Gespräche mit Glühbirnen und Krähen

Ein Weihnachtstipp von Tomas Bächli

Von den 750 Seiten dieses autobiographischen Romans habe ich bis jetzt gut ein Fünftel geschafft. Ich empfehle das Buch, weil ich es unbedingt fertiglesen möchte.

Hier die Gründe dazu:

Es ist die Leichtigkeit, mit der die Autorin nicht nur das Politische und das Private, sondern auch die realen Menschen und ihre eigene Phantasiewelt miteinander verknüpft. Dank ihrer Vorstellungskraft werden selbst banale, manchmal absurde Situationen mit Leben erfüllt. Der ganze Roman ist voll von winzigen Theaterszenen. In einem Zimmer in Paris kommuniziert die Ich-Erzählerin abwechselnd mit einer knisternden, offenbar defekten Glühbirne, der sie den Namen „Williams“ gibt und mit einem schweigsamen Drogensüchtigen, den sie „Laurent“ nennt.

Er war ein sehr schöner Mann. Deswegen fiel mir sein Schweigen umso schwerer.
Der Stuhl, auf dem er sitzt, kriegt er eine Gänsehaut?
Wieder hörte ich hinter mir die Selbstgespräche von Williams.
Was denkt Williams über das Schweigen?

Die Nachkriegszeit wird von uns Westeuropäern oft als harmlose Idylle verklärt. In der Türkei, dem Geburtsland der Autorin, war das Leben damals von Diktaturen und Kriegen geprägt. Wie gelingt es ihr, sich von diesen Schrecken nicht lähmen zu lassen, ohne zynisch zu werden?

Was mir weiter gefällt, ist die ebenso genaue wie phantasievolle Sprache, mit der Özdamar zum Beispiel über die europäische Ausländerfeindlichkeit schreibt (ein fiktiver Dialog der Ich-Erzählerin mit Krähen):

Ausländer machen die Einheimischen zu Pförtnern. Das bedeutet Wörterkrieg unter den zweigeteilten Einheimischen.“
Aber was meint ihr Krähen? Ausländer machen die Einheimischen zu Pförtnern?“
„Ja“ schrien die Krähen, „entweder ein guter Pförtner, der von seinem festen Platz aus entscheidet, ob ein Fremder durch das Drehkreuz gehen darf, oder ein böser Pförtner, der dich nicht durchlässt. Du wirst dich schämen, weil du dauernd ein Thema bist. Kein Mensch mehr, ein Thema.“

Emine Sevgi Özdamar
Ein von Schatten umgrenzter Raum
Roman
Suhrkamp 2021 · 763 Seiten · 28 Euro
ISBN: 978-3518430088
Bei Mojoreads oder im lokalen Buchhandel


Die Dringlichkeit des Augenblicks

Ein Weihnachtstipp von Hartmut Finkeldey

Virginia Woolfs Zum Leuchtturm ist ein Traum von einem Buch, in jeder Hinsicht. Schon der Plot: Die bildungsbürgerliche Familie macht Ferien auf den Hebriden. Die Mutter verspricht ihren Kindern, morgen zum Leuchtturm zu segeln, sofern das Wetter es zulässt. Aus der Fahrt wird nichts, wie vom Vater kühl vorhergesagt. Sie findet erst zehn Jahre und einen Weltkrieg später statt: ohne die Mutter Mrs. Ramsay (verstorben), ohne die Schwester Prue (Kindbettfieber), ohne den Bruder Andrew (Weltkrieg, die Granate war „gnädig“), ohne die anderen (abwesend oder nicht interessiert). Nur noch Mr. Ramsay, James und Camilla machen sich auf den Weg.

Mehr möchte ich eigentlich nicht verraten. Nichts über die feministische Malerin Lily Briscoe, die sich ein Jahrzehnt müht, das zusehends verfallende Haus der Ramsays zu malen. Nicht über den Vater, der immer recht hat und wenig versteht. Nichts über die Künstlerinnen, Künstler und Intellektuellen, die die Ramsays in ihrem Landhaus besuchen. Und so weiter.

