Sie haben etwas Beklemmendes, die täglichen Zahlen von Inzidenzen und Infektionen und Reproduktionen und Sterbe-, manchmal auch Genesungsfällen. Sind es die Zahlen oder ist es die Art und Weise ihrer zum Ritual gewordenen Verkündigung, was einem manchmal die Luft nimmt? Folgt die Beklemmung daraus, dass Leben und Tod auf statistische Daten reduziert werden? Oder ist es die Tatsache, dass mithilfe von Zahlen Politik gemacht wird? Denn die Zahlen spiegeln ja weder die Wirklichkeit wider noch werden sie ausgewertet und interpretiert, und so erzeugen sie den Eindruck der Alternativlosigkeit.

Die Beklemmung hat also mannigfache Ursachen. Doch wie damit umgehen?  

Spirituelle Krise

Bei Gesprächen im vergangenen Jahr bin ich immer wieder auf den Begriff der spirituellen Krise gestoßen, die sich im Zusammenhang mit der Reaktion auf das Corona-Virus offenbart habe. Gemeint war damit in erster Linie unser entfremdeter Umgang mit Krankheit und Tod. Zugleich spürte ich, dass sich im Wort der spirituellen Krise noch etwas anderes zeigt. Ich komme ihm näher, indem ich Spirit als Hauch lese und spirare mit atmen übersetze.

Die spirituelle Krise als Krise des Atmens? Inmitten eines täglichen Zahlenrituals, das einem manches Mal die Luft nehmen kann?

Die Angst vor Krankheit und Tod macht die Gesellschaft atemlos, und so geraten wir in eine Situation der Ausweglosigkeit, welche die Schriftstellerin Thea Dorn kürzlich im Philosophie Magazin so beschrieben hat: „Todesvermeidung um jeden Preis führt den Menschen in eine existenzielle Aporie.“ Wenn der Mensch sein Handeln einzig danach ausrichtete, alles zu unterlassen, was gesundheitsgefährdend bis tödlich sein könnte, bliebe von seinem Leben nichts mehr übrig, das diesen Namen verdiente. „Noch etwas zugespitzter ließe sich sagen: der Mensch begeht Selbstmord aus Angst vor dem Tod.“ So heißt es bei Dorn.

Überwältigt von der Angst

Doch wie kommen wir aus der Aporie heraus? Kann dies überhaupt gelingen? Jede kurze und einfache Antwort wäre unangebracht. Aber den Raum für Fragen zu öffnen, wäre eine gesundheitlich unbedenkliche Öffnungsstrategie. Dies wäre ein Raum, in dem auch die kritischen Stimmen aus der Kunst, der Philosophie, der Literatur, den basisdemokratischen Kreisen (wenn es sie noch gibt), sich noch mehr zu Wort meldeten. Denn diejenigen, die einst für einen aufgeklärten Geist kämpften, der gerade auch dem Alleinvertretungsanspruch der Naturwissenschaft mit Methodenkritik begegnete, sind scheinbar verstummt und überlassen damit das Feld den Rechten und den Verschwörungstheoretikern.

Vielleicht schweigen die anderen, weil das Feld so stark besetzt ist. Vielleicht auch, weil sie überwältigt sind von der eigenen Angst vor Krankheit und Tod. Das Regieren auf der Basis von Angst scheint jedenfalls ein probates Mittel geworden zu sein, und kein anderes Thema bietet sich dabei besser an als die Gesundheit. Ich war jedenfalls entsetzt, als Minister Altmaier kürzlich verkündete: „Wir sind verantwortlich für die Gesundheit von 83 Millionen Menschen!“ Welche ungeheure Anmaßung kommt hier zum Ausdruck! Und das ausgerechnet von einem Wirtschaftsminister, der in der aktuellen Krise auf manifeste Weise versagt hat. Ich möchte immer noch selbst für meine Gesundheit verantwortlich sein und auswählen, welche Ärzte ich aufsuche, wie ich mich ernähre und mit welchen Freunden ich mich umgebe. Ich möchte nicht Teil eines Kollektivs sein, in dem mir verordnet wird, was für mich gesund ist und was nicht.

Die Chimäre der Verfügbarkeit

Es zeigen sich an diesem Punkt weitere Widersprüche: die zwischen physischer und psychischer und sozialer Gesundheit. Hier sollte eigentlich der Prozess des Abwägens beginnen – was auf jedem Beipackzettel unter Risiken und Nebenwirkungen aufgelistet wird. Die psychische Gesundheit der Menschen sollte nicht für das scheinbar einzig noch relevante Ziel, das Virus zu bekämpfen, geopfert werden.

Mit der Frage nach der Ausgewogenheit von Maßnahmen innerhalb dieses Spannungsfelds der unterschiedlichen Dimensionen von Gesundheit könnte man den angesprochenen Frageraum öffnen. Als Nächstes drängen die Themen heran, welche die spirituelle Dimension der Pandemie berühren: Fragen nach Vergänglichkeit, Sterblichkeit, Endlichkeit.

Hat das Virus nicht auch deswegen eine solche Macht über Gefühle und Entscheidungen bekommen, weil das Projekt der Moderne als das große Vergessen von Vergänglichkeit und Endlichkeit angelegt scheint? Plötzlich erweist sich die Vorstellung vollständiger Kontrolle über die Dinge und ihre jederzeitige Verfügbarkeit im Zeitalter grenzenlosen Fortschritts als Chimäre.

Durchlässige Grenzen

Müssen wir also den Umgang mit Grenzen neu erlernen? Die Antwort hat viel mit Spiritualität zu tun. Denn wenn wir vor Grenzen nicht angstvoll erstarren oder versuchen wollen, sie gewaltsam niederzureißen, bleibt nur, sie durchlässiger zu machen, ohne ihre Existenz zu leugnen. Es ist ähnlich wie bei der Haut, die wir als erste Grenze erfahren: Sie schützt uns, ist verletzlich – und zugleich atmet sie, durch sie hindurch kommen wir in den Austausch mit der Welt.

Unter den Philosophen war Emmanuel Lévinas einer der wenigen, die sich mit der Hautatmung beschäftigt haben. In der Verletzlichkeit der Haut zeigte sich für ihn eine Sensibilität, sich berühren zu lassen und daraus eine tiefere Fähigkeit des Hörens zu schöpfen, was Paul Ricoeur eine „Bewegung auf das Hören hin“ nannte. Eine Öffnung auf – ohne schon zu wissen worauf, ohne Erwartung und Intention. Mit dem anderen sein, ohne ihn zu vereinnahmen. Das heißt für mich Spiritualität: Resonanz, Verbindung, Durchlässigkeit, Berührbarkeit. 

Wissen und Atmen

Hier zeigen sich also unterschiedliche Wege eines Umgangs mit Grenzen. Im einen Fall überschreitet der Mensch die Grenze zum Anderen, zu den Gegenständen, zur Welt, indem er zugreift, sich ihrer bemächtigt, prüft, untersucht, bewertet und sie verfügbar macht. Im anderen Fall gibt es auf der anderen Seite der Grenze keinen „Gegenstand“, nur reine Beziehung oder Öffnung auf. Im Durchlässigwerden der Grenzen vollzieht sich das Dasein als lebendige Bewegung des Sein-Lassens und So-Seins. Romano Guardini nennt dies ein Wissen des lebendigen Inneseins und schreibt dazu:

Dieses Wissen ist in eine Linie mit dem Atmen gestellt. Dass man atmet und eben darin die Bewegung des Daseins sich verwirklicht, weiß man in der Form des Inneseins. [1]

Zwei Haltungen zur Welt also, ausgedrückt im unterschiedlichen Umgang mit Grenzen: Im einen Fall geht es um Bemächtigung, indem der Mensch sich die Welt verfügbar macht. Im anderen Fall geht es um Beziehung im Sinne von Begegnung, Berührung, Resonanz. Liegt aus dieser Sicht nicht eine große Kraft im Annehmen von Vergänglichkeit und Endlichkeit? Eine Kraft, die Wege ins Offene zeigen würde? Vielleicht sogar eine tiefere Weisheit, derer wir gerade in dieser Zeit bedürfen?


[1] Romano Guardini:  Zu Rainer Maria Rilkes Deutung des Daseins, Verlag Helmut Küpper 1948,  S.62


Beitragsbild: Anke Sundermeier via Pixabay


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Von Frank Hahn

Freier Autor in Berlin und Vorsitzender des Vereins „Spree-Athen e.V.“, der regelmäßig ins Literaturhaus Berlin zu Vorträgen aus den Bereichen Philosophie und Literatur einlädt.

