als Erfinder des Marlene Dietrich-Looks.
Über Hans Castorps Gefühls- und Objektverwirrung schreibt Thomas Sparr:
Das Ineinanderübergehen von Pribislav Hippe und Madame Chautchat lässt die Geschlechter konfundieren: Wen begehrt Hans Castorp denn nun, seinen früheren Schulkameraden Pribislav oder die ältere Frau, die ihn an jenen erinnert?
(Eine Beobachtung, die sich übrigens auch in Olga Tokarczuks Roman Empusion wiederfindet, siehe meine Rezension auf tell).
Thomas Sparr geht gar so weit, zu behaupten, der Zauberberg sei ein „queerer“ Roman „avant la lettre“, der erste in der deutschen Literatur. Dafür spricht in der Tat einiges.
Zuletzt weist Sparr noch darauf hin, dass die Thomas-Mann-Forschung „selbst fest in Männerhand“ gewesen und dem Thema Homosexualität „nicht gerecht geworden“ sei – bis Literaturwissenschaftler wie Heinrich Detering, Michael Maar, Gerhard Härle, auch Marita Keilson, sich dem Thema zugewendet hätten. Ein Name fehlt in dieser Reihe, nicht nur bei Thomas Sparr. Vielleicht liegt es daran, dass Marcel Reich-Ranicki kein Literaturwissenschaftler war, sondern „nur“ Literaturkritiker? Immerhin hatte Reich-Ranicki schon in den 80er Jahren auf die Bezüge zur Homosexualität hingewiesen, im Rahmen der Veröffentlichung von Manns Tagebüchern.
Kompliziertes Verhältnis zu den Juden
Im Eintrag zum Buchstaben J reflektiert Sparr auch das Thema der Darstellung von Juden, er nennt den Zauberberg dabei innerhalb des Mannschen Kosmos „ein Werk der Mitte und Mäßigung“, nachdem das Frühwerk eindeutig antisemitische Tendenzen zeigte. Der Roman weist schon auf das Spätwerk hin mit seiner positiven Wendung der Sicht auf Juden, exemplifiziert vor allem in Joseph und seine Brüder.
Auf zwei Menschen mit einem jüdischen Familienhintergrund geht Thomas Sparr besonders ein, sie stammten jeweils aus Städten, die für Thomas Mann von herausragender Bedeutung waren. Der Philosoph Hans Blumenberg kommt aus Lübeck. Die Germanistin Käte Hamburger (wie Hans Castorp) aus Hamburg, sie promovierte dann in München in Literaturwissenschaft. Blumenberg war als Schüler dabei, als Thomas Mann in Lübeck eine Rede hielt, weiß Sparr zu berichten. In seinem Hauptwerk Arbeit am Mythos zitiert Blumenberg Mann und auch dessen Zauberberg ausgiebig: „Der Zauberberg hatte das Thema der Zeit als Vernichtung des Zeitbewußtseins in der exotischen, in der ekstatischen Situation des Todgeweihten beschrieben.“
Und Käte Hamburger, mit Thomas Mann in jahrelanger Korrespondenz verbunden, weist in ihrem Hauptwerk, Die Logik der Dichtung, auf den Umstand hin, dass episches Erfinden immer nur in die Vergangenheit hinein funktioniert. Sie nimmt natürlich den Verfasser des Zauberberg, den „raunenden Beschwörer des Imperfekts“, als Kronzeugen.
Sparrs Hinweise auf Blumenberg und Hamburger, die nicht nur vom Werk des „Zauberers“ inspiriert wurden, sondern auch in sein Lebensnetz eingewoben waren, sind wunderbar angedeutete Hinweise auf Thomas Manns kompliziertes Verhältnis zu Juden. Und auf die erstaunliche Wirkung, die sein Werk gerade auch auf Juden hatte. Mir fallen dazu Marcel Reich-Ranicki, Hans Mayer, Erich von Kahler, Ferdinand Lion, sein Verleger Samuel Fischer und sein erster Lektor Moritz Heimann ein – aber auch Franz Kafka: „Mann gehört zu denen, nach deren Geschriebenem ich hungere.“
Und so kann man immer weiter spazieren durch Thomas Sparrs demokratisches Zauberberg-Alphabet. Mitunter referiert Sparr auch über weniger gewichtige Stichworte, etwa unter O über Opulenz. Da geht es um die opulenten Mahlzeiten und über Mynheer Peeperkorns Bedürfnisse. Aber meistens sind es doch die „großen“ Themen. Unter R geht es um Religion. Unter M natürlich um Musik. Und unter T um den Tod.
Insgesamt scheint mir dieser Zugang mittlerweile fruchtbarer als der Versuch, den Roman auf eine Formel zu verdichten.
Bildnachweis:
Beitragsbild: Herwig Finkeldey
Thomas Sparr
Zauberberge
Ein Jahrhundertroman aus Davos
Berenberg 2024 · 80 Seiten · 22 Euro
ISBN: 978-3949203824