Diesen Nachruf auf Joan Didion habe ich bereits 2012 geschrieben, im Auftrag einer Schweizer Tageszeitung, für die ich damals arbeitete. Was ich damals versäumt habe, ist der Nachweis der Übersetzung bei den deutschen Zitaten. Teilweise stammen sie wohl von mir selbst (ich habe nur die englischen Originale in meinem Bücherregal).

Große Autoren sehen, was die anderen nicht sehen, sagt Gilles Deleuze. Niemand hat Amerika so gesehen wie Joan Didion. Sie sieht die Risse in der sozialen Tektonik und beschreibt die Zerfallsprozesse einer Gesellschaft, die sich auf das Fälschen ihrer Wirklichkeit verlegt hat.

Schreiben über Amerika

Ein erstes Mal habe sie die Atomisierung der Gesellschaft in den 1960er-Jahren begriffen, in ihrem ersten Essayband Slouching Towards Bethlehem (1968), anlässlich einer Reportage über Hippies in San Francisco. Es geht um haltlose junge Menschen, die sich in den Drogenrausch zurückziehen und die sich, so Didion, nicht in Auflehnung gegen die Gesellschaft befänden, sondern in Unkenntnis derselben:

ab einem Zeitpunkt zwischen 1945 und 1967 haben wir es irgendwie versäumt, diesen Kindern die Regeln des Spiels zu erklären, das wir nun einmal spielen.

In ihren Essays und Romanen setzte sich Joan Didion ausschließlich mit den USA auseinander. Sie ist die Chronistin der Träume und Albträume einer Gesellschaft, die ihrer Rastlosigkeit und ihrem Hunger nach mehr immer weiter nach Westen gefolgt war. Didion selbst wurde 1934 in Sacramento, Kalifornien geboren, am utopischen Ende Amerikas, wo das Leben gelingen sollte, denn hier, „unter diesem immensen gebleichten Himmel“ sei der Ort, „where we ran out of continent“.

„Außenseiterin genug“

Obwohl sie sich, nach ihrer eigenen Aussage, für Innenpolitik nicht im Mindesten interessierte, begann Joan Didion in den 1980er-Jahren auch über Politiker und Wahlkämpfe zu schreiben, im Auftrag von Robert Silver, dem legendären Redakteur der New York Review of Books, der gedacht habe, sie sei dafür „Außenseiterin genug“, wie Didion in einem Interview bemerkte.

Sie schreibt über Politik mit der gleichen Haltung der unbestechlichen Zeugin wie über Landstriche, soziale Bewegungen und über die Ikonen der kollektiven Phantasie ihres Landes.

Als John Wayne durch meine Kindheit ritt, und vielleicht auch durch die Ihrige, bestimmte er für immer die Form mancher unserer Träume.

Joan Baez sei eine Persönlichkeit gewesen, noch bevor sie eine Person war. Und wie jeder, dem es so gehe, sei sie in einem gewissen Sinn das glücklose Opfer dessen,

[…] what others have seen in her, written about her, wanted her to be or not to be.

Sprachliche Brillanz

Joan Didion öffnet uns die Augen für ein Amerika, das wir nicht kennen. Sie entzaubert unsere Projektionsfläche ein für alle Mal, wenn sich auch manche Zusammenhänge und Anspielungen nur dem Amerika-Kenner erschließen. Das Insiderhafte mag ein Grund für die erstaunlich späte Rezeption ihrer Bücher im Ausland sein, ein anderer Grund liegt in der fast unübersetzbaren sprachlichen Brillanz. Alles, was sie über die Sprache wisse, sei „die unendliche Macht der Grammatik“.

Kühl und beherrscht wie ein Chirurg setzt sie jedes einzelne Wort exakt dorthin, wo sie es haben will, in unfehlbarem Rhythmus und mit einer Lakonie, deren Kälte und Witz in der Übersetzung oft verloren geht.

They told him to come back up, and he said he would rather be shot, and he was.

Die Abgründe Amerikas

Joan Didions Narration ist von einer traumwandlerischen Sicherheit. Sie übt auf den Leser eine Autorität aus, die in auffälligem Widerspruch zu der Fragilität steht, mit der die Autorin uns in ihren Selbstauskünften gegenübertritt.

