Mann und Frau zugleich
Ein Lektüretipp von Agnese Franceschini
Der Roman Die Wunder von Little No Horse von Louise Erdrich erzählt die Geschichte einer Frau, die den größten Teil ihres Lebens in der Gestalt eines Mannes verbringt: als Priester Father Damien, der sein Leben den Ojibwe im (fiktiven) Reservat „Little No Horse“ widmet. Man kann den Roman verschieden lesen: als Kampfschrift gegen die Ausrottung der amerikanischen Ureinwohner, als historische Darstellung der Beziehungen eines Stammes zur herrschenden Gesellschaft – oder als Autobiografie einer Figur, die nie existiert hat, aber sehr wohl hätte existieren können.
Im Kern geht es Louise Erdrich in ihrem Roman um etwas Universelles. Sie beschreibt die Möglichkeit, das Leben gleichzeitig als Mann und als Frau zu leben.
Wo war zwischen diesen beiden das wahre Selbst? Ihr wurde klar, dass Schwester Cecilia und dann Agnes in ihrer Gestik und Haltung genauso konstruiert gewesen waren wie Father Damien. Und wo blieb dann ihre eigene Identität? Was war sie, welches Stäubchen, welches Nichts?
Louise Erdrich
Die Wunder von Little No Horse
Aus dem Amerikanischen von Gesine Schröder
Aufbau Verlag 2019 · 509 Seiten · 24 Euro
ISBN: 978-3351037864
Gottes Spion
Ein Lektüretipp von Sieglinde Geisel
Aus irgendeinem Grund finden sich Romane, die den Intellekt zugleich füttern und unterhalten, vor allem in der angelsächsischen Literatur. Dieses Frühjahr ist mit Spiegel und Licht der dritte Band von Hilary Mantels Tudor-Triloge erschienen, eine Saga von Macht und Intrigen am Hof Henrys VIII. Im Zentrum steht Thomas Cromwell, die rechte Hand des Königs. Gemäß einer eisernen Regel der Romankunst erkennt man die Hauptfigur daran, dass sie die besten Zeilen bekommt. Hilary Mantel lässt ihren Thomas Cromwell, dem es in diesem letzten Band nun selbst an den Kragen geht, zur Topform auflaufen.
„Dachten Sie, Sie wären Gott?“
„Nein, Gottes Spion.“
Über die gesamte Trilogie hinweg tauchen wir knapp 2.500 Seiten lang ein in das London des 16. Jahrhunderts, eine Zeit, die mit ihren Umbrüchen und Verunsicherungen der unseren gar nicht so fern ist. In knappen Sätzen bringt Hilary Mantel die Mechanismen der Macht auf den Punkt:
„Der König macht nie etwas Unangenehmes. Das macht Lord Cromwell für ihn.“
Sagt Henrys dritte Frau Jane.
Mit kühner Poesie fängt Mantel die selbstverschuldete Tragik ein, als Henry die Todesurteile für fünf junge Männer unterschreibt, die er des Ehebruchs mit seiner (von ihm ebenfalls zum Tod verurteilten) Frau Anne Boleyn bezichtigt:
Er holt Luft und geht, den Nacken gebeugt wie ein Ochse unter dem Joch seiner Zukunft, zurück an seine Aufgaben.
Beim Lesen hält man immer wieder den Atem an, vor Staunen, vor Schreck – und vor Bewunderung für die Genauigkeit, mit der Hilary Mantel die Widersprüche auslotet.
Hilary Mantel
Spiegel und Licht
Tudor-Trilogie Band 3
Aus dem Englischen von Werner Löcher-Lawrence
Dumont 2020 · 1200 Seiten · 34 Euro
ISBN: 978-3832197247
Amerika finden
Ein Lektüretipp von Hartmut Finkeldey
John Steinbeck, damals bereits renommierter Autor, lässt sich einen Wagen zu einem Wohnmobil umbauen, nennt es „Rosinante“, nimmt seinen schwarzen Pudel Charley und umrundet die USA gegen den Uhrzeigersinn. Dabei versucht er, Amerika zu finden – in seinen Bewohnern, seinen Stimmungen, in Gesprächen.
Das Packende dabei: Wir reden über den Herbst 1960. Chruschtschow hämmert mit dem Schuh auf das Pult, Kennedy und Nixon kämpfen um die Präsidentschaft (Steinbeck, der Demokrat, streitet sich mit seiner republikanischen Schwester, die er in Salinas besucht), und die Bürgerrechtsbewegung rund um Martin Luther King nimmt Fahrt auf. Dem „race-problem“ gibt Steinbeck hellsichtig den meisten Raum: Die New Orleanser Passage – er ist Zeuge einer hasserfüllten rassistischen Demonstration von Weißen, die gegen Integrationsschulen auf die Barrikaden gehen – gehört inzwischen zu den Klassikern der US-amerikanischen Literatur.
Steinbeck ist auf der Suche nach dem ‚guten‘, dem anderen Amerika. Diese Perspektive ist manchmal etwas eindimensional. Aber trotz dieser Einschränkung ist es ein spannender, lesenswerter und stellenweise sehr witziger Reisebericht.
Im Spanischen gibt es ein Wort, für das ich im Englischen keine Entsprechung finde. Vacilar, vacilando. Es heißt keineswegs dasselbe wie das englische vacillation. Wenn jemand vacilando ist, dann bewegt er sich zwar einem Ziel entgegen, aber er kümmert sich nicht groß darum, ob er ankommt.
John Steinbeck
Die Reise mit Charley
Aus dem Englischen von Burkhart Kroeber
dtv 2007 · 304 Seiten · 10,90 Euro
ISBN: 978-3423135658
Die Vielheit der Geschichten
Ein Lektüretipp von Anselm Bühling
Der Band Heimsuchungen der nigerianischen Autorin Chimamanda Ngozi Adichie enthält zwölf Erzählungen. Das ist Lesestoff für zwei Wochen, jeden Tag eine kleine Geschichte, die einen nicht so bald wieder loslässt. Oft geht es um Situationen, in denen sich nichts mehr von selbst versteht, um Menschen, die in eine andere Welt geraten, in der sie sich erst tastend zurechtfinden müssen. In der Erzählung „Ein privates Erlebnis“ flüchtet sich die Medizinstudentin Chika, eine Igbo, mit einer älteren Hausa-Frau in einen leerstehenden Laden, als es auf dem Marktplatz zu lebensbedrohlichen Ausschreitungen kommt.
„Auf Schule du bekommst jetzt Kranke zu sehen?“, fragt die Frau.
Chika blickt schnell weg, damit die Frau ihre Überraschung nicht sieht. „Meine klinische Ausbildung? Ja, wir haben letztes Jahr damit angefangen. Wir besuchen Patienten im Lehrkrankenhaus.“ Sie fügt nicht hinzu, dass sie oft von Anfällen der Unsicherheit heimgesucht wird, dass sie ganz hinten in der Gruppe von sechs oder sieben Studenten trottet und den Blick des Krankenhausarztes meidet, in der Hoffnung, dass sie nicht aufgefordert wird, einen Patienten zu untersuchen und ihre Diagnose zu stellen.
„Ich bin Händlerin“, sagt die Frau. „Ich verkaufe Zwiebeln.“
Chika versucht, einen sarkastischen oder anklagenden Ton herauszuhören, doch es gibt ihn nicht. Die Stimme bleibt ausgeglichen und leise, eine Frau, die einfach mitteilt, was sie macht.
Chimamanda Ngozi Adichie lebt in Nigeria und in den USA. 2009 hielt sie den vielbeachteten TED-Talk The Danger of a Single Story, der nichts von seiner Aktualität verloren hat. Auch die Erzählungen in Heimsuchungen sind von dem Bewusstsein geprägt, dass es immer mehr als eine Geschichte gibt.
Chimamanda Ngozi Adichie
Heimsuchungen
Aus dem Englischen von Reinhild Böhnke
S. Fischer 2012 · 304 Seiten · 19,99 Euro
ISBN: 978-3100006257
Reise durch die „hinternationale“ Ökumene
Ein Lektüretipp von Agnese Franceschini
In seiner „Biografie“ der Donau nimmt uns der Triestiner Autor und Literaturwissenschaftler Claudio Magris mit auf die Entdeckung Mitteleuropas. Er tut dies in einem neuen literarischen Genre, das von der Reisegeschichte bis zum Aufsatz, vom Roman bis zum Tagebuch, von der Autobiografie bis zur Kulturgeschichte reicht.
Die Reise von den Quellen der Donau bis zum Schwarzen Meer führt nicht nur durch Grenzregionen wie Pannonien und Städte wie Rusa, dem Geburtsort von Elias Canetti. Wir begegnen dabei auch Protagonisten der europäischen Kultur wie Martin Heidegger, Franz Kafka, Albert Einstein. Claudio Magris folgt dem Lauf der Donau mit leichtfüßigem und zugleich dichtem Stil – man kann das Buch auch als Reise der italienischen, deutschen und slawischen Seele des Autors lesen.