Am Ende erreichen der alte Mr. Ramsay, Camilla und James den Leuchtturm, und Lily Briscoe, die gerade ihr Bild zu Ende malt, reflektiert:

Man weckte andere Menschen jedoch nur auf, wenn man wußte, was man sagen wollte. Und sie wollte nicht nur eins sagen, sondern alles. Unbedeutende Worte, die den Gedankenfluß zerrissen und zerstückelten, sagten gar nichts. ‚Über das Leben, über den Tod; über Mrs. Ramsay‘ – nein, sie fand, man konnte zu keinem etwas sagen. Die Dringlichkeit des Augenblicks verfehlte stets ihr Ziel. Worte flatterten zur Seite und trafen die Gegenstände um etliche Zoll zu tief. Dann gab man es auf; dann verlor die Idee an Kraft; dann wurde man wie die meisten Menschen mittleren Alters, vorsichtig, heimlichtuerisch, mit Falten zwischen den Augen und dem Ausdruck unablässiger Wachsamkeit.

Die derzeit aktuelle Übersetzung ist die von Karin Kersten, aber auch die ältere Übersetzung von Herberth und Marlys Herlitschka unter dem Titel Die Fahrt zum Leuchtturm ist brauchbar. Wer den englischen Text bevorzugt, dem empfehle ich die preiswerte Ausgabe in den Wordsworth Classics mit einer guten Einführung von Nicola Bradbury.

Virginia Woolf
Zum Leuchtturm
Roman
Aus dem Englischen von Karin Kersten, herausgegeben von Klaus Reichert
Fischer Taschenbuch 1993 · 240 Seiten · 13 Euro
ISBN: 978-3596120192
Bei Mojoreads oder im lokalen Buchhandel


Die frühe DDR aus Kindersicht

Ein Weihnachtstipp von Anselm Bühling

Mit Widerstreben denke ich an meine privilegierte Kindheit in einem Land zwischen Aufbruch und Stagnation und spüre, gleichsam in einer Gegenbewegung, den Sog der verflossenen Jahre wie ein Ziepen im Nacken. Als hätten sich die Fäden der Erinnerung verknotet wie meine langen Haare.

Helga Kurzchalia, geboren 1948, kehrt in diesem schmalen Buch zurück in die Kinderzeit, ihre eigene und die der jungen DDR. In den fünfziger Jahren zieht die Familie in das neu errichtete „Haus des Kindes“, eine der beiden markanten Turmbauten, die den repräsentativen, sozialistisch-klassizistischen Abschnitt der Karl-Marx-Allee – damals noch Stalinallee – eröffnen. Das Gebäude ist die steingewordene Verheißung des sozialistischen Staates an seinen Nachwuchs: Es gibt dort ein Kinderkaufhaus, ein Puppentheater und ein Kindercafé, das Erwachsene nur in Begleitung von Kindern betreten dürfen.

Kurzchalias Erinnerungsbilder erzählen – in verhaltener, genauer Sprache – auch vom Scheitern dieser Verheißung.

Die Sicht des Kindes, das die Vorgänge um sich herum aufmerksam beobachtet, wird durch das Wissen der erwachsenen Frau erhellt, aber nirgendwo durch Erklärungen oder Belehrungen überlagert. So entsteht ein tiefenscharfes, lebendiges Bild des Mikrokosmos im und um das Haus des Kindes.

Im Spiegel der Kindheitseindrücke ist zu ahnen, was die Gründergeneration der DDR jenseits des innersten Funktionärszirkels bewegte. Ihre Motive, Hoffnungen und Enttäuschungen werden sichtbar, und auch die zunehmende Desillusionierung der heranwachsenden Kinder. Das hilft, die Geschichte des Landes – und der Nachkriegszeit überhaupt – besser zu verstehen, wenn man sich, wie ich, dafür interessiert.

Helga Kurzchalia
Haus des Kindes
Friedenauer Presse 2021 · 140 Seiten · 18 Euro
ISBN: 978-3751806138
Bei Mojoreads oder im lokalen Buchhandel


Traumverloren und verstört

Ein Weihnachtstipp von Sieginde Geisel

Adelheid Duvanel (1936-1996) ist die große Unbekannte der Schweizer Literatur und der Band Fern von hier mit ihren gesammelten Erzählungen daher ein literarisches Ereignis. Oft sind diese Erzählungen nur eine oder zwei Seiten lang, kaum je sind es mehr als fünf oder sechs. Die Lektüre verstört und beglückt zugleich. Man kann nicht viel auf einmal lesen, denn jeder Satz ist eine Überraschung, doch gerade deswegen kann man mit Lesen kaum aufhören.  

