„Öffnen Sie das Buch auf Seite 99, und die Qualität des Ganzen wird sich Ihnen offenbaren.“ (Ford Madox Ford)
Wir lesen mit der Lupe und schauen, was der Text auf dieser Zufallsseite leistet.
(Warnung: Der Page-99-Test ersetzt keine Rezension.)

Auf der Seite 99 von Jenny Erpenbecks Roman Kairos feiert jemand Geburtstag, die Seite beginnt mit einer Gratulation:

Herzlichen Glückwunsch!

Die direkte Rede ist in diesem Roman unmarkiert, man muss beim Lesen intuitiv entscheiden, was gesprochen ist und was nicht. Den nächsten Satz habe ich beim ersten Lesen als gesprochene Rede gehört:

Schade trotzdem, dass nie mehr als ein Verwandter aus dem Osten die Genehmigung bekommt und deshalb Erika nicht mit dabeisein kann.

Doch der nächste Satz lässt mich zweifeln.

Aber Katharina verliest einen Brief von der Mutter: Ich bin in Gedanken bei euch.

Wenn der Satz davor nun doch keine gesprochene Rede ist, sondern zum auktorialen Erzähltext gehört, stellt sich sofort die Frage, wer es schade findet, dass man nur einen Verwandten aus dem Osten einladen darf und Erika deshalb nicht kommen konnte. Möglicherweise wurde das in der Familienunterhaltung gesagt, ohne dass wir erfahren, von wem – der Satz oszilliert zwischen gesprochener und auktorialer Rede.

Bei den nächsten Sätzen ist der Fall dann wieder klar. So schlicht die kurzen Dialoge daherkommen, so raffiniert sind sie gestaltet. Das wird sichtbar, wenn man die Sätze auf einzelne Zeilen verteilt. Katharina ist bei der West-Verwandtschaft in Köln zu Besuch und muss sich nun die entsprechenden Bemerkungen gefallen lassen.

Na, wie gefällt dir denn nun die Freiheit, fragt Onkel Manfred.
Der Dom ist schön, sagt Katharina.

Hier kannst du deine Meinung sagen, sagt Onkel Manfred.
Ich weiß, sagt Katharina.

Und einkaufen, was dein Herz nur begehrt.
Hat sie ja, hat sie ja, sagt Oma Emmi.

Die Ost-Klischees werden uns auf dem Tablett serviert, rhythmisch unterlegt durch die Verben des Fragens und Sagens:

Na, wie gefällt dir denn nun die Freiheit, fragt Onkel Manfred.
Der Dom ist schön, sagt Katharina.

Hier kannst du deine Meinung sagen, sagt Onkel Manfred.
Ich weiß, sagt Katharina.

Und einkaufen, was dein Herz nur begehrt.
Hat sie ja, hat sie ja, sagt Oma Emmi.

Die Variation in der Antwort des letzten Beispiels erzeugt eine Spannung, die im nächsten Satz wieder aufgefangen wird.

Und morgen willst du nun ins Museum?, fragt die Tante. Ja.

Ein schlichtes „Ja“ der nun nicht mehr genannten Katharina schließt den Bogen dieser peinlichen Befragung. Das ist musikalisch perfekt komponiert.

Im nächsten Satz bricht der Text aus dieser von den Figuren selbst geschaffenen und zugleich schicksalhaften Enge aus. Es ist, als würde für einen Moment das Stubenfenster zum Kölner Dom hin geöffnet.

Stell dir vor, sagt die Tante, einen Luftschutzbunker wollten die Kölner bauen und sind dabei auf Überreste aus der Römerzeit gestoßen – genau an der Stelle haben sie dann das Museum errichtet, so ein Mosaik ist ja schließlich kein Teppich, den man herumtragen kann.

Und dann sind wir gleich wieder in der guten Stube:

Wer will noch ein Schnäpschen?

Das sitzt.

***

Die Seite wird in der Hälfte durch eine Leerzeile geteilt. Nun wechselt der Ton: Die nächsten neun Zeilen verlassen den konkreten Raum. Stattdessen befinden wir uns in einer Reflexion über die Geschichte oberhalb und unterhalb des Kölner Doms.  

Oben der Luftkrieg, und unter allem Dionysos, der Lustgott, zentimeterweise gewürfelt.

Die römischen Funde bieten allerhand Lustbarkeiten: Sex, Alkohol, Essen, Musik und „prächtiges Getier“. Die Passage gipfelt in einem überraschenden Vergleich:

[…] und das eckige Mäanderkreuz, das damals oberirdisch von Staats wegen in Schwarz-Weiß-Rot flattert, ist im Untergrund der Stadtgeschichte noch weiter nichts als ein Muster, das eine fröhliche Orgie einfasst.

Die Wortwahl ist ambitioniert und wirkt ein wenig gewollt: „zentimeterweise gewürfelt“ bezieht sich auf das römische Mosaik, „das eckige Mäanderkreuz“ ist ein Fachbegriff für die unschuldige geometrische Form, die von den Nazis usurpiert und für alle Zeiten vergiftet wurde. Die „fröhliche Orgie“ der alten Römer steht in genüsslichem Widerspruch zur deutschen Biederkeit, die auf dieser Seite so viel Platz einnimmt.

Am Ende dieses Absatzes sind wir wieder bei Katharina:

Schade, dass sie all das nicht zusammen mit Hans ansehen kann.

… heißt es, mit einem leisen Echo zu vorhin („Trotzdem schade, dass nie mehr als ein Verwandter die Genehmigung erhält“). Wir sind wieder in der Wohnung der Westverwandtschaft, und wieder werden knappe Sätze gewechselt.

Er ruft auch heute nicht an. [Katharina]

Aber Kindchen, er ist doch verheiratet. [Oma Emmi]

Ich weiß. [Katharina]

Ein ganzes Liebesdrama steckt in diesen drei schlichten Sätzen (wieder ein Echo: „Ich weiß”), die beim Zubereiten des Abendbrots fallen: ein tiefdeutsches Stillleben mit Radieschen, Butterdose, Leberwurst, sauren Gurken und Brotkorb, dazu Salz und Pfeffer.

***

Jeder Satz auf dieser Seite ist gestaltet, Jenny Erpenbeck überlässt kein Wort dem Zufall. Gerade das unterscheidet Literatur von Alltagsrede, und man könnte sagen: je raffinierter desto besser. Ich bin gespalten. Ich bewundere die Sorgfalt, das Können, die stilistische Souveränität. Doch zugleich frage ich mich: Kann ein Text auch zu gut gemacht sein? Angesichts einer so rigiden Kontrolle über das Schreiben fehlt mir beim Lesen dieser einen Seite ein wenig die Luft zum Atmen.


Angaben zum Buch

Jenny Erpenbeck
Kairos
Roman
Penguin 2021 · 384 Seiten · derzeit vergriffen (Kindle: 10,99)
ISBN: 978-3328600855

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Von Sieglinde Geisel

Journalistin, Lektorin, Autorin. Gründerin von tell.

Ein Kommentar

  1. Sehr geehrte Frau Geisel,
    Wenn Ihnen die stilistische Harmonie den Atem raubt, heißt das, dass Sie einen Urlaub in den Bergen brauchen!

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