Kurzgeschichten über ‚kleine Leute‘
Lektüretipp von Herwig Finkeldey

Grace Paley, 1922 als Kind jüdisch-ukrainischer Einwanderer in New York geboren, hat ausschließlich in kurzen Formen geschrieben: Gedichte und Short Stories. Gerade diese Short Stories zählen für mich zum literarischen Erbe des 20. Jahrhunderts.
Das New York von Paleys Kindheit im migrantischen Milieu ist hierbei das Gerüst vieler ihrer Werke. Mehr aber auch nicht: In ihren Geschichten kann man sich keineswegs luzide über dieses Milieu informieren. Wer hingegen aus diesen Geschichten exemplarisch etwas darüber lernen möchte, wie vermeintlich ‚kleine Leute‘ ihren meist gar nicht so kleinen Widrigkeiten des Lebens trotzen, der ist hier richtig.
Da trifft Rosie, eine ehemalige Kartenabreißerin eines jüdischen Theaters, nach Jahren den alternden Star dieses Theaters wieder. Es ist ihr ehemaliger Liebhaber. Seine Frau hat sich wegen seiner Untreue nach fünfzig Jahren scheiden lassen, und nun versucht er es bei seiner alten Liebe, der Kartenabreißerin.
Denn:
Wie alle Männer versuchte er, bis zum Ende der Zeit heil und ungeschoren davonzukommen.
Rosie aber gibt ihm ihr Lebensmotto zur Antwort, das zugleich der Titel dieser wunderbaren Geschichte ist:
Auf Wiedersehen und viel Glück!
In einer anderen Geschichte sollen jüdische Schulkinder bei einer Weihnachtsaufführung in der Schule mitmachen, und die Ich-Erzählerin wird gewählt, weil sie die „lauteste Stimme“ hat. Die Reaktionen der Migranten-Community fällt ganz unterschiedlich aus. Was Grace Paley von enger Religionsauslegung hält, wird dem Leser dabei en passant mitgeteilt:
Die Frau des Rabbis sagte: „Es ist empörend!“ Aber niemand hörte auf sie. Unter dem engen Himmel von Gottes unermesslicher Weisheit trug sie eine rotblonde Perücke.
Eine junge Mutter wird vom Vater ihrer Kinder verlassen. Auf die Frage des Sohnes, wo denn der Vater sei, antwortet die Mutter:
„Stell mir keine Fragen. Dann erzähl ich dir keine Lügen.“
Grace Paley lässt ihre Figuren lügen. Und es sind dabei immer die Frauen, die den Männern mit ihren Lügen die Wahrheit zeigen und sie damit entblößen.
Grace Paley
Die kleinen Widrigkeiten des Lebens
Storys
Aus dem Englischen von Sigrid Ruschmeier
Schöffling & Co 2013 · 256 Seiten · 10,99 Euro (Kindle) oder antiquarisch
ISBN: 978-3895612350
Wie es war (und ist), als Frau zu schreiben
Ein Lektüretipp von Sieglinde Geisel

Esther Spinner gehört zu den vom Literaturbetrieb übersehenen Schweizer Autorinnen (zusammen etwa mit der vor kurzem verstorbenen Gertrud Leutenegger und Margrit Baur). In ihrem „Memoir“ Mit Hund und Wort erzählt die 1948 geborene Autorin davon, welchen Mut das Schreiben für eine junge Frau in den 1960er-Jahren erforderte.
Ich will schreiben. Welche Frau steht hin und sagt das laut? Ich jedenfalls kannte damals keine.
Man erfährt in diesem Buch viel über die Schweiz, die Frauenbewegung und darüber, was es heißt, in der Schublade der Frauenliteratur steckenzubleiben.
Es gab – und gibt? – eben Literatur, die richtige, wahre, von Männern geschriebene, und es gibt Frauenliteratur.
Sie gehöre „nicht zu den Grossen, Berühmten, Bekannten“. Vom ausbleibenden Erfolg erzählt Esther Spinner ohne jedes Ressentiment und in einer klaren, leuchtenden Sprache. Zu den vielen berührenden Passagen gehört etwas, über das sonst niemand spricht – eine Lesung ohne Besucher: „Die Unsicherheit hat mich seither immer begleitet.“
Was dieses Buch von einer handelsüblichen Schriftstellerbiografie unterscheidet, sind die Hunde bzw. Hündinnen. Um in Ruhe schreiben zu können, ging die Autorin (und Ich-Erzählerin) seinerzeit nach Sardinien, und weil das Häuschen so einsam war, besorgte sie sich ihre erste Hündin.
Ob es mir gelingen würde, den Hund, die Hündin neben jedem Wort mitgehen zu lassen, so wie Cima neben mir an der Leine geht – ob das gelingen kann?
Die Begleitung durch die Hunde wird zu einem poetologischen Spiel.
Esther Spinner
Mit Hund und Wort
Memoir
Edition 8 2024 · 248 Seiten · 28 Euro
ISBN: 978-3859905313
Schwieriges Glück, Krieg, Political Correctness
Drei Lektüretipps von Hartmut Finkeldey

