Tiefe entsteht in der Literatur durch die Formulierung. Tiefe Sätze sind Sätze mit Hallraum. Jeder versteht sie, und doch kommt man mit ihnen nicht an ein Ende. Sie drücken etwas Komplexes in elementarer Klarheit aus. Um mit Schopenhauer zu reden: Sie sagen ungewöhnliche Dinge mit gewöhnlichen Worten.
Die Bibel ist voll von solchen Sätzen.
Denn wer da hat, dem wird gegeben, dass er die Fülle habe; wer aber nicht hat, dem wird auch das genommen, was er hat.
Schaut die Lilien auf dem Felde, wie sie wachsen: Sie arbeiten nicht.
Wahrlich, ich sage euch: Was ihr getan habt einem von diesen meinen geringsten Brüdern, das habt ihr mir getan.
Wenn von Tiefe die Rede ist, benutzen wir meistens Metaphern des Wassers. „Tiefgang“ ist ein Wort aus der Schifffahrtssprache, es bezeichnet den Abstand zwischen dem Kiel eines Schiffs und der Wasseroberfläche. Der Kulturphilosoph George Steiner beschreibt in seiner poetologischen Autobiografie Errata die Tiefe mit einem anderen Bild.
Es ist, als ziehe das Gedicht, das Gemälde, die Sonate rings um sich einen letzten Kreis, einen Raum für unverletzte Autonomie. Ich definiere den Klassiker als das, um welches herum dieser Raum beständig fruchtbar ist.
Diese produktive Zone erlaubt es den Lesern, sich das Werk bei jeder Lektüre erneut zu eigen zu machen. Zu den phönixhaften Werken, die sich im Bewusstsein ihrer Leser ständig selbst erneuern, gehören die Texte von Franz Kafka. Seine Erzählung Die Verwandlung ist im Deutschunterricht so beliebt, weil man an ihr das Handwerk der Interpretation so schön üben kann. Doch auch wenn man die ganze Klaviatur daran abarbeitet – psychologisch, soziologisch, semiotisch, allegorisch –, nie sieht man bis auf den Grund dieser Geschichte. Sie erzählt jeder Leser-Generation aufs Neue, was geschieht, wenn einem Menschen das Menschsein abgesprochen wird.
Die Wiederverzauberung der Welt
Künstler geben uns Bilder, die uns helfen zu leben.
So umschreibt der Mythologe Joseph Campbell das Phänomen der Tiefe. Früher, so Campbell, hätten die Mythen und Religionen diese Bilder geschaffen. Die Kunst wäre demnach die Fortsetzung des Mythos mit anderen Mitteln. Die Tiefe in der Literatur liegt jenseits der psychologischen oder soziologischen Analyse, ebenso jedoch jenseits der reinen Spielerei des l’art pour l’art. Es geht um die Wiederverzauberung der Welt – und um die Wiedergewinnung der Transzendenz.
Die östliche Spiritualität unterscheidet zwischen Ego und Selbst. Das Ego ist ständig in Gefahr, sich vom Selbst zu entfremden, denn es lässt sich von flüchtigen Emotionen hinreißen und durch Irrtümer blenden. Das Selbst dagegen ist unvergänglich, und es birgt, was alle Menschen gemeinsam haben: das Wissen um die Sterblichkeit, den Wunsch nach Sinn, die Fähigkeit zur Liebe. Literatur, so könnte man demgemäß sagen, gewinnt Tiefe, wenn sie nicht auf der Ebene des Ego verharrt, sondern die Konflikte zwischen Ego und Selbst darstellt und dabei die menschliche Existenz auslotet, bis in ihre Abgründe und ihre Ekstasen. Wo dies gelingt, erkennen sich die Leser in einem Werk wieder, auch Jahrhunderte später.
Literatur beginnt oft, wo die Absicht aufhört. „Hast du gemerkt, dass es schon im ersten Kapitel einen Namenswechsel gibt?“, sagte Katja Petrowskaja in einer unserer Lektoratssitzungen zu Vielleicht Esther. In der Familie, von der das Buch handelt, sind die Namenswechsel ein historisches Leitmotiv: Aus Heller/Geller wurde Krzewin, aus Semjon Stern Semjon Petrowskij, aus Iwan Petrowskij dann, zwei Generationen später, Yohanan Petrovsky-Shtern. „I’m a Jew from Teheran, sagte der alte Mann, als wir noch am Bahnsteig standen, Samuel ist mein neuer Name“, so heißt es im ersten Kapitel. Dieser Namenswechsel war nicht geplant, er war der Autorin beim Schreiben nicht einmal bewusst. Er ist ein Geschenk des Texts an die Autorin.
Kontrollverlust
Ein Text, der Tiefe entwickelt, lässt sich nie bis ins Letzte fassen, das gilt nicht nur für die Lektüre, sondern bereits für den Prozess des Schreibens.
Ich glaube, dass das Unbewusste weitaus komplexere Strukturen hervorbringen kann als der Verstand.
So die Komponistin Charlotte Seither. Weiß ein Autor zu genau, was er tut, kappt er die Verbindung zum Unbewussten und kann nur etwas Endliches zustande bringen, wenn auch vielleicht mit höchstem technischen Können. Denn wenn alles aufgeht, ist die Lektüre erschöpfend, egal wie raffiniert und komplex das Konstrukt.
Der Text ist klüger als sein Autor.
Dieser Satz von Heiner Müller gilt nur für Texte, die das Bewusstsein ihres Autors transzendieren.
Der Text schreibt sich selbst.
Der Stoff hat mich gefunden.
Die Figuren entwickeln ein Eigenleben.
So beschreiben Autoren den geheimnisvollen Vorgang des Kontrollverlusts in der Kreativität. Die Erfahrung ist so allgegenwärtig, dass die Aussagen zum Klischee geronnen sind. Franz Kafka beschreibt das Spiel dieser Energien in seinem Tagebuch mit einem ungewöhnlichen Bild:
Ich habe über Dickens gelesen. Ist es so schwer und kann es ein Außenstehender begreifen, daß man eine Geschichte von ihrem Anfang in sich erlebt, vom fernen Punkt bis zu der heranfahrenden Lokomotive aus Stahl, Kohle und Dampf, sie aber auch jetzt noch nicht verläßt, sondern von ihr gejagt sein will und Zeit dazu hat, also von ihr gejagt wird und aus eigenem Schwung von ihr läuft, wohin sie nur stößt und wohin man sie lockt.
20. August 1911
Tiefe entsteht durch die Art und Weise, wie etwas erzählt wird. Denn die Suche nach dem richtigen Wort, nach der Genauigkeit führt in die Tiefe des eigenen Bewusstseins – und oft auch in die Tiefe der Sprache selbst, denn „die Wurzel der Worte reicht in das Herz der Dinge“ (George Steiner).
Das Schreiben sei für ihn „ein Schöpfen aus Gefäßen“, sagt Thomas Harlan in einem Interview.
Ich greife dem einzelnen Satz nicht voraus, ich muss den Worten nicht hinterherlaufen. Es ist ein Strudel, und ich bohre mich rein. An den Wörtern, die dann auf dem Papier stehen, kann nichts Zufälliges sein. Wenn ich merke, daß ich noch nicht ins Genaue hineinstoße, bewege ich mich wie eine Libelle. Ich zittere über dem Satz, bis ich hineinstoße. Ich finde das richtige Wort durch Libellenzittern, schnelle Bewegungen über der Fundstelle. Irgendwann ist es da, und es gibt nur dieses eine Wort.
In seinem letzten Lebensjahr habe ich mit Thomas Harlan an Korrekturen zu seinem Roman Heldenfriedhof gearbeitet. Dass zynische Täterbegriffe wie „Euthanasie“ und „Endlösung“ nicht im Buch vorkommen durften, verstand sich von selbst. In der Erstausgabe von Heldenfriedhof hatte Thomas Harlan diese Worte in einer wichtigen Passage weggelassen, dadurch waren Leerstellen entstanden, die den Text unzugänglich machten. Wir überlegten: Gibt es ein Wort für Euthanasie, das in der Zeit des Geschehens möglich gewesen wäre und das Verbrechen nicht verharmlost? Der Mord an den geistig Behinderten? An den psychisch Kranken? Zu eng. Zu ungenau. „Es gibt das richtige Wort, ich muss es nur finden.“ Auf einmal war es da, entstanden in einem komplexen Wechselspiel zwischen bewusstem und unbewusstem Denken. „Der Mord an den Unheilbaren.“ Unheilbar sind wir alle, am Ende unseres Lebens, und das war es wohl, was die NS-Verbrecher fürchteten. In der Gestalt der sichtbar Kranken sahen sie ihre eigene Sterblichkeit gespiegelt. Auf einmal sind wir alle im Spiel, dank des einen richtigen Worts.
Vermintes Gelände
Tiefe wird uns vor allem dann bewusst, wenn wir sie vermissen. Dann sprechen wir von einem seichten Buch. In einem seichten Gewässer sieht man bis auf den Grund, da gibt es kein Geheimnis, und genau deshalb hat Trivialliteratur keine Tiefe: weil sie alles benennt. In ein Buch eintauchen kann man nur dann, wenn es nicht seicht ist, und dass ein Werk Tiefe hat, erweist sich wiederum daran, dass man es nicht erschöpfend lesen kann. Mit solchen Büchern wird man nie fertig. Sie arbeiten in uns weiter, ohne dass uns dies bewusst ist.
So leicht uns die Feststellung fällt, dass ein Werk seicht sei, so schwer tun wir uns mit der Tiefe. Mit diesem Kriterium verlassen wir den sicheren Boden des Rationalen und begeben uns auf vermintes Gelände. Die Tiefe steht unter Verdacht von Kitsch und Pathos, es droht das „Raunen“, ein denunziatorischer Begriff in der Literaturkritik – und ein Abwehrreflex. Weil die westliche Moderne den Kontakt zur Spiritualität verloren hat, ist uns alles Spirituelle unheimlich. Tiefe Wasser sind unergründlich. Ein Werk, das Tiefe hat, will etwas von uns. Es versetzt seine Leser in einen anderen Zustand, das ist nicht immer angenehm, es kann uns verstören. Tiefe ist in der Literaturkritik auch deshalb unbeliebt, weil sie sich nicht „beweisen“ lässt. Im Gegensatz zu seichten Werken spricht Tiefe zu jedem Menschen anders – und beim Wiederlesen jedes Mal neu.
Türen öffnen sich, wo zuvor keine waren, und sie öffnen sich für niemand anders.
Joseph Campbell spricht in diesem Satz vom selbstbestimmten Leben, doch sein Bild gilt auch für das Lesen.
Die Sprache spiegelt unsere Schwierigkeiten mit dem Begriff der Tiefe: Die einschlägigen Wörter sind nicht mehr heil. „Tiefgang“, „Tiefsinn“, „tiefgründig“ – das kann man fast nur noch ironisch verwenden. Tiefe wird mit Gewichtigem assoziiert, mit Gedankenschwere oder gar einer Tragik, der wir nicht über den Weg trauen.
Dem muss nicht so sein.
Das Fräulein
Das Fräulein stand am Meere
Und seufzte lang und bang,
Es rührte sie so sehre
Der Sonnenuntergang.Mein Fräulein! sein Sie munter,
Das ist ein altes Stück;
Hier vorne geht sie unter
Und kehrt von hinten zurück.
Die Romantik hat sich durch Ironie mit ihren Abgründen arrangiert, und Heinrich Heine war ein Meister der ironischen Tiefe. Nur weil der Sonnenuntergang in dem Fräulein Rührung freisetzt, kann der Dichter sich über sie lustig machen. Sein Scherz ist nicht seicht, denn Heine berührt in dem Gedicht das Geheimnis des Universums: Das Staunen darüber, dass dieses alte Stück jeden Tag aufs Neue gegeben wird, verleiht seinen Versen ihre Poesie und, ja, Tiefe.
Die Romantik hat die Kunst als Gegengift zur Entzauberung der Welt durch die Aufklärung entdeckt. Keiner hat es schöner gesagt als Novalis:
Es ist seltsam, dass in einer guten Erzählung allemal etwas Heimliches ist – etwas Unbegreifliches. Die Geschichte scheint noch uneröffnete Augen in uns zu berühren – und wir stehn in einer ganz anderen Welt, wenn wir aus ihrem Gebiete zurückkommen.
Ein Lesefund aus dem neuem Buch Sieben Küsse. Glück und Unglück in der Literatur von Peter von Matt, dort ist das Zitat „statt eines Vorworts“ abgedruckt.
Tiefe Texte haben eine spirituelle Dimension. Verlasse ich mit diesem Satz das Territorium der Literaturkritik? Ich spüre einen Tabubruch. Doch Hand aufs Herz: Warum lesen wir überhaupt Bücher und führen tiefgründige Gespräche?
Damit wir mit den letzten Fragen nicht allein bleiben.
Liebe Sieglinde, Dein Artikel hat mich froh gemacht. Es ist wunderbar, dass Du es wagst ,eine Lanze zu brechen für die arg geschundene Spiritualität. Deine Zitate, Deine Gedanken sprechen mir aus der Seele. Hab Dank für diese überzeugende Stellungnahme. Das Gleiche würde ich sagen, gilt für die Kunst. wie viele sehnen sich danach und scheuen doch, sich dazu zu bekennen, weil Spiritualität so schnell in die Nähe der verachteten Esoterik geschoben wird.
Wie erleuchtend ist das Bild der Libelle, eigentlich für alle Kunst!
Eine sehr schöne Zitatensammlung zum Thema, vielen Dank!