Der Wind reißt mit Krallen an den Telefondrähten; zu der Melodie könnte man singen. Rot ist die Wolke, die am frühem Morgen über das glänzende Himmelsparkett tanzt; sie hält nach einer Ecke Ausschau, um die sie verschwinden könnte, doch Ecken gibt es keine.

Man begegnet einer seltsam fremden Wahrnehmung, alles ist brüchig in diesen oft traumverlorenen, manchmal unvermittelt brutalen Texten.

(Ihr fiel ein, dass sie den Bruder einmal am Telefon gefragt hatte, wie sie denn als Kinder sprechen gelernt hätten; seine Antwort lautete: „Wahrscheinlich außerhalb.“)

Adelheid Duvanel
Fern von hier
Gesammelte Erzählungen
Limmat 2021 · 792 Seiten · 39 Euro
ISBN: 978-3039260133
Bei Mojoreads oder im lokalen Buchhandel


Eine zerstörerische Idee

Ein Weihnachtstipp von Hartmut Finkeldey

George Orwells Roman 1984 muss wohl kaum beworben werden. Oder doch? Wäre 1984 nur, was er zweifellos auch ist: Protest gegen totalitäre Gewalt, dann wäre er ein achtbares Zeitdokument, aber mehr auch nicht. Er ist mehr. Dieses Jahr wurde Orwells Werk gemeinfrei – dass es gleich acht Neuübersetzungen gegeben hat, ist kein Zufall.

Die großartige Satire „Die Prinzipien von Neusprech“ im Anhang des Romans gehört zu den Schlüsseltexten des zwanzigsten Jahrhunderts (dass die Linke das nie verstanden hat, ist ihr großes, selbst verschuldetes Unglück). Allein diese Satire wäre die Lektüre wert.

Aber der Roman zeigt viel mehr: Er zeigt die Zerstörung von Liebe und Loyalität – also des Menschen – im Namen einer Idee. Die entscheidende Einsicht des Romans wird von Julia formuliert, einer Frau, die von sich selber sagt, literarisch und intellektuell nicht besonders beschlagen zu sein:

„Manchmal“, sagte sie, „bedrohen sie dich mit etwas, dem du nicht standhalten kannst. Und dann sagst du: – Tut das nicht mir an, macht es mit jemand anders, macht es mit Sowieso. – Danach kannst du vielleicht so tun, als wäre es ein Trick gewesen, dass du es nur gesagt hättest, damit sie aufhören, und du hättest es gar nicht so gemeint. Aber das ist nicht wahr. Wenn es passiert, meinst du es genauso. Du glaubst, anders kannst du dich nicht retten, und du bist absolut bereit, dich auf diese Weise zu retten. Du willst, dass sie es mit dem anderen machen. Dir ist scheißegal, was der zu erleiden hat. Du denkst nur noch an dich.“
„Du denkst nur noch an dich“, wiederholte er.
„Und danach empfindest du nicht mehr dasselbe für diesen Menschen.“
(Übersetzung: Frank Heibert)

Soweit ich stichprobenartig prüfen konnte, sind alle acht Neuübersetzungen als gelungen anzusehen. Hervorheben möchte ich zwei: Holger Hanowells solide, mit kenntnisreichem Nachwort versehene Übersetzung bei Reclam und Frank Heiberts experimentelle bei Fischer. Heibert hat, von der französischen Neuübersetzung durch Josée Kamoun inspiriert, den Roman ins Präsens transponiert, und er begründet diese Entscheidung (und einige andere z.B. zur Frage des Dialekts) in seinem lesenswerten Nachwort sehr genau.

George Orwell
1984
Roman
Aus dem Englischen von Frank Heibert
Fischer Taschenbuch 2021 · 336 Seiten · 12 Euro
ISBN: 978-3596907281
Bei Mojoreads oder im lokalen Buchhandel


Eine korsische Familienaufstellung

Ein Weihnachtstipp von Herwig Finkeldey

Laure Limongis Roman Sieben Tage Windstille ist ihr erstes ins Deutsche übersetztes Buch. Ich hoffe doch sehr, dass es nicht ihr letztes sein wird.

Ist die Erinnerung nicht ohnehin eine Dichterin, die sich für eine Historikerin hält?

fragt die Ich-Erzählerin Huma beinahe programmatisch, nachdem sie erstmals seit Jahren ihre Heimatinsel Korsika besucht. 

Die Geschichte von Humas Familie umklammert ein düsteres Geheimnis. Humas Eltern waren auf Korsika jahrelang auf der Flucht, und Waffen gehören für Huma zu den Kindheitserinnerungen.

Als kleines Mädchen war sie nicht nur ein Mal mit dem Kopf gegen die Baretta ihrer Mutter gestoßen […]

Huma reagiert darauf mit Hinwendung zur Kunst, zur Literatur, zur Musik. Das wäre beinahe eine konventionelle Coming of Age-Geschichte, gäbe es da nicht Alice, die Figur von Humas Mutter: eine Frau, die nie auf der Sonnenseite des Lebens stand und folglich Zeit ihres Lebens auch wenig Licht spenden konnte.

Der Titel des Buchs Sieben Tage Windstille bezieht sich auf eine Vogelart, die diese sieben Tage Windstille dringend benötigt: zur Bebrütung ihres Nachwuchses auf den Wellen des Mittelmeers. Alice hatte diese sieben Tage in ihrem Leben nie. Sie wuchs im Dauersturm heran, und wie sich zeigt, kann sie in der Folge auch ihrer Tochter keine Windstille bieten.

Laure Limongi
Sieben Tage Windstille
Roman
Aus dem Französischen von Valerie Schneider
mare 2021 · 288 Seiten · 22 Euro
ISBN: 978-3866486515
Bei Mojoreads oder im lokalen Buchhandel


Auf Spurensuche in der eigenen Familie

Ein Weihnachtstipp von Agnese Franceschini

Weihnachten ist eine Gelegenheit, verschiedene Generationen und ihre Geschichten miteinander zu verflechten. In Bianca Schaalburgs autobiografischer Graphic Novel Der Duft der Kiefern macht sich die Enkelin Bianca auf Spurensuche in ihrer Familie. Von Berlin bis Riga versucht sie Antworten auf die Fragen zu finden, die eine Spiegelkonsole mit Wäschekommode, ein Nachttischchen, ein Tisch und ein großer Schrank stellen, Möbel, die Bianca von ihrer Großmutter geerbt hat, gut verarbeitete und robuste Handwerkskunst. „Deutsche Wertarbeit“, die berühmte deutsche Gründlichkeit.

Doch: Woher kommen diese Zimmermöbel? Wer wohnte in dem Haus der Großeltern, vor ihrem Einzug im Jahr 1935? Die Namen auf den Stolpersteinen vor dem Haus geben Hinweise. Bianca Schaalburg verleiht den Namen eine Geschichte.

Wie viel kann der Mensch aushalten?
In Theresienstadt herrschten Gelbsucht, Typhus, Brechdurchfall. Letzteres erwischt auch mich.
Erschöpfung war das Meer, in dem ich badete.
Schmutz und Wanzen waren der Strand, auf dem ich wandelte.
Verzweiflung war die Brandung des Meers, das mich überflutete.

Mit einem poetischen Zusammenspiel von Worten und Bildern erzählt uns diese Graphic Novel die Geschichte einer deutschen Familie, die zugleich die Geschichte eines Landes ist.

Bianca Schaalburg
Der Duft von Kiefern
Graphic Novel
avant 2021 · 208 Seiten · 26 Euro
ISBN: 978-3964450586
Bei Mojoreads oder im lokalen Buchhandel


Bildnachweis:
Beitragsbild: Tim Reckmann Lizenz: CC-BY 2.0

Unterstützen Sie uns auf Steady

Teilen über:

Von Redaktion

Antworten

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert