Der tell-Mitarbeiter Herwig Finkeldey ist Arzt und Literat. Für tell schreibt er regelmäßig über die Corona-Pandemie.

Nach einigen Monaten Pandemieerfahrung kristallisieren sich Erkenntnisse heraus, die anfangs undenkbar schienen. Es sind sowohl Erkenntnisse über die Erkrankung selbst als auch über die Art und Weise, wie Gesellschaften mit dieser neuartigen Erfahrung umgehen.

Kein flottes “Wegimpfen”?

COVID-19, wie die durch das Coronavirus hervorgerufene Krankheit medizinisch genannt wird, ist einerseits eine hochakute Erkrankung, andererseits ist sie ein chronisches Geschehen, das in praktisch allen Organsystemen stattfinden kann und oft eine verlängerte Rekonvaleszenz zur Folge hat. Möglicherweise wird sich auch die Rentenkasse mit ihr zu beschäftigen haben.

Immunologisch kann man keineswegs davon ausgehen, dass sich auf linearem Weg eine Herdenimmunität ausbilden wird oder dass man COVID-19 gar irgendwann flott „wegimpfen“ kann, wie es bei den Pocken oder Polio der Fall war. Offenbar besteht die Pathophysiologie dieser Erkrankung nicht nur in einem kurzen, heftigen Gefecht zwischen Virus und Wirt, der dieses Gefecht mit Hilfe spezifischer Antikörper im besten Fall für sich entscheidet. Es ist vielmehr eine zähe Angelegenheit, in der die sehr unterschiedlichen immunologischen Reaktionen der Patienten eine entscheidende Rolle spielen. Neben der Immunität durch spezifische Antikörper gibt es noch eine sogenannte T-Zell-vermittelte Immunität. Sie spielt eine große Rolle bei der Bekämpfung von Viren, die bereits in die Wirtszelle eingedrungen sind: Die verminderte Aktivität einer Untergruppe von T-Lymphozyten korreliert daher mit schweren Verläufen. Auch ist schon länger bekannt, dass die Blutgruppen einen großen Einfluss auf die immunologischen Reaktionen bei verschiedensten Infektionserkrankungen haben, etwa der Cholera oder der Tuberkulose. Das gilt offenbar auch für COVID-19.

Fastfood statt Hunger

Bekanntlich hat der Lebensstil einen direkten Einfluss auf das Immunsystem. Adipositas, Diabetes und weitere Wohlstandskrankheiten unterdrücken es stark. Dieser „hyperalimentäre Lebensstil“, so der medizinische Fachausdruck für übermäßige Nahrungsaufnahme, ist auch eine Frage der Bildung. In Überflussgesellschaften neigen gerade die unteren sozialen Schichten dazu, zu viel zu essen: So ist in den westlichen Gesellschaften Armut nicht mehr von Hunger begleitet, sondern von kalorienhaltigem Fastfood.

Die so unterschiedlichen immunologischen Reaktionen auf das Virus, deren Zusammenhänge wir im Einzelnen noch nicht genügend verstehen, dürften maßgeblich darüber entscheiden, ob die Erkrankung als kurze Erkältung oder als schwere und oft chronische Systemerkrankung verläuft. In jedem Fall aber zeigen sie, dass mitnichten „nur eine Grippe“ vorliegt.

Tuberkulose und COVID-19

Ähnliches kann man zum epidemiologischen Verlauf sagen. Keineswegs rast eine sich aufbäumende, dann saisonal abflauende Welle über die Erde, wie es bei der Influenza der Fall ist. Zwar scheint es eine saisonale Komponente zu geben. Dies kann jedoch auch mit der Tatsache zusammenhängen, dass Clusterausbrüche häufig durch Massenveranstaltungen in geschlossenen Räumen entstehen, und solche Veranstaltungen finden nun einmal im Winter häufiger statt, Ischgl sei hier als Beispiel genannt. Bei den Schlachthöfen begünstigen die beengten Wohnquartiere der Saisonarbeiter den Ausbruch, wobei hier die niedrigen Temperaturen zusätzlich eine Rolle spielen. Die massenhaften Ansteckungen in amerikanischen Gefängnissen zeigen ebenfalls einen Zusammenhang mit der räumlichen Enge.