Um Thomas Manns 150. Geburtstag komme auch ich nicht herum. Königliche Hoheit gilt als weniger bedeutendes Nebenwerk – zu Unrecht. Denn dieses „lehrhafte Märchen“ (Thomas Mann) enthält alle Themen, die für Mann relevant waren.
Ein Roman zweier Liebender, die, bei all ihren Privilegien, vom Leben geschlagen sind: Klaus Heinrich, mit verkrüppeltem Arm (mithin impotent), ist Repräsentant einer Familie in vollem Verfall, und das Land steht kurz vor der Pleite. Imma Spoelmann, märchenhaft reich und schön, wurde in ihrer Heimat zum Paria, weil sie „indianischen“ Blutes ist (wir dürfen getrost „jüdischen Blutes“ übersetzen). Und ob ein solches „strenges Glück“, um Thomas Manns Formel aufzunehmen – ein Glück, zu dem man sich verpflichten muss – ein so recht glückliches Glück ist, darüber kann man streiten.
Als Klaus die Lebenswunden von Imma bemerkt, reflektiert er:
Bestaunt, gehaßt und verachtet zu gleicher Zeit, halb Weltwunder und halb infam, so hatte sie [Imma] gelebt, und das hatte die Dornen in ihre Reden gebracht, jene spöttische Schärfe und Heftigkeit, die Abwehr war, wenn sie Angriff schien. (…) [Imma] hatte ihn zu Mitleid und Milde angehalten gegenüber der armen Gräfin – aber ihr selbst taten Mitleid und Milde not, weil sie einsam war und es schwer hatte, – gleich ihm.
Thomas Mann
Königliche Hoheit
Roman
Fischer 1989 · 358 Seiten · 9,99 Euro (Kindle) oder antiquarisch
ISBN: 9783596294305

Herman Wouks Bücher The Winds of War (1971) und War and Remembrance (1978) (auf Deutsch in drei Bänden: Der Feuersturm, Krieg und Weltsturm) sind bis heute unterschätzt, obwohl (oder weil?) die Bücher Bestseller waren. Sie schildern den Zweiten Weltkrieg aus US-amerikanischer Sicht. Wouk entlehnt sein Schreibverfahren Tolstois Krieg und Frieden: reale geschichtliche Ereignisse und Gestalten werden aus der Sicht fiktiver Personen geschildert. Dem Pierre Besuchow (dem Protagonisten von Krieg und Frieden) entspricht in Wouks Romanen die Familie Henry, allen voran der Vater Victor „Pug“ Henry, höherer Marineoffizier und zunächst Militärattaché in Berlin.
Wouk ist bisweilen ein bisschen ‚drüber‘ bei dem Versuch, quasi alle ‚prominenten‘ Ereignisse des zweiten Weltkriegs abzudecken. Aber das tut dem Ganzen keinen Abbruch: Die Lektüre des ausgezeichnet informierten Buchs ist spannend und lehrreich zugleich.
Captain Victor Henrys innerer Monolog am 8. Dezember in Pearl Harbor:
„(…) dieser [kriegerische] Irrsinn war der Lauf der Welt. Er hatte seine besten Jahre dafür gearbeitet. Und jetzt war er im Begriff, sogar sein Leben dafür aufs Spiel zu setzen. Warum?
Weil die anderes es taten, dachte er. Weil Abels engster Nachbar Kain war. Weil trotz all ihrer Mißstände die USA nicht nur seine Heimat waren, sondern die Hoffnung der Welt.
Herman Wouk
The Winds of War
Roman
Back Bay Books 2002 · 896 Seiten · 18,76 Euro