In symbolischen Zusammenhängen erscheint die Donau häufig als das, was „dem“ Deutschen entgegengesetzt und feindlich ist; sie ist der Fluß, an dessen Ufern die verschiedensten Völker sich begegnen und vermischen, ganz anders als der Rhein, der mythische Wächter über die Reinheit des germanischen Geschlechts. Die Donau ist der Fluß von Wien, Bratislava, Budapest, Belgrad und Dazien, das Band, das – wie das Meer einst die griechische Welt – das habsburgische Österreich durchzog und umschloss. Dessen Mythos und Ideologie ließen sie zum Symbol einer vielfältigen, übernationalen Koine werden, eines Reiches, dessen Herrscher sich „an meine Völker“ wandte und dessen Hymne in elf verschiedenen Sprachen gesungen wurde. Die Donau ist das deutsch-ungarisch-slawisch-romanisch-jüdische Mitteleuropa, das dem germanischen Reich polemisch entgegengesetzt wird: eine „hinternationale“ Ökumene, wie sie der Prager Johannes Urzidil begeistert nannte.
Claudio Magris
Donau. Biographie eines Flusses
Aus dem Italienischen von Heinz-Georg Held
dtv 2007 · 496 Seiten · 16,90 Euro
ISBN: 978-3423344180
Im Angesicht des Bösen
Ein Lektüretipp von Herwig Finkeldey
Albert Camus‘ Die Pest gehört zum Kanon der Weltliteratur und erlebt im Rahmen der Coronapandemie neue Auflagen. Wie soll man ein solches Buch nun auch noch empfehlen?
Vielleicht indem man auf die historischen Zusammenhänge hinweist. Albert Camus‘ Roman von 1947 ist heute auf ganz andere Weise aktuell, als es scheint. Denn Die Pest ist kein Kommentar zur Corona-Pandemie – auch wenn es sich durchaus so lesen lässt –, sondern ein Protokoll menschlichen Verhaltens im Angesicht des Bösen. Camus‘ Pestbazillus, der eine kaum kontrollierbare, alle Menschen manipulierende Situation entstehen lässt, ist ein Sinnbild für den Faschismus.
Camus versteht die Welt als grundsätzlich unheilbar, also jederzeit vom Faschismus infizierbar, für die unter dem Faschismus lebenden Menschen gibt es nur den Aufschub. Der berühmte letzte Absatz des Romans liest sich wie ein Kommentar zur Siegesfeier 1945:
Während Rieux den Freudenschreien lauschte, die aus der Stadt aufstiegen, erinnerte er sich nämlich daran, dass diese Freude immer bedroht war. Denn er wusste, was dieser Menge im Freudentaumel unbekannt war und was man in Büchern lesen kann, dass nämlich der Pestbazillus nie stirbt und nie verschwindet, dass er jahrzehntelang in den Möbeln und in der Wäsche schlummern kann […] und dass vielleicht der Tag kommen würde, an dem die Pest zum Unglück und zur Belehrung der Menschen ihre Ratten wecken und zum Sterben in eine glückliche Stadt schicken würde.
Die neue Übersetzung durch Uli Aumüller gibt es seit diesem Jahr erstmals als Taschenbuch.
Albert Camus
Die Pest
Aus dem Französischen von Uli Aumüller
Rowohlt 1998 · 349 Seiten · 12 Euro
ISBN: 9783499225000
Ich verstehe sicherlich nicht viel von Literatur oder Literaturkritik, aber den ersten Band der Trilogie „Wölfe“ von H. Mantel habe ich gelesen. Und dies nachdem die Kritik in den höchsten Tönen von ihr sprach und ich mir dachte, diese Trilogie könnte Dich interessieren. Eine alte Freundin hatte mich schon vor Jahren auf H. Mantel hingewiesen. Dennoch war ich enttäuscht: ausufernde Erzählung, die sich in banalen Konversationen verliert und leider gedankenarm. Die Figur von Cromwell fand ich über die 750 Seiten nicht sehr eindrucksvoll herausgearbeitet, auch die des Kardinals Wolsy oder Henry’s nicht. Ich war weniger von ihr als eher von der Literaturkritik enttäuscht. Sie hat halt ein Talent zu erzählen, zu erzählen, zu erzählen, warum auch nicht, aber muss man das lesen wie es die Literaturkritik nicht behauptet aber doch suggeriert? Der 1. Band hat leider mir keine Lust auf die weiteren Bände gemacht. Schließlich hat man ja auch noch anderes zu tun. Auffallend erschien mir, dass Gedanken fehlten und dass dies niemanden auffiel. Mit den besten Wünschen für Ihr portal, das mich immer wieder anregt. Josef Ludin