3 Kommentare

  1. Der Gedankengang ist interessant und bedenkenswert. Dennoch: Würden SIE PERSÖNLICH die “Kraft im Annehmen von Vergänglichkeit und Endlichkeit” haben, wenn Sie selber oder ein nahe verwandter Mensch betroffen wären? (Da steckt auch ein Stück Anmaßung drin.)Was heißt das konkret “Eine Kraft, die Wege ins Offene zeigen würde?” Was ist dann das Offene? Rein logisch gesehen würde das den Glauben an wiederholte Erdenleben voraussetzen, wie er bei Anthroposophen üblich ist. Die fordern die individuelle Freiheit (z.B. beim Maskentragen) im Vertrauen auf Schicksalsfügung. Auch bei anderen Problemstellungen wie Demenz oder Krebserkrankung kommt diese Denkrichtung immer wieder an die Grenzen: Was ist, wenn ich PERSÖNLICH (INDIVIDUELL)betroffen bin? Nein, der Staat ist nicht für x Millionen verantwortlich, aber ich bin für mich selber verantwortlich UND für den unmittelbaren Nächsten. Merken Sie, Herr Hahn, wie schnell mensch in ein vermintes Niemandsland gerät (um in Ihrem Bild zu bleiben)?

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  2. Lieber Herr Mücke,
    ich habe den Eindruck, als ob Sie bei Vergänglichkeit und Endlichkeit ausschließlich an den Tod denken. Ich habe aber ganz bewusst nicht von Sterblichkeit gesprochen. Endlichkeit erleben wir vielfältig, so gegenüber Naturkräften, oder Bemühungen, mit denen wir scheitern. Die Vergänglichkeit zeigt sich uns, wenn wir uns des Vergangenen erinnern, aber defacto in jedem gerade vergehenden Augenblick. Insofern sind wir fortlaufend mit Verlust konfrontiert, lassen aber selten zu, darüber zu trauern oder auch nur dem nachzuspüren. Was ich mit der Kraft meine, die einem solchen Nachspüren entspringen kann, ist z.B. die intensivere Wahrnehmung der Unwiderbringlichkeit des Augenblicks und damit der Einmaligkeit jeden Geschehens, was zu größerer Würdigung und auch intensiverem Erleben führen kann. Das Offene, das sich darin zeigen kann, mag jeder und jede für sich aufspüren…natürlich lasse ich offen, was sich für den je einzelnen öffnet.
    Ich will dennoch Ihrem beharrlichen Nachhaken bezüglich meiner persönlichen Betroffenheit beim Thema Tod nicht ausweichen. Ich habe verschiedentlich die Erfahrung gemacht, dass die Annahme des Todes und die Vorbereitung auf das Sterben, wenn der Sterbende das für sich selbst vermag, nicht nur für ihn, sondern auch für die Hinterbliebenen eine Quelle von Kraft und Trost ist. In dem längeren Text, aus dem ich hier nur einen kleinen Ausschnitt präsentiert habe, zitiere ich am Schluss Etty Hillesum, die mit 29 Jahren in Auschwitz ermordet wurde, mit einem Satz aus ihrem Tagebuch:
    „… wenn man den Tod aus dem Leben verdrängt, ist das Leben nicht vollständig, und indem man den Tod in sein Leben einbezieht, erweitert und bereichert man das Leben.“
    Ich habe lange diesen Satz auf mich wirken lassen und gehe ihm von Zeit zu Zeit immer wieder nach, wobei ich unterschiedliche Reaktionen bei mir selbst entdecke. Es gibt Momente, in denen ich eine ganz besondere Kraft spüre, die aus diesen Worten emporsteigt.
    Schließlich lassen Sie mich zur Frage der Verantwortung etwas sagen: ich bin für mich selbst verantwortlich und für den Nächsten, schreiben Sie. Das ist eine sehr komplexe Frage. Ist es Verantwortung, wenn ich jemandem nicht ins Gesicht huste? Ich denke, das ist das Mindestmaß an Anstand. Verantwortung für jemanden zu übernehmen kann auch übergriffig sein, zumindest wäre es mit dem Anderen auszuhandeln, was er oder sie von mir an Verhalten wünscht oder erwartet, wenn wir jetzt von Gesundheit und Hygiene sprechen, denn da gibt es durchaus unterschiedliche Herangehensweisen. In dem Sinne bin ich bereit, ihm zu antworten, so wie ich es auch von ihm wünsche. Wenn wir Verantwortung als diesen Prozess des Antwortens verstünden, kämen wir uns sicher entgegen.
    Herzliche Grüße
    Frank Hahn

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  3. Das Guardini-Zitat kannte ich so nicht. Danke, dass Sie mich darauf aufmerksam gemacht haben!

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