Sowohl der Lebensstil als auch die Wohnverhältnisse lenken den Fokus auf die soziale Lage: COVID-19 ist eine Erkrankung, die die unteren sozialen Schichten in besonderem Maß betrifft. Je ärmer ein Land und je größer die sozialen Unterschiede, desto höher sind die Erkrankungszahlen. Armut ist einer der größten Risikofaktoren, an COVID-19 zu erkranken.

Eine Krankheit der Armut

Sowohl das medizinische als auch das soziale Muster von COVID-19 ähnelt damit in erstaunlich vielen Facetten einer anderen, seit Jahrtausenden bekannten Infektionserkrankung: Der Tuberkulose, die im 19. Jahrhundert unter dem Namen Schwindsucht auch als Krankheit der Dichter galt. Die hohe Inzidenz der Tuberkulose bei Dichtern wollte man mit dem Hang der Literaten zur Melancholie erklären, denn auch eine Depression unterdrückt das Immunsystem. In der Psychosomatik galt Tuberkulose lange als somatischer Ausdruck einer Depression, als sogenanntes Depressionsäquivalent. Ob sich für COVID-19 ähnliche Zusammenhänge nachweisen lassen, ist mir aktuell nicht bekannt.

Die anderen Übereinstimmungen sind aber erstaunlich genug. Die Tuberkulose wird zwar nicht durch ein Virus, sondern durch Bakterien ausgelöst, doch auch bei der Tuberkulose spielt, neben dem (übrigens sehr speziellen) Bakterium, im Krankheitsverlauf die individuelle immunologische Disposition eine entscheidende Rolle. Wie bei COVID-19 ist die Tuberkulose eine Erkrankung der Armut, eine Seuche der Slums. Daher überrascht es nicht, dass sie in den letzten Jahren des Öfteren bei Geflüchteten nachgewiesen wurde. Auch die Tuberkulose befällt die unterschiedlichsten Organsysteme, so dass man sie das „Chamäleon der Medizin“ genannt hat. Nach den bisherigen medizinischen Erfahrungen liegt mit COVID-19 durchaus ein neues Chamäleon der Medizin vor.

Leben mit dem Virus

Möglicherweise geht die merkwürdige Verwandtschaft der beiden Krankheiten noch weiter: Es gibt Berichte, die auf eine günstige Wirkung der fast hundert Jahre alten Tuberkuloseimpfung gegen den Erreger SARS-Cov2 hinweisen. COVID-19 soll bei den vor Jahrzehnten gegen Tuberkulose Geimpften milder verlaufen. Diese alte Impfung stärkt vor allem die T-Zell-Immunität, also jenen immunologischen Vorgang, den wir auch gegen SARS-Cov2 so dringend benötigen.

Die frappanten Übereinstimmungen beider Krankheiten könnten auf einen eher chronischen Pandemieverlauf von COVID-19 hindeuten. Es ist denkbar, dass wir uns mit SARS-Cov2 genauso zu arrangieren haben, wie mit dem Mycobacterium tuberculosis oder dem HI-Virus. Diese so merkwürdige Erkrankung hält die Zeit an, verlangsamt das öffentliche Leben. Diese Verzögerung und die unaufhaltsamen wirtschaftlichen Folgen werden die Welt verändern. Sie wird darauf literarisch reagieren, und zwar nicht nur mit Corona-Tagebüchern: Autorinnen wie Giovanni Boccaccio, Thomas Mann und Rebecca Makkai werden Nachfolger haben.

Bildnachweis:
Beitragsbild: Bildnis eines Schwindsüchtigen (Hans Barwierer)
Kupferstich von Joachim Moler (1532), via Wikimedia Commons

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Von Herwig Finkeldey

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