Im Vorwort des Essaybands Stunde der Bestie schreibt sie:

Mein einziger Vorteil als Journalistin besteht darin, dass ich von so kleiner Statur, so unscheinbar und auf so neurotische Weise um Worte verlegen bin, dass die Leute anfangen zu vergessen, dass meine Anwesenheit ihren Interessen schaden könnte.

Joan Didion ist eine Moralistin, doch statt Meinungen serviert sie uns entlarvende Zitate, überraschende Wiederholungen und Lücken, in denen sich die Abgründe Amerikas auftun.

Denn:

Style is character.

Ein Reflex auf eine Einsicht aus dem 18. Jahrhundert, die wir dem Naturforscher und Aufklärer George-Louis Leclerq de Buffon verdanken: “Le style c’est l’homme même.”

Die Erkundung der Trauer

In amerikanischen Intellektuellen-Kreisen hatte sich Joan Didion spätestens seit ihrem zweiten Roman Play It As It Lays (1970) als Autorin etabliert. Sie veröffentlichte insgesamt ein Dutzend Romane und Essaybände, doch zur Bestsellerautorin wurde sie erst, als eine persönliche Katastrophe sie dazu zwang, ihre Beobachtungsgabe der eigenen Person zuzuwenden. Im 2005 erschienenen Memoirenband The Year of Magical Thinking (dt.: Das Jahr des magischen Denkens, 2006) versucht sie, ihre Reaktion auf den plötzlichen Herztod ihres Mannes John Gregory Dunne zu begreifen, mit dem sie vierzig Jahre Ehe und Arbeitsgemeinschaft verbunden hatten, unter anderem als Ko-Autoren gemeinsamer Drehbücher für Hollywood.

Dieses Buch sei die „Erkundung eines Zustands“, so Didion selbst. Trauer erweise sich als „ein Ort, den niemand von uns kennt, bis wir ihn erreichen“. Auf diesen Band folgte 2011 Blue Nights (dt.: Blaue Stunden 2012), eine Elegie auf den Tod ihrer Adoptivtochter und zugleich eine Reflexion über die Zerbrechlichkeit des Lebens, die Versagensängste als Mutter und die Zumutungen des Alterns.

Aufschreiben ist die einzige Art und Weise, wie ich etwas verstehen kann.

So Joan Didion über Das Jahr des magischen Denkens. Während ihres ganzen Lebens als Autorin hatte sie sich der Wirklichkeit mit einer ans Selbstzerstörerische grenzenden Sensibilität ausgesetzt, verborgene Widersprüche ertastet, Illusionen entsorgt. Der sprachliche Ausdruck der dabei gewonnenen Einsichten unterliegt einer rigiden Kontrolle, und gerade das führt zu einer hypnotischen Wirkung beim Lesen.

Joan Didion ist es gelungen, sich die Macht der Grammatik anzueignen.

Bildnachweis:
Beitragsbild: Joan Didion nimmt am 2. August 1999 an der Talk Magazine Launch Party auf Liberty Island in New York City teil.
Fotograf: Henry McGee/MediaPunch Inc.

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Von Sieglinde Geisel

Journalistin, Lektorin, Autorin. Gründerin von tell.

Ein Kommentar

  1. Sibylle Klefinghaus 11. Mai 2022 um 12:06

    Sehr geehrte Frau Geisel,

    Ihr Artikel über Joan Didion hat mir ziemlich gut gefallen. Sie ist eine meiner Lieblingsautorinnen.
    Andere Nachrufe auf sie fand ich oft verfehlt; Sie haben versucht, der Magie ihrer Prosa näherzukommen,ein sehr schwieriges Unterfangen, wie ich zugeben muss, aber lohnend.
    Die deutsche Übersetzung, z.B. von A.Ravic- Strubel (“Süden und Westen
    Notitzen”) ist m.E. streckenweise haarsträubend, ein Massaker!

    Also vielen Dank für Ihren Artikel,
    mit den besten Grüssen,
    Sibylle Klefinghaus

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