In seiner verdienstvollen Reihe „Was bedeutet das alles?“ publiziert der Reclam-Verlag den Band Was ist und was soll Political Correctness? des Politikwissenschaftlers Jörn Knobloch und des Philosophen Christoph Sebastian Widdau. Ein hervorragend ausgewuchteter Band, auch historisch korrekt (der Streit um die Wokeness bzw. PC ist jahrzehntealt und mitnichten erst in den letzten Jahren relevant geworden). Die Autoren stellen beide Seiten dar und suchen nach Auswegen aus dem festgefahrenen Kulturkampf.
In einer sauberen spieltheoretischen Analyse zeigen sie dabei auch, warum beide Seiten ein Interesse an diesen Extrempositionen haben und sich deshalb in eine Deadlock-Situation begeben:
Aufgrund der Moralisierung beharren dann beide Seiten auf ihren Positionen. Dies ist für sie attraktiv. Weil der Zwang fehlt, auseinander zugehen zu müssen, gewinnt man jeweils, indem man dem anderen nicht die Hand reicht und nicht verhandelt. Würde der andere die Hand reichen, wäre dies umso besser, weil dies den Glauben an die Richtigkeit der eigenen Position stärkt.
Jörn Knobloch und Christoph Sebastian Widdau
Was ist und was soll Political Correctness?
Reclam 2024 · 96 Seiten · 7 Euro
ISBN: 9783150144947
Widerstand gegen das antisemitische Ressentiment
Ein Lektüretipp von Anselm Bühling

Im November 1824 wurde am Weimarer Hoftheater das Trauerspiel Der Paria des jungen Dramatikers Michael Beer aufgeführt – auf Betreiben Johann Wolfgang von Goethes, der das Stück schon vorher in seiner Zeitschrift Über Kunst und Alterthum hatte rezensieren lassen. Beer war auf dem Höhepunkt seiner Anerkennung angelangt, doch sein eigentliches Anliegen ging dabei unter: Er hatte sein Stück als Parabel auf den Antisemitismus in der deutschen Gesellschaft angelegt; Goethe hingegen interessierten daran vor allem der indische Stoff, mit dem er sich ebenfalls befasste, und das Allgemeinmenschlich-Tragische.
Ich habe in Ernst Osterkamps Monografie über Michael Beer nicht nur diesen heute völlig vergessenen Dichter kennengelernt, sondern auch die Literaturgeschichte des frühen 19. Jahrhunderts aus einer neuen Perspektive entdeckt – von der späten Goethezeit über Karl Immermann und die Düsseldorfer „Musterbühne“ bis zu der Polemik zwischen den Dichtern August Graf von Platen und Heinrich Heine – zwei Außenseiter, die das Außenseitertum des jeweils anderen öffentlich skandalisierten und in der Folge beide das Land verlassen mussten.
Michael Beer, der jüngere Bruder des Komponisten Giacomo Meyerbeer, schreckte vor solchen scharfen Auseinandersetzungen zurück. Vielleicht ist dies ein Grund dafür, dass man sich nicht mehr an ihn erinnert.
Michael Beer war ein deutscher Jude, der alles, was er sich als Trauerspieldichter zu erreichen vorgenommen hatte, im Widerstand gegen das antisemitische Ressentiment, das in der Korrespondenz mit seiner Familie den Namen „Risches“ trägt, durchsetzen musste. Ein Epigone? Dies pauschale Urteil besagt angesichts der vielfältigen werkkonstitutiven Spannungen, die sein Leben durchziehen, nicht viel. Eine Randfigur der Literaturgeschichte gar? Michael Beer war eine repräsentative Gestalt des ersten Jahrhundertdrittels und stand inmitten gesellschaftlicher Bezüge und literarischer Verbindungen, wie nur wenige Autoren seiner Zeit über sie verfügten […] Wer Michael Beers Leben zu vergegenwärtigen sich vorgenommen hat, besichtigt zugleich sein Zeitalter in dessen zentralen künstlerischen, politischen und sozialen Spannungen.
Angaben zum BuchErnst Osterkamp
Bei yourbook.shop oder im lokalen Buchhandel
Der Dichter und der Risches
Leben und Werk des Michael Beer (1800-1833)
Wallstein 2024 · 256 Seiten · 24 Euro
ISBN: 978-3-8353-5741-9
Lieber Finkeldey,
ich freue mich sehr, dass Sie auch, so wie ich, ein Fan von Grace Paley sind und sie als Schriftstellerin vorgestellt haben.
Fröhliche Grüße,
übern Zaun sozusagen,
Sibylle Klefinghaus