Zu Karl Ove Knausgårds Kämpfen gibt es auch einen Page-99-Test von Frank Heibert.

Karl Ove Knausgård bewegt die Gemüter: Seinem autobiographischen Projekt in sechs Bänden nähern sich die einen mit berauschter Begeisterung und hantieren mit nichtssagenden Rezensentenfloskeln wie „Sog“, „Droge“ oder „Sucht“. Die anderen attackieren ihn barsch und sprechen ihm Intellektualität und literarisches Vermögen ab, manche attestieren seinen Lesern sogar fehlende Bildung. Mit solchen Extremen ist weder dem Autor noch der Literatur gedient. Aber Knausgård ist kein Trivialautor, er hat es verdient, dass man sich ohne Vorurteile mit ihm beschäftigt.

Der dritte Band Spielen seines Zyklus Min kamp (“Mein Kampf” 1-6) fängt an wie ein traditioneller Roman:

An einem milden und wolkenverhangenen Tag im August 1969 fuhr auf einer schmalen Straße am äußeren Ende einer südnorwegischen Insel […] ein Bus.

Eine kleine Familie steigt aus. Auf dieser südnorwegischen Insel – es ist Tromøy nordöstlich von Kristiansand – tritt der Vater eine Stelle als Grundschullehrer an, hier wird die Mutter als Krankenpflegerin arbeiten. Mit dabei sind die beiden Söhne: Yngve, viereinhalb Jahre, und Karl Ove, acht Monate alt. Der Kleine schlummert, der Große erkundet das Haus.

Derselbe Karl Ove wird sich vierzig Jahre später seinen Traum, Schriftsteller zu werden, erfüllen und die Geschichte seines Lebens erzählen. Zur Ankunft auf der Insel stellt er fest: „An diese Zeit kann ich mich naturgemäß nicht erinnern.“ Doch Erinnerungen müssen nicht unbedingt stimmen. „Das Gedächtnis ist keine verlässliche Größe“, schreibt er, für das Gedächtnis sei die Wahrheit nicht interessant.

Das Banale und das Tiefe

Eigentlich stellt sich Knausgård damit einen Freibrief aus. Erstaunlich, denn der Clou seines Projekts besteht ja gerade darin, dass er eben nichts erfunden haben will.

Was interessiert mich ein Roman mit Leuten, die es nie gab?

So lautet eine Aussage von ihm. So provozierend dieser Satz ist, Knausgård steht damit nicht allein:

Ich finde nur jemanden spannend, der über sich selbst schreibt.

So der Niederländer J. J. Voskuil 1996 im ersten Band seines autobiographischen Schlüsselromans Das Büro – eines ähnlich megalomanen Projekts von sogar sieben dicken Bänden.

Dass es bei Knausgård nur um ihn selbst geht, ist aber keine Egozentrik, sondern beruht auf der Einsicht, dass wir die andern nie durchschauen können:

Wir machen Bilder von der Zeit, nicht von den Menschen in ihr, sie lassen sich nicht einfangen.

Er versucht also, vor allem sich selbst zu ergründen, weil die anderen Menschen ohnehin unergründlich sind: Das ist ein Grund seiner (und unserer) Einsamkeit.

Und es ist einer der Gründe, warum wir bei seinem Projekt überhaupt von „Realität“ sprechen können. Denn real ist bei ihm nicht die nachgeahmte Wirklichkeit, sondern lediglich die einzelne Person. Das heißt nicht, dass die Handlungen erfunden werden, um eine höhere Wahrheit zu erschaffen. Vielmehr werden die Handlungen überhaupt nur beschrieben, um ihnen Sinn zu verleihen, sie auf eine höhere Ebene zu heben und sie dadurch real zu machen. Plötzlich werden das Banale und das Tiefe gleich wichtig: einerseits Alltägliches wie das Aufräumen des großmütterlichen Hauses nach dem erbärmlichen Tod des Vaters oder der detailliert beschriebene Silvesterabend mit nervenden Feten oder das mittlerweile totzitierte Windelwechseln – andererseits das hingebungsvolle und ernsthafte Nachdenken über das Wesen des Lebens und des Menschen.

Sinn durch Aufschreiben

Es ist überraschend, dass alle Kritiker Knausgårds auf die von ihm geschilderten Banalitäten hinweisen, um mit ihnen die Banalität seiner Prosa im Ganzen zu belegen. Dabei gibt es in der Literatur zahlreiche Hinweise für die Notwendigkeit des Registrierens der Dinge. 1909 erkannte Oskar Loerke in seinem Text Die Qualle:

Alles ist gleichwertig. Und überall ist der Mittelpunkt der Welt.

Aris Fioretos schrieb in 37 Thesen über einen griechischen Vater:

Ein griechischer Vater feiert das Dasein, indem er die Dinge ernst nimmt.

Der Vater macht also aus der Begegnung mit dem Alltäglichen ein Fest.

Und schon Goethe mahnte in seiner Rezension einer Autobiographie:

Wir sind verpflichtet, […] auch das Einzelne unnachläßlich zu überliefern.

Goethe selbst wollte in seinem autobiographischen Roman Dichtung und Wahrheit mehr, als nur seine Erlebnisse nacherzählen. Der Germanist Richard M. Meyer schrieb, dass bei Goethe „die ‘Dichtung’ als die höhere und die ‘Wahrheit’ als die einfachere Wirklichkeit seines Lebens zu einem organischen Ganzen sich zusammenfinden sollen.[…] Der Gesamtverlauf des wirklichen Lebens ist nur die Grundlage, auf der diese höhere Existenz, das Autorleben, sich aufbaut.“

Erst durch das Aufschreiben erhalten die Dinge ihren Sinn. Das Leben ist weniger banal, wenn darüber geschrieben wird. Rolf Vollmann stellte einmal die Frage:

Ist nicht aufgeschrieben erst alles wahr?

Bei Knausgård müsste sie lauten:

Ist nicht aufgeschrieben erst alles sinnvoll?

Das Banale ins Kunstwerk einbeziehen

Autobiographische Romane haben viele Facetten und gerade deshalb nur ein gemeinsames Merkmal: Offenheit. Sie können reflexive und kritische, beschreibende und berichtende Passagen enthalten und werden so zu einem potentiell offenen Kunstwerk, und zwar im gleichen Maße wie der Autor selbst ins Offene strebt. Ohne ihn zu nennen, paraphrasiert Knausgård gleich im ersten Band Sterben Hölderlin: „Ich wollte hinaus, hinaus ins Offene, Große.“ Erstes Gesetz von Friedrich Schlegels Universalpoesie ist, „daß die Willkür des Dichters kein Gesetz über sich leide“. Offen heißt nicht nur, verschiedene Gattungen im Kunstwerk zuzulassen, sondern auch das Banale ins Kunstwerk einzubeziehen.

Natürlich ist das ein romantisches Element. Ob Knausgård beim Schreiben romantisch gedacht oder an die Romantik gedacht hat, sei dahingestellt, aber wenn wir ihn lesen, müssen wir an Novalis’ berühmte Sätze aus den Logologischen Fragmenten denken:

Die Welt muß romantisiert werden. So findet man den ursprünglichen Sinn wieder. […] Indem ich dem Gemeinen einen hohen Sinn, dem Gewöhnlichen ein geheimnisvolles Ansehn, dem Bekannten die Würde des Unbekannten, dem Endlichen einen unendlichen Schein gebe, so romantisiere ich es.

Doch Knausgård ist nicht nur romantisch, er kennt auch die Skepsis. Sein Werk gehört zur Metamoderne, welche die ironische und „smarte“ Postmoderne längst abgelöst hat. Die beiden holländischen Kulturtheoretiker Robin van den Akker und Timotheus Vermeulen schreiben in ihren Anmerkungen zur Metamoderne (dt. 2015):

Die Metamoderne besteht in der Spannung, nein, der Zwickmühle zwischen dem modernen Wunsch nach Sinn und dem postmodernen Zweifel am Sinn überhaupt.

Der heutigen Generation bescheinigen sie eine Haltung des „pragmatischen Idealismus“. Im fünften Band Träumen sagt Knausgård, dass er sich für die Widersprüche im Leben und im Menschen interessiere, für Dinge, die „hässlich und schön, edel und gemein“ sind. Damit wird er zu einem Helden unserer „metamodernen“ Zeit, der die romantische Sehnsucht wiederentdeckt und die postmoderne Skepsis bewahrt, der zwischen Zuversicht und Wehmut, Begeisterung und Ironie pendelt. Dass die Postmoderne für Knausgård keine Rolle mehr spielt, wird schon dadurch klar, dass er nicht nur am Sinn festhält, sondern auch an der Wahrheit: Er glaubt an die Wahrheit und strebt Wahrhaftigkeit an. Im Abschlussband Kämpfen spricht er von der „eigenen, besonderen Schrift, die das Wahre und Eigentliche sucht“, an anderer Stelle heißt es: „Wollte ich darüber schreiben, müsste ich wahrhaftig sein.“

Aufs Ganze gehen

Die „metamoderne Oszillation“, die Mischung aus banal scheinenden Passagen und existentiellen, philosophischen oder künstlerischen Reflexionen, macht Knausgårds Autobiographie so einzigartig. Seine Reflexionen sind in der Regel ausführlich und bestehen keineswegs nur aus „ein paar reflektierenden Sätzen“, wie ein ignoranter Rezensent behauptete. Die Kraft dieser Prosa besteht darin, dass wir immer auch mit großen Fragen konfrontiert sind: Was ist Tod? Erinnerung? Arbeit? Liebe? Stille? Kunst? Er versteht das Leben als Ganzheit, mit allem Drum und Dran, jedes Detail, auch das banale, helfe beim Aufbau der Wirklichkeit, so Knausgård im Gespräch. Alle Elemente haben ihre Rolle und können nicht mehr voneinander getrennt werden; plötzlich sind sie nicht mehr ephemer und irrelevant, sondern reale Bausteine des realen Lebens. Daraus ergibt sich die Einsicht, dass „alles mit allem zusammenhängt“ – sinngemäß sagt Knausgård das an mehreren Stellen seines Projekts.

Nein, es geschieht nichts Weltbewegendes bei Knausgård, aber wir lesen ja seine Bücher nicht, weil wir wissen wollen, wie es weitergeht. Warum sind wir trotzdem gebannt? Das Geheimnis seines Erfolgs liegt unter anderem darin, dass er immer mit Emphase schreibt, mit großer Leidenschaft. Er ist immer von einem Gedanken ergriffen – selbst wenn es darum geht, seine Depression, seine Komplexe, seine Niederlagen, Schwächen, sein Versagen zu schildern. Sein Duktus ist draufgängerisch, nie zögerlich – auch nicht, wenn er seine zögerliche Haltung in bestimmten Situationen beschreibt. Er geht immer aufs Ganze. Das meint wohl auch Angelika Klüssendorf, wenn sie in der Zeit von seinem „rüden Stil“ spricht. Sie wirft ihm auch „grammatikalischen Irrsinn“ vor. Dieser Vorwurf, wenn er überhaupt stimmt, müsste übrigens an den Übersetzer gerichtet werden. Wenn die Autorin ihrem Kollegen allerdings eine „Flucht in aggressives Nicht-Erkennen und Nicht-Denken“ ankreidet, fragt man sich, ob sie je eine Seite gelesen hat. Denn Knausgård tut fast nichts anderes, als zu erkennen und zu denken, die ganze Zeit, von Anfang bis Ende!

Zügellosigkeit des Denkens

Knausgårds Mammutprojekt ist als autobiographischer Roman nicht neu, großartig aber ist die Zügellosigkeit seines Denkens, eine regelrechte (oder eher regellose) Gedankenflut. Unerschrocken, radikal und rücksichtslos, auch gegen sich selbst, schildert er die Bandbreite seines Lebens. Das hat so noch keiner getan. Inspiriert ist er sicher von einem seiner Lieblingsautoren, Jack Kerouac. Im Anhang von Unterwegs listet Kerouac 30 „unentbehrliche Hilfsmittel“ für eine „moderne Prosa“ auf (bereits 1955!), von denen Knausgård einige übernommen hat.

Komponiere wild, undiszipliniert, rein! Schreibe, was aus den Tiefen deines Innern aufsteigt! Je verrückter, desto besser!

Mach es wie Proust: Gehe mit dem Schatz deiner Erfahrungen und Erinnerungen hausieren.

Das tut Knausgård, doch mit den Erinnerungen hat es eine besondere Bewandtnis. Er betont nämlich unentwegt, er habe ein schlechtes Gedächtnis, was ihn auch mit Proust verbindet. Proust kramt die Vergangenheit nicht einfach hervor, sondern sieht sie neu; er schöpft seine Welt aus einer „tiefen, dem Willen unzugänglichen Quelle“ (Dieter Wellershoff). Diese unwillkürliche Erinnerung hat eine Voraussetzung: das Vergessen. Durch das Vergessen wird das Gedächtnis zu einem Instrument der Entdeckung.

Zu Knausgårds Radikalität gehört auch die Aversion gegen jegliche Denkverbote. In Kämpfen gibt es einen Text-Solitär mit dem Titel „Der Name und die Zahl“, in dem er sich mit der Bedeutung von Namen, mit Paul Celans Gedichten und mit dem „einzigen absoluten Tabu in der Literatur“ beschäftigt: Adolf Hitlers Mein Kampf. Um das Buch zu verstehen, schildert er Hitlers Jugend und berührt dabei eine zentrale Problematik der Geschichtsschreibung. Er versucht nämlich, Hitler ausschließlich in seiner Zeit zu verstehen, d.h. er sieht die Vergangenheit mit ihren eigenen Prämissen. Er geht also nicht retrospektiv vor, sondern sozusagen prospektiv. Dieser Essay im Roman wäre einen eigenen Beitrag wert, so ungewöhnlich ist Knausgårds Betrachtung eines Problems, das für uns ausdiskutiert schien.

Dramaturgische Komposition

Dass seine Reflexionen verzwickt sein oder stilistisch unbeholfen wirken können, liegt an der absoluten Freiheit, die er seinen Gedanken lässt. Im Vergleich dazu sind die Naturbeschreibungen gekonnt. Die Natur – als das nichtmenschliche Weibliche – spielt eine gewichtige Rolle. Die Intensität, mit der sie durchgehend geschildert wird, ist umso auffälliger, je banaler er Alltäglichkeiten zu beschreiben scheint. Als er im vierten Band Leben als kommender Aushilfslehrer ins Örtchen Haafjord im hohen Norden reist, geht es unter tiefblauem Himmel durch eine majestätische Landschaft, bis sich ihm ein grandioser Blick auf den sommerhellen Fjord mit den riesigen Bergen eröffnet. Knausgård hat ein spannendes und gespanntes Verhältnis zur Natur, die er an einer Stelle als nichtexistent, als „Klischee“ bezeichnet. Da straft er sich selber Lügen, denn es wird uns zunehmend bewusst, dass er die Natur als Herrscherin anerkennt, sie ist schön, mächtig, farbig, aber auch unbegreiflich und überwältigend. Ja, es scheint sogar, als wäre nur sie es wert, poetisch beschrieben zu werden.

Der weitgehenden Kunstlosigkeit der Sprache steht eine wohldurchdachte dramaturgische Komposition gegenüber, die Reihenfolge und der Stil seiner Geschichten und einzelnen Passagen sind nicht beliebig. Knausgård beginnt den ersten Band Sterben mit dem Tod und mit den Prozessen, die das Sterben im menschlichen Körper auslöst (wissenschaftlich-phantastischer las man das höchstens in Peter Adolphsens Herz des Urpferds, 2008), und beendet ihn mit dem konkreten Tod eines Menschen: seines Vaters. Ohne den Tod dieses Vaters wäre das Projekt nie zustande gekommen.

Allein schon durch den Anfang des ersten Bandes, der das Ich zunächst ausschaltet, weil er allgemeingültige Verfallsprozesse im toten Körper beschreibt, kann man Knausgårds Erfolg nicht bloß mit flachem Voyeurismus des Publikums erklären. Ja, wir betreten ein anderes Leben – aber weder wie einen heiligen Raum noch wie ein Bordell, sondern eher wie Räume in einem Museum, in denen wir Bilder sehen und wirklich sehen, neu sehen, von denen wir uns beeindrucken lassen, deren Seele wir spüren, deren Stimmung, so dass sie uns unmittelbar ansprechen. Ob wir da nun etwas von uns selbst sehen und wiedererkennen oder aber etwas Fremdes entdecken, ist einerlei. Sein Roman ist der Ort, an dem Karl Ove Knausgård ganz er selber ist und trotzdem universell.

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Von Peter Urban-Halle

Lebt als Literaturkritiker und Übersetzer in Berlin.

Ein Kommentar

  1. Es geschieht nicht oft, dass einem beim Lesen eines kritischen Essays das Herz aufgeht. Und vielleicht ist der Herzaufgang auch keine eigenständige Kategorie literarischen Tuns, aber hier ereignet sich doch etwas im Schreiben, wodurch sich ein neuer Betrachtungs- und Lesesaal öffnet.

    Ein paar Bemerkungen aus meiner Leseerfahrung würde ich gerne anfügen. Knausgård (KOK) war 2015 mal in Berlin, schwer gehypt. Im Publikum jüngere Frauen, ältere Frauen und Männer allen Alters, die zum Herausfinden da waren, warum sie so sein wollten wie er. Und KOK, sichtlich verlegen, stockt so ein bissl herum, kommt dann aber doch ins Reden. Damals habe ich mir das aufgeschrieben:

    Du kannst nur zwei Leben haben.
    Das des Schreibens und das der Familie
    Aber es gibt kein drittes.
    Ich habe kein soziales Leben.
    Ich gehe um 8 oder 9 ins Bett,
    um früh aufzustehen.
    Um zu schreiben.
    Ich habe nie etwas anderes gewollt
    als zu schreiben.
    In Bergen habe ich viel geschrieben.
    Artikel, Sachen für die Uni, Briefe,
    wahnsinnig viele Briefe.
    Jedes Mal, wenn ich mich hingesetzt habe,
    um richtige Literatur zu verfassen,
    komplexe, hochwertige Literatur
    (er macht mit seiner erstaunlich großen,
    aber leicht durch die Luft schwenkenden Hand,
    die mit jeder Wiederholung wie ein Werkzeug geformt
    zu sein scheint, eine horizontale Bewegung
    etwa in Höhe des Herzens)
    jedes Mal, wenn ich mich hingesetzt habe,
    um komplexe, wirklich wichtige Literatur
    zu schreiben, kam nur ein Satz heraus
    (er lässt Daumen und Zeigefinger der rechten Hand
    eine Bewegung aufeinander zu machen und stoppt
    kurz vor ihrer Berührung. Eine Bohne könnte dazwischen
    passen. Oder ein flacher Kiesel).
    Und wenn ich es wieder probierte,
    nur ein Satz. Ich war verzweifelt.

    Nun. Ich will mal so sagen: das hat mich beeindruckt. Viel später habe ich dann „Sterben“ gelesen. Alles Mögliche wird da verhandelt. Vom Ende her, aus der Mitte, von Geburts wegen, vom Schnee her und Celine Dion-CDs.
    Es tauchen Würstchen auf, Gitarrenkästen, zerkloppte Schienbeine und der tote Vater, der an vielen Stellen des Buches noch gar nicht tot ist, dessen Abarbeitungssubstanz ganz langsam löchrig wird (wie die Maschen seines weißen Norwegerpullis, gestrickt, nicht gehäkelt ;-), bis er im Mulm des eigenen Messitums von seinen Söhnen gefunden wird. Nie kann ich die erzählten Tage vergessen, die sich Karl-Ove und Yngve dem Klorix-Schrubben und Klar-Schiff-Machen des versifften, zusammengeschissenen Sterbehauses widmen. Überwacht von der “schusseligen” Großmutter, die es als letzte mit ihrem Sohn ausgehalten hat.

    Das hat mir auch an Frank Heiberts Page-99-Test gefallen, dass er sich die Familien99Zahnbürste sozusagen mit weißem Latz und offenen Augenhänden genau angeschaut hat. Die Gefahr, an der Glätte “toter Sprache“ abzurutschen, besteht ja, sie wird aber rechtzeitig im Prozess des Abgleitens als Weiterschreibfläche (lesen ist schreiben ist lesen) erkannt.
    Dies bringt mich (und andere, wie einigen Kommentaren dort zu entnehmen ist) auf neue Lesegedanken. Es gibt da eine Textur, in die ich mich als Leser immer wieder hinein begeben kann, wie in einen wirklichen Zauberwald. Nur ohne den Kitsch.

    Ich war erstaunt darüber, wie gut die Erzählfigur mein Leben zu kennen scheint (Vatersein, Wut, Ruhe, Glück-Nichtglück, Schreiben-Nichtschreiben, Rauchen, Kaffeetrinken). Dann wieder lange Strecken, wo es nur Sound gibt, und husch! ist man 50 Seiten weiter. Und plötzlich stößt man auf so was… „Man weiß zu wenig, und es existiert nicht. Man weiß zu viel, und es existiert nicht. Schreiben heißt, das Existierende aus dem Schatten dessen zu ziehen, was wir wissen. Darum geht es beim Schreiben. Nicht, was dort geschieht, nicht, welche Dinge sich dort ereignen, sondern es geht um das Dort an sich. Dort ist der Ort und das Ziel des Schreibens. Aber wie kommt man dorthin?“ (251, Sterben)

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