Drei Anliegen vermengen sich in der Debatte um die Übersetzung von Amanda Gormans Gedicht: Chancengleichheit, Redefreiheit und die Kunst des Literaturübersetzens. Es lohnt sich zu differenzieren. Je nach Kriterium fällt die Antwort, ob Marieke Lucas Rijneveld Amanda Gorman übersetzen „darf“, etwas anders aus.
Gleiche Chancen und Rechte
Seit Jahrhunderten sind unsere westlichen Gesellschaften von Privilegien geprägt – in Bezug auf sozialen Status, Bildung, Geschlecht, Hautfarbe, Religion, sexuelle Orientierung. Einiges davon steht mittlerweile als nicht zu duldende Ursache von Diskriminierung in der Verfassung. Die Verweigerung gleicher Chancen und Rechte durch die Privilegierteren ist Diskriminierung. Chancengleichheit bedeutet gleicher Zugang unter gleichen Bedingungen: zu Bildung, zu Ressourcen, zu Posten, zu Aufträgen, zu Macht. All das misst sich auch an der medialen Aufmerksamkeit.
Die Missverhältnisse sind immer noch eklatant, die Veränderung hat erst begonnen. Wir können den Wandel mitgestalten, und wir sollten es tun. Für uns Privilegiertere heißt das: sensibler nachdenken und abgeben lernen, auch in einem so status-unverdächtigen Bereich wie dem literarischen Übersetzen. Sollte Rijneveld also Gorman übersetzen oder nicht? In diesem politischen Kontext: besser nicht.
Engagement oder Entmündigung?
In der Demokratie darf sich jede:r äußern. Doch so einfach ist es nicht: Aufmerksamkeit und Redezeit sind begrenzt. Wer erhält das Wort, wer wird gefragt, gefeaturet? Immer noch überwiegend weiße ältere Männer? Das Bemühen um Fortschritt, um Teilhabe von Minderheiten an der (Deutungs-)Macht, um Chancengleichheit verschiebt allmählich die Kriterien. Wer reden darf, das wird – und zwar zu Recht – immer mehr nach Glaubwürdigkeit beurteilt: nach Mitreden-Können aus Erfahrung. Bei diesem Fortschritt gibt es eine entscheidende Differenzierung: Für andere und deren Anliegen einzutreten, ist Engagement, für sie zu sprechen ist Entmündigung. Ein schmaler Grat.
Allerdings kommt es auch darauf an, wovon die Rede ist. Nicht bei jedem Thema ist Glaubwürdigkeit gleichbedeutend mit Kompetenz. Ein weiterer schmaler Grat.
Betroffenheitscredits?
Wo Erfahrungen bezeugt werden, ist Zuhören geboten, und geht es um Erfahrungen von Diskriminierung, ist besonderer Respekt beim Zuhören geboten. Doch Respekt kann nicht nur aus Schweigen bestehen.
Es gibt die Meinung, es wäre woke und wir Privilegierteren wären bessere Verbündete der weniger Privilegierten, wenn wir einfach mal die Klappe halten würden. Ich verstehe warum, finde das aber falsch. Nach dem Zuhören ist es, im Sinne des Engagements für Chancengleichheit und im Sinne der Redefreiheit, dringend nötig, dass sich die Privilegierteren nicht wegducken, sondern mittun beim Verändern. Ich sehe uns in der Pflicht: Wir können es uns am leichtesten leisten, für die Veränderung den Mund aufzumachen. (Das kann auch durch Übersetzen geschehen, dazu später.) Manchmal aber wirkt es, als müsste Redezeit nach „Leidensverdienst“ erworben werden, durch das Vorweisen der richtigen Betroffenheitscredits.
Die Frage der Deutungsmacht
Rijneveld bezeichnet sich als nicht-binär, ordnet sich, wie die beiden Vornamen signalisieren, nicht einem Geschlecht zu. Das fällt aus dem heteronormativen Mainstream heraus und hat Rijneveld im Jugendalter offenbar Diskriminierung eingebracht. Kann oder muss diese Diskriminierung nun aufgerechnet werden gegen die Hautfarbe? Gehört Gorman zum heteronormativen Mainstream, und wenn ja: Ist das überhaupt von Interesse? Und was ist mit mir als älterem weißem Mann, der hier das Wort ergreift? „Genügen“ meine eigenen Diskriminierungserfahrungen als Schwuler dafür, dass ich mich in dieser Debatte äußern darf, oder sollte ich den schlimmer Diskriminierten den Vortritt lassen?
In den USA hat eine schwarze Frau sich als Dichterin, zugleich aber auch politisch geäußert, also an der öffentlichen Deutungsmacht teilgehabt. Soll Rijneveld als weiße, privilegiertere, weniger diskriminierte Person darauf verzichten, diesen Text zu übersetzen, damit schwarzen Menschen in den Niederlanden nicht die Chance genommen ist, an der Deutungsmacht in Form einer Übersetzung teilzuhaben?
Das könnte eine interessante politische Frage sein – wenn das Übersetzen von Literatur auch Teilhabe an der Deutungsmacht, an der Redefreiheit wäre. Aber diesen Stellenwert hat es gar nicht. Und wer Rijneveld vorwirft, mit ihrer Übersetzung illegitimerweise an Stelle von Menschen mit schwarzer Erfahrung zu sprechen, hat überdies ein falsches Verständnis vom Literaturübersetzen.
Die Kunst der Einfühlung
Wer übersetzt, spricht nämlich immer für jemanden, an seiner oder ihrer Stelle – in einer anderen Sprache. Es gehört zum Ethos, zur Verantwortung dieses Berufs, sich so gewissenhaft wie möglich in das Andere einzufühlen und den neu geschriebenen Text so überzeugend wie möglich zu gestalten. Ich muss mich selbst prüfen, ob ich zu dieser Einfühlung in der Lage bin, und es gehört zur übersetzerischen Professionalität, den Auftrag abzulehnen, wenn ich das nicht kann.
Wer übersetzt, muss daran glauben, dass Einfühlung grundsätzlich möglich ist. Wir Menschen haben mehr gemeinsam, als was uns trennt. Um uns einfühlen zu können, müssen wir nicht identisch sein mit dem Anderen, ja wir müssen nicht einmal Ähnliches erlebt haben: Wer den Ödipus übersetzt, muss nicht zuvor den Vater umbringen und mit der Mutter schlafen. Wir wissen alle, wie sich Ungerechtigkeit anfühlt, wir können kleine von großen Ungerechtigkeiten unterscheiden. Jedes neue Einfühlen erfordert Hintergrundwissen, Recherche und Nachfragen. Aber grundsätzlich gehört zum Übersetzungstalent die Fähigkeit, sich allen möglichen Varianten von Anderem anzuverwandeln, mit Respekt und im Dienst des Originals. Reiz und Antrieb dieses Berufs bestehen auch in dieser nie nachlassenden Neugier auf das Andere unserer Mitmenschen aus der ganzen Welt.
Ja, manchmal ist es in der Tat besser, eine Frau von einer Frau (oder auch einen Mann von einem Mann) übersetzen zu lassen, bei Texten, die von kürzeren Einfühlungswegen profitieren. Aber ‚Identitätsäquivalenz‘ als feste Regel? Hier blitzt das alte, nie befriedigend erörterte Thema auf, ob es weibliches (queeres, schwarzes) Schreiben gibt, jenseits des rein Inhaltlichen. Eine literarische Stimme ist nicht nur dadurch charakterisiert, WAS sie sagt, sondern WIE sie es sagt, und das WIE ist jedes Mal individuell und neu. Beim Übersetzen findet der Transfer zu dem übersetzenden, sich einfühlenden Menschen immer statt, der Faktor der anderen Kultur, des anderen Individuums wird immer drin sein – auch wenn es eine schwarze Europäerin ist, die Amanda Gorman übersetzt.
Übersetzerische Kompetenz
Zum Literaturübersetzen reichen Empathie und Neugier allerdings nicht aus. Dieser Sprach- und Kulturtransfer verlangt vor allem Formulierungsfertigkeit und stilistische Kompetenz. Die Annahme liegt nahe, wer schreiben könne, könne auch übersetzen, doch der Glaube, Autor:innen seien die idealen Literaturübersetzer:innen, ist ein Trugschluss. Beim Schreiben eigener Texte geht es darum, eine Stimme für die eigene Persönlichkeit und die eigenen Anliegen zu finden; das ist nicht dasselbe, wie eine Stimme für Identität und Anliegen einer anderen Stimme in einer neuen Sprache zu finden. Manche Autor:innen können sehr gut übersetzen, doch dann verfügen sie über ein zweites künstlerisches Talent.
Das Problem einer Übersetzung des Gorman-Gedichts ins Niederländische durch Rijneveld ist nicht die fehlende schwarze Erfahrung, sondern die fehlende Übersetzungserfahrung. Ob Rijneveld den Text trotzdem überzeugend übersetzt hätte, werden wir nie erfahren. Rijneveld selbst hat früher einmal mäßige Englischkenntnisse zugegeben. Bei der Entscheidung des Meulenhoff-Verlags gab wohl vor allem ein übersetzungsfernes Argument den Ausschlag: Rijnevelds Prominenz durch den International Booker Prize für ihren Roman Was man sät (für, nun ja, die englische Übersetzung des Romans durch Michele Hutchison, unter dem Titel The Discomfort of Evening). Wäre Rijneveld also fachlich gesehen eine gute Besetzung für die niederländische Fassung von Gormans Gedicht gewesen? Eher nicht.
Weiß, schwarz, türkischstämmig
Hoffmann und Campe, Gormans deutscher Verlag, will alles richtig machen und engagiert für die Übersetzung ein Trio aus drei Frauen: Kübra Gümüşay, Hadija Haruna Oelker und Uda Strätling. Welche Kompetenzen kommen hier zusammen – und welche ‚Credits‘? Strätling ist eine erfahrene Literaturübersetzerin (allerdings weiß), Oelker ist Journalistin und Politologin (ohne Übersetzungserfahrung, dafür schwarz), und Gümüşay ist Journalistin und Autorin, berühmt geworden (aha) mit einem Buch über die politische Macht der Sprache (und sie ist türkischer Abstammung).
Es kostet Überwindung, die Informationen über Hautfarbe und Abstammung aufzulisten. Müssen wir so rechnen, aufrechnen? Stellt eine wegen der Herkunft vorausgesetzte Diskriminierung tatsächlich eine Qualifikation im Kampf gegen Rassismus dar? Geht das, die Erfahrung von Schwarzen in den USA mit der Erfahrung von Türkischstämmigen in Deutschland implizit gleichzusetzen? Erinnert die Prominenz von Gümüşay nicht an Meulenhoffs Kalkül mit Rijnevelds Namen? Und könnte Uda Strätling den Text allein wirklich nicht überzeugend übersetzen, mit der Sorgfalt, für die sie bekannt ist? Ich nehme an, dass sie aus dieser Sorgfalt heraus ohnehin einen sensitivity check gemacht hätte, also jemanden mit schwarzer Erfahrung (z. B. Hadija Haruna Oelker) hätte gegenlesen lassen.
Egal, wie politisch aufgeheizt die Debatte ist: Bei einem Übersetzungsauftrag sollte die übersetzerische Kompetenz die wichtigste Rolle spielen, ganz einfach. Doch so einfach ist es offenbar nicht mehr.
Hautfarbe als Kriterium?
In der Debatte gehen die Ebenen wild durcheinander. Jeder Shitstorm kriegt seinen Backlash. Bei der Gegen-Empörung schwingt immer auch ein Unwille mit, neu zu denken. Argumentationskeulen werden ausgepackt: Nun müssen die Chinesen sich aber anstrengen, eine schwarze Chinesin mit Legasthenie und einer alleinerziehenden Mutter zu finden, um als Übersetzerin von Amanda Gormans Gedicht qualifiziert zu sein! Oder: Die Aktion gegen Rijneveld sei lupenreiner Rassismus – Ausschluss nur wegen der Hautfarbe! Doch so etwas vertieft nur die Gräben und lenkt von den viel komplexeren politischen und künstlerischen Fragen ab. Debattieren wir konstruktiv, ohne in Lagerdenken zu verfallen.
Es war die schwarze niederländische Aktivistin Janice Deul, die den Shitstorm gegen Rijneveld losgetreten hat, nicht etwa Amanda Gorman selbst. Deul legte eine Liste schwarzer niederländischer Spoken-Word-Poetry-Artists vor, die sie für die Übersetzung vorschlug. Auf der Ebene der Chancengleichheit sieht das genau richtig aus. Endlich gleicher Zugang für alle, unabhängig von Hautfarbe, Geschlecht, Religion usw.
Halt: Gar nicht unabhängig von der Hautfarbe! Diese wurde ja gerade als Äquivalenzkriterium verlangt – plus Autorschaft im gleichen literarischen Genre (Spoken-Word-Poetry kann allerdings auch Marieke Lucas Rijneveld). Auf Deuls Liste stand keine einzige Übersetzerin. Wenn wir uns schon zwischen zwei Autor:innen entscheiden, die beide noch nie übersetzt haben, geben wir dann bitte endlich einer Schwarzen den Auftrag?
Schluss mit blinden Flecken
Identität ist kein Garant für Kompetenz. Deuls Annahme lautet: Schreibkompetenz plus passende Identität = ideale Übersetzerin. Diese Annahme ist genauso ungenügend wie diejenige des Verlags: Schreibkompetenz plus Prominenz = ideale Übersetzerin. Dass die ideale Übersetzerin überhaupt erst einmal Übersetzerin sein sollte, daran hat Deul nicht gedacht. (Dieser blinde Fleck in der Wahrnehmung von Übersetzung an sich, der auch vielen Kommentaren vorzuhalten ist, tritt häufig auf: Es ist der Diskriminierungs-Credit der immer wieder übersehenen Übersetzer:innen.)
Ebenso wenig wird Deul darüber nachgedacht haben, was ihre Forderung nach äquivalenter Identität zur Folge hätte: Schwarze Übersetzer:innen dürften nur noch Originaltexte schwarzer Autor:innen übersetzen. Rijneveld wurde via Facebook bereits empfohlen, lieber das Werk einer jungen nicht-binären weißen Person zu übersetzen. Hier wird der Kampf um Chancengleichheit an der falschen Stelle und mit den falschen Mitteln gekämpft.
Zur Chancengleichheit gehören die gleichen kritischen Maßstäbe bei der Betrachtung jedes Einzelfalls. Klischeehafte positive Diskriminierung bringt keine ausgleichende Gerechtigkeit, im Gegenteil. Gleiche Chancen nicht nur für schwarze, sondern für alle bisher ausgeschlossenen Übersetzer:innen erreichen wir schlicht durch mehr Diversität beim Übersetzer-Casting, und zwar unabhängig von der Frage äquivalenter Identitäten. Und dann betrachten wir die jeweilige Übersetzung: kritisch, sensibel und competence–woke.
PS: Unter Literaturübersetzer:innen wird das Thema, wer was übersetzen darf, derzeit kontrovers, spannend und respektvoll debattiert, unter anderem auf der Toledo-Website unter der Rubrik Toledo Talks: Berührungsängste.
Gilt das Argument, Übersetzen sei zuvörderst mimetisch und führe daher immer auch zu einer essentiellen Repräsentation, einem „an jemandes Statt“-Sprechen, nicht auch für alle literarische und künstlerische Tätigkeit? Also können wir dann überhaupt „Schreibkompetenz“ als eigenes Kriterium, das irgendwie weniger problematisch ist, von „Übersetzungskompetenz“ abgrenzen in einer solchen Debatte? (Abgesehen von der einfachen Tatsache, dass, wie Sie richtig schreiben, es Leute gibt die gut schreiben, aber nicht gut übersetzen können, und umgekehrt… aber es geht mir hier um die Frage ob das zwei KAtEGROIAL verschiedene Kriterien sind.)
Das ist eine sehr interessante Frage, und meines Erachtens hängt die Antwort davon ab, wie wir literarisches Schreiben definieren wollen. Es gibt durchaus die Möglichkeit, beides vergleichend nebeneinanderzustellen und abzugrenzen. Definieren wir literarisches Schreiben versuchsweise mal so: Autorin bzw. Autor beziehen ihre Inspirationen aus bestimmten direkt oder indirekt erlebten Ausschnitten von Wirklichkeit und suchen in der ihnen eigenen Sprache nach geeigneten Formulierungen für diese Inspirationen. Dann ließe sich literarisches Übersetzen versuchsweise so danebenstellen: Übersetzerin bzw. Übersetzer suchen in der ihnen eigenen Sprache nach geeigneten Formulierungen für das, was sie intuitiv und analytisch von dem Originalwerk verstanden/interpretiert haben, darin liegen die Inspirationen für die Übersetzer:in. Bei beiden ist das Umwandeln einer Inspiration in Sprache persönlich geprägt; beim Schreiben liegen die Kriterien für die „geeignete“ Umwandlung in der Kreativität der Schriftsteller:innen, sind also im Grunde komplett frei; beim Übersetzen richtet sich „geeignet“ nach der Interpretation des Originals durch die Übersetzer:innen — und da sich über diese Interpretation diskutieren lässt, sind die Kriterien nicht komplett frei. Wir können darüber diskutieren, ob eine Übersetzung einem Original sprachlich gerecht wird; bei Originaltexten diskutieren wir selten darüber, ob der Text sprachlich einem Stück Wirklichkeit gerecht wird. Ich halte also Schreibkompetenz und Übersetzungskompetenz für verwandt, aber doch in entscheidender Hinsicht (kategorial?) für verschieden.
zollbreit nah
ein alter weißer mann
durfte kein gedicht lesen von
einer jungen schwarzen frau
er setzte sich die nachtsichtbrille auf
und sah und las und fühlte
die schönen schwarzen wörter
itzt gerecht
Hallo Herr Heibert,
ich bin auf Ihren Text hier gestoßen über ein Interview im Kölner Stadtanzeiger. Ich fühlte mich positiv angeregt insbesondere durch Ihre sachliche Darstellung der Notwendigkeiten einer Übersetzung; und wie sie auf die verschiedenen Ebenen der Identitätsfragen und der Diskriminierung blicken und diese sehr gut nachvollziehbar in den Zusammenhang des Themas stellen können. Ich wünsche mir, unsere Politiker könnten auch so übergreifend und besonnen denken und handeln. Ich wünsche Ihnen eine gute Zeit!
„Definieren wir literarisches Schreiben versuchsweise mal so: Autorin bzw. Autor beziehen ihre Inspirationen aus bestimmten direkt oder indirekt erlebten Ausschnitten von Wirklichkeit und suchen in der ihnen eigenen Sprache nach geeigneten Formulierungen für diese Inspirationen.“ Mein Punkt bezüglich „erlebter Wirklichkeit“ ist wohl, dass, insofern Literatur Gesellschaft und Menschen darstellt/reflektiert, diese meist schon über die vom AUTOR (unmittelbar) „erlebte“ Wirklichkeit hinausreichen, also bereits qua Mimesis durch den Schreibenden/die Schreibende herangeholt werden. Da würde sich dann eben identitätsrichterlich schon die Frage stellen: Wer darf was? Dürfen Männer die Schicksale, Gedanken, Gefühle von Frauen imaginieren und/oder schreibend nachahmen? (Denn natürlich KÖNNEN wir darüber diskutieren, inwiefern fiktionale Texte der Wirklichkeit gerecht werden; das muss nicht zu Lukacs oder dergleichen führen, sondern meinetwegen auch zu Erich Auerbach … und auch vor-theoretisch: jedes Gespräch nach einem Kinofilm oder gleichzeitig gelesenen Roman muss, kann, soll letztlich auch die Wirklichkeit involvieren, „von der“ das Gesehene und Gelesene zu handeln beanspruchen.) Weiße die von Schwarzen? Junge die von Alten? Menschen mit glücklicher Kindheit die von solchen, denen das verwehrt war, bis hin zu Missbrauchsopfern? Reiche die von Armen? Je mehr man die Liste expandiert, umso mehr merkt man wie absurd ein Begriff von Literatur (und darstellender Kunst) würde, der nur auf das je eigene kontingente Erleben sich beziehen dürfte, ohne die Mimesis an die anderen Menschen. Im Grunde dürfte dann jeder Autor nur noch die eigene Biographie schreiben und das wars. Dosotojewski hätte Myschkins Epilepsie porträtieren dürfen (weil selbst erlebt), aber nicht Nastassja Fillipownas Suche nach einem nicht vorhandenen autonomen Platz in einer von Männern beherrschten Welt. Dass Goethe Ottiliens Tagebuch schrieb, war nichts als patriarchale Anmaßung. Dass Charles Dickens Armenviertel beschrieb, war o.k. (weil selbst erlebt); seitens Victor Hugo war es einfach nur ein illegitimer Akt, den wir heute so nicht mehr zulassen würden. Usw. usf. Also ich würde doch sagen: Die Frage, ob eine einfühlende Gestaltung des ANDEREN zulässig ist, stellt sich für Originalliteratur genauso scharf wie für die Übersetzung…
Lieber Manuel, danke für Ihre Antwort, die einige m.E. grundlegende Punkte berührt. Bei Ihrem letzten Satz — „ob eine einfühlende Gestaltung des ANDEREN zulässig ist“ — würde ich gern die Unterscheidung zwischen „zulässig“ und „überzeugend“ betonen. Bei literarischen Originaltexten ist schon immer bewertend kommentiert worden, wie überzeugend Autor:innen Erzählfiguren sprachlich verkörpern oder eben nicht. Das ist die Ebene der Literatur. Im gesellschaftspolitischen Diskurs von heute erscheint mir die Frage der Zulässigkeit ebenso wichtig. Vergessen wir nicht: Sie steht vor allem dafür, dass endlich mehr (in jeder Hinsicht diverse) Stimmen gehört werden und die Darstellung ihres Erlebens nicht länger überwiegend von den Privilegierteren mit der (Deutungs-)Macht übernommen werden soll. Früher war es vielleicht so, dass Menschen auf diese Weise literarische Stimmen bekamen, deren Erleben sonst gar nicht vorgekommen wäre (und es ist im Einzelfall unbedingt spannend zu betrachten, wie klischeehaft oder respektvoll, patriarchalisch oder offen das damals gelungen ist). Ich glaube, niemand will heute dafür kämpfen, Goethe, Dickens oder Dostojewski aus diesen Gründen zu „verbieten“; sie AUCH als Ausdruck der jeweiligen zeitgenössischen Machtstrukturen zu lesen, kann aber durchaus erhellend sein. Heute wird gegen die überkommenen Machtstrukturen, die bestimmen, wer sich äußern darf, angekämpft, das ist erst einmal gut. Manchmal schießt der Kampf übers Ziel hinaus, wenn wiederum, nur umgekehrt, bestimmt werden soll, wer sich äußern darf. Wenn heute ein Mann das Tagebuch einer Frau (literarisch) schreibt, wird das eben nicht nur literarisch betrachtet, sondern auch gesellschaftspolitisch, und solange die Ebenen beim Betrachten auseinandergehalten werden, finde ich das auch potenziell fruchtbar. — Beim Übersetzen aber ist es anders. Wir Übersetzer:innen haben den Blick auf die Welt, aus dem heraus im Original erzählt wird, nicht gewählt, wir gestalten ihn lediglich in unserer Sprache nach. Literarisch/übersetzerisch ist das möglich und kann mehr oder weniger überzeugend geschehen. Die Frage der Zulässigkeit liegt hier vor allem beim Verlag, der überhaupt über die Veröffentlichung eines Werks, einer Stimme entscheidet; und natürlich kann jede Übersetzerin, jeder Übersetzer für sich darüber nachdenken, auch in politischer oder Identitäts-Hinsicht, ob es in Frage kommt, eine bestimmte literarische Stimme in der eigenen Sprache nachgestalten zu wollen. (Ich verweise nochmals auf TOLEDO Talks, dort finden sich spannende Beispiele für solche Überlegungen.) Und dann kann jede Nachgestaltung, jedes Neu-Schreiben für sich betrachtet und danach beurteilt werden, wie überzeugend das Ergebnis literarisch geworden ist. Die Beurteilung nach Zulässigkeit würde ich in Sachen Übersetzung, wie in meinem Artikel ausgeführt, grundsätzlich nach wie vor in Frage stellen. In den Einzelheiten der sprachlichen Gestaltung machen wir Übersetzer:innen uns im übrigen natürlich immer Gedanken über die passendsten Formulierungen — jede Wortwahl entfaltet ihre Wirkung, auch in politischer Hinsicht (ein anderer Aspekt dieses Themas). Aber Sie meinten die grundsätzliche Legitimität, denke ich, und da bleibe ich bei meiner Unterscheidung zwischen Schriftsteller:innen und Übersetzer:innen.
Danke für diese nuancierten, gedankreichen und unaufgeregte Überlegungen. Allerdings bin ich derart über den ersten Satz gestolpert, daß ich beinahe nicht weitergelesen hätte. Die Formulierung „Seit Jahrhunderten sind unsere westlichen Gesellschaften von Privilegien geprägt…“ insinuiert, mal wieder, dass Privilegien ein Alleinstellungsmerkmal der westlichen Welt wären – bitte, wann und wo hat es jemals eine Gesellschaft gegeben, die nicht von Privilegien geprägt war?
Ich freue mich, dass Sie weitergelesen haben, trotz der anfänglichen Aufregung. Der erste Satz benennt Fakten, nicht mehr und nicht weniger. Diese gesellschaftspolitische Debatte findet in unseren westlichen Gesellschaften statt (woanders in dieser Weise meines Wissens nicht). Natürlich gibt es Privilegien überall, aber darum ging es mir in dem Moment nicht; diese Relativierung brächte nur dann weiter, wenn daraus etwas für das konkrete Thema folgte. Nuanciert und unaufgeregt (vielen Dank!) ist es, möglichst nichts zu insinuieren, sondern es entweder zu sagen oder zu lassen, je nach Relevanz. Und: Wenn wir anfangen, unsere Privilegien kritisch zu betrachten, sind sie allein dadurch nicht aufgehoben oder gar ins Gegenteil verkehrt.
super Artikel, interessantes Gespräch zwischen LeserInnen heir. Meine Frage: Kann eigentlich sich jede und jeder selbst Gormans Gedicht übersetzen und diese Übersetzung über das Internet rausbringen? Oder wird das Recht der Übersetzung nur jeweils einer oder einem erteilt, andere dürfen keine Übersetzungen rausbringen?//Ich wundere mich, wenn die Frage nach Übersetzung so stark in den Kategorien richtig-falsch gesehen wird. Wortwahl und Satzbau sind doch etwas individuelles und auch Frage von Geschmack und Persönlichkeit, so dass für jedes Wort oder jeden Satz mehrere gute Übersetzungen gibt.// Es gibt Bücher und Webseiten, in denen verschiedene Übersetzungen von Shakespears Sonetten oder D’Annunzio gesammelt sind, diese Art von Abbild von Vielfalt finde ich lehrreich.
Vielen Dank! Die Antwort auf die erste Frage betrifft das Urheberrecht. Wenn ein:e Autor:in 70 Jahre lang tot ist, werden die Werke gemeinfrei, können also nach Belieben übersetzt und veröffentlicht werden. Zuvor gilt, dass (in diesem Fall) das deutschsprachige Recht von dem Verlag erworben werden muss, der das Werk übersetzen lassen und veröffentlichen will. Diese Übersetzung ist ebenfalls urheberrechtlich geschützt. // Zu Ihrem zweiten Punkt: „Die“ „richtige“ Übersetzung gibt es kaum, deshalb operieren wir mit Begriffen wie „überzeugend“ oder denken über die notwendigen Formen von Äquivalenz nach. „Falsche“ Übersetzungen gibt es allerdings im konkreten Einzelfall durchaus.
„Geht das, die Erfahrung von Schwarzen in den USA mit der Erfahrung von Türkischstämmigen in Deutschland implizit gleichzusetzen? “
Das geht absolut überhaupt nicht, das ist cultural appropriation der übelsten Sorte. Das ist praktisch blackfacing. Türken sind weiße Einwanderer, die freiwillig gekommen sind und sich, trotz Rassismus im Einzelfall, ökonomisch erheblich verbessert haben. Die Afro-Amerikaner gehen auf verschleppte Sklaven zurück, die ausgepeitscht und umgebracht wurden und gegen die jahrhundertelang diskriminiert wurde und die heute noch darunter leiden. Das ist ungefähr so, als würde man Kübra Gümüşay mit Anne Frank vergleichen. Das ist grob beleidigend.
Daran, dass ich diese Frage gestellt habe, sehen Sie, dass mich die Entscheidung des deutschen Verlags, Kübra Gümüşay hinzuzuengagieren, ebenfalls nachdenklich macht — weil sie das Risiko mit sich bringt, in dem stark auf Identitätsfragen fokussierten Kontext besagte implizite Gleichsetzung dahinter zu vermuten. Nun gilt auch: Kübra Gümüşay hat ein spannendes Buch über Sprache und Macht geschrieben, bringt also für die politischen Hintergründe der Gorman-Thematik Reflexionskompetenz mit. Das gerät aus dem Blick, wenn wir nur auf die Identität einer Person schauen — mit einem Mal nehmen wir Gümüşay vor allem als Türkischstämmige wahr, und aus der Frage nach einer möglichen impliziten Gleichsetzung (als vermutlich ungewollte Nebenwirkung) wird Empörung über cultural appropriation. Ich stimme Ihnen zu, dass eine Parallelisierung der Erfahrung von Schwarzen in den USA und Türkischstämmigen in Deutschland historisch und politisch falsch liegt. Mir ist aber auch deutlich unwohl dabei, den deutschen Verlag nun durch einen (hypothetischen) „Keulen-Vergleich“ anzugreifen; niemand hat Kübra Gümüşay mit Anne Frank verglichen oder käme auch nur von weitem auf die Idee. Ihr Engagement in allen Ehren, aber der Anteil Empörung dabei wirkt vor allem eskalierend, was nicht zu konstruktiver Nachdenklichkeit führen kann, nur zu den abwechselnden Modi von Attacke und Verteidigung. Das lenkt am Ende davon ab, worum es eigentlich ging, nämlich um das Bemühen des Verlags, bei der Gorman-Übersetzung alles richtig zu machen. Selbst wenn das in diesem konkreten Fall nach teilweisem Übers-Ziel-Hinausschießen aussehen könnte, bin ich persönlich froh darüber, dass derzeit eine Sensibilisierung beim Übersetzungscasting stattfindet. Nicht jedes Buch hat eine so große Bühne wie Gormans Gedicht, ein sensibles Übersetzungscasting muss also auch nicht immer ganz so plakativ gehandhabt werden wie in diesem Fall.
Frank Heibert for President! Die Art und Weise, wie Sie, Herr Heibert, auf die Empörung von EvaClaudia eingehen finde ich wirklich vorbildlich, gerade in Zeiten in denen in Debatten viel öfter polarisiert wird und Deeskalierung keinen hohen Stellenwert hat. Dabei gelingt es Ihnen EvaClaudias Emotionen ernst zu nehmen und dennoch und parallel dazu auch Ihre Sicht der Dinge einzubringen. Wunderbare Diskussionskultur! Wenn’s nur immer und überall so wäre…
Das Gedicht von Amanda handelt nicht von „Sprache und Macht“, es handelt von dem Aufstieg Amerikas gegen widrige Rückschläge — die (nicht direkt angesprochenen) Indianerkriege, Naturkatastrophen, Pearl Harbor, Vietnam, die Bürgerrechtsbewegung und zuletzt, die Präsidentschaft von Donald Trump. „The Hill We Climb“ etwa geht zurüch auf die Bibel, die Bergpredigt also, bezieht sich aber auch auf Ronald Reagans „Shining City on the Hill“. Um das Gedicht übersetzen zu können, muss man Englisch können und Ahnung von christlicher und amerikanische Geschichte haben. Wenn der Verlag alle bedienen will, dann sollen sie eine Deutsch-Amerikanerin engagieren und nicht drei Leute, die wahrscheinlich noch nie länger in Amerika waren.
Liebe EvaClaudia, die Macht der Sprache im Zusammenhang mit Amanda Gormans Text konnten wir alle miterleben, als sie so mitreißend bei Bidens Amtseinführung performte. Da wir Übersetzer:innen immer Text im (historischen, politischen) Kontext übersetzen, ist ein Bewusstsein für Sprache und Macht hier also keineswegs überflüssig, und um die verschiedenen ‚Mächte‘ innerhalb der US-amerikanischen Gesellschaft und ihrer Geschichte geht es auch im Text selbst. Um Gormans Gedicht zu übersetzen, braucht es Kompetenz im Englischen, wie Sie ganz richtig schreiben, es braucht Hintergrundwissen (dito, danke für die detaillierten Hinweise) — was übrigens zur grundlegenden Jobbeschreibung des Übersetzungsberufs gehört. Außerdem aber, das haben Sie nicht aufgeführt, gehört Kompetenz im Deutschen dazu UND Kompetenz darin, die Übertragung zwischen den beiden Sprachen und Kulturen hinzukriegen (so banal es klingen mag, so wahr ist es: Zum Übersetzen sollte man/frau übersetzen können). Bei diesem Text mit seinem so beeindruckenden rhythmischen, performativen Stil braucht es also die Fähigkeit, einen kulturell sehr amerikanischen Text überzeugend in den kulturellen und sprachlichen Kontext der Zielsprache Deutsch überführen zu können. Diese Kompetenzen ergeben sich, wie bereits im Artikel ausgeführt, nicht automatisch aus Identitätszuschreibungen, auch „Deutsch-Amerikanerin“ garantiert für nichts. Wenn wir die Arbeit der drei Frauen, die zusammen für „Den Hügel hinauf“ verantwortlich zeichnen, kritisch in den Blick nehmen wollen, würde ich empfehlen, statt Hypothesen über deren Reiseerfahrung anzustellen, einfach in den nunmehr vorliegenden Text zu schauen.
Freut mich sehr, Herr Heibert, dass Sie in der Sache ‚jenseits von schwarz und weiß‘ so kompetent wie ausführlich Ihre Sicht darstellen. Eine solche für mein Empfinden sehr an Abwägung und Vermittlung interessierte Position tut gut, gerade weil andernorts voreilige, polarisierende, teils unredliche und/oder selbst beleidigende Meinungen zu diesem Thema laut wurden. Manche scheinen leider übersehen zu haben, dass Amanda Gorman gerade die Vermittlung wünscht:
… victory won’t lie in the blade, but in all the bridges we’ve made.
Danke für Ihre Erinnerung an Gormans Geist. Ganz genau; zumal wir Übersetzer:innen uns ja auch als Brückenbauer sehen. Ich hoffe, dass Ihr Nick sich hier nicht bewahrheitet, sondern dass das jede:r liest … :)))
Lieber Herr Heibert,
die Macht der Sprache im Kontext der amerikanischen Geschichte
wird durch das Gedicht von Frau Gorman nahe gebracht. Ich