Wie lässt sich eine Liebesgeschichte ohne Geschlechtszuordnung erzählen? Diesen Clou des Romans Sphinx hatte die Seite 99 im Test nicht preisgegeben, daher wollte ich es wissen und habe mir das ganze Buch vorgenommen.
Das Unterfangen liest sich erstaunlich mühelos: Abgesehen von den neutralen Benennungen der beiden Hauptpersonen – „ich“ und „A***“ – verzichtet der Text auf jegliche Pronomen in allen Fällen der Deklination (sie/er, ihr/sein, ihr/ihm, sie/ihn). Die Pronomen werden ersetzt durch wiederholte Benennungen oder, bei Possessivpronomen, durch den Artikel oder das Demonstrativpronomen: „der Körper“, „diese Haut“, „ein Blick“. Das klingt nüchterner, distanzierter, als wenn es hieße: „ihr Körper“, „seine Haut“, „ihr Blick“.
Da das Ich des Romans so genau beobachtet und die Beziehung nicht nur erzählen, sondern auch ergründen will, passt dieser analytischere, trockenere Ton. Auch dann, wenn es um Leidenschaft, Obsession, Ausschweifung geht:
Im Mund habe ich noch immer den Geschmack von Haut, vom Schweiß auf dieser Haut. An den Händen das Gefühl sowohl dieser Haut als auch der Konturen dieses Körpers. In einer ungebrochenen Dunkelheit – sei es, weil ich die Augen geschlossen hatte oder vorübergehend mit Blindheit geschlagen war – ein paar eindringliche Bilder und im Ohr der Widerhall von Flüstern, von kaum artikulierten Worten. Ich könnte niemals genau wiedergeben, was geschah – weder schildern noch auch nur benennen, was ich machte oder mit mir gemacht wurde.
Wir haben es mit einer rückblickenden Aufarbeitung, einer Vergewisserung zu tun: Wie ist das alles geschehen, und wie konnte es geschehen? Da außerdem beide Figuren gesellschaftliche Konventionen ignorieren oder verweigern, erscheint es nur konsequent, dass das Ich von ihrer Beziehung erzählt, ohne sich um die klassischen Vorbilder für Paarbeziehung und männliches vs. weibliches Rollenverhalten zu scheren.
Trotzdem ist es mir beim Lesen schwer gefallen, mir zu den detaillierten Beschreibungen keine Gesichter und Körper vorzustellen, ich habe mich immer wieder dabei ertappt, das Fehlende intuitiv zu ergänzen. Vielleicht liest jeder und jede das anders. Vielleicht lenkt das androgyne Aussehen der Autorin auf die Fährte eines lesbischen Paares, so unzulässig die Gleichsetzung zwischen Autor und Erzähler bekanntlich auch ist. Ich habe versucht, das Experiment aktiv mitzugestalten und immer wieder bewusst hin- und hergeschaltet: Und wenn das jetzt zwei Frauen, zwei Männer wären? Oder Mann und Frau, in wechselnder Zuordnung?
Wie würde das mein Lesegefühl ändern? Die beiden Figuren bewegen sich durch ein wildes, schräges Nachtleben im Paris der 1980er Jahre und denken gar nicht daran, sich anzupassen – das Ich an der Universität, A*** auf Variétébühnen. Da scheint eine homosexuelle Beziehung etwas geschmeidiger ins Bild zu passen. Andererseits: Gegen genau diese Art von Wahrnehmungsklischee richtet sich Anne Garrétas ganzer Ansatz. Ihre Haltung, das Geschlecht der Figuren in diesem Buch für irrelevant zu erklären, überzeugt letztlich so sehr, dass die Lesefantasie irgendwann keine Bilder mehr produziert, die den Figuren ein Geschlecht zuordnen. Die geschilderten Gefühle und Körperempfindungen sind wichtiger. Das beschert eine spannende Leseerfahrung, weil sie so prozesshaft und lebendig ist – und so erfrischend ungewohnt.
Sphinx
Roman
Aus dem Französischen von Alexandra Baisch
Mit einem Nachwort von Antje Rávic Strubel
edition fünf 2016 • 184 Seiten • 19,90 Euro
ISBN: 978-3-942374-83-5
Bei Amazon oder buecher.de
Zum „androgynen Aussehen der Autorin“ fällt mir noch ein, dass der Vorname „Anne“ in Frankreich vor allem im 16. und 17. Jahrhundert durchaus auch für Männer üblich war. Wenn die beiden Hauptpersonen „ich“ und „A***“ heißen, könnte das auch noch eine weitere Lesart erschließen: Vielleicht ist nicht nur das Geschlecht der Hauptpersonen unbestimmt; vielleicht ist sogar offen, ob es sich um zwei Personen handelt oder um zwei Seiten einer Person?
Und noch etwas anderes: Es wäre interessant, sich verschiedene Sprachen mal daraufhin anzusehen, ob und wie sich eine Liebesgeschichte ohne geschlechtliche Festlegung in ihnen erzählen ließe. Im Russischen und anderen slawischen Sprachen wäre es beispielsweise noch viel schwerer, weil auch Adjektive und Verben viel stärker „durchgegendert“ sind – Verben lassen sich z.B. in den Vergangenheitsformen nicht ohne Genus-Festlegung verwenden.
Interessante Überlegungen! Die Lektüre des gesamten Romans lässt aber darauf schließen, dass dieser Deutungsausweg, es handele sich bei dem Ich und A*** womöglich um zwei Seiten einer Person, eher unwahrscheinlich ist. Sicher, multiple Persönlichkeiten könnten auch erzählende Hauptfiguren von Literatur werden, aber so viele und verschiedene Situationen der sozialen und sexuellen Auseinandersetzung miteinander, so häufiges “An verschiedenen Orten sein” wäre selbst für Menschen mit multipler Persönlichkeit wohl kaum vorstellbar.
Die Frage der Übersetzbarkeit in noch stärker durchgegenderte Sprachen muss sich die Autorin natürlich nicht stellen — Luxus. Damit kommen wir in den Bereich der Unübersetzbarkeit aufgrund der manifest anders funktionierenden Sprachsysteme. Das tun Sprachsysteme immer; zum Übersetzungsproblem wird es nur dann, wenn ein entscheidender Anteil der angestrebten inhaltlichen und ästhetischen Wirkung des Werks von einer spezifischen Eigenschaft der Originalsprache abhängt: nämlich derjenigen, dass dem starken geschlechtlichen Zuordnungsbedürfnis in der Gesellschaft eine schwächere Zuordnungsnotwendigkeit (oder -pflicht!) in der Sprachgrammatik gegenübersteht. Das literarische Experiment, sich dieser gesellschaftlichen Konvention zu entziehen, gelingt natürlich nur in Sprachen, die bei der Zuordnungspflicht Spielräume lassen.
Da die Sprache ja immer auch das Denken beeinflusst, dürfte die fehlende oder verweigerte Geschlechtszuordnung in den slawischen Kulturen noch überraschender und ungewöhnlicher wirken. Und, je nach Unkonventionalität der Verlage, erst recht (oder gar nicht!) ein Bedürfnis nach der Übersetzung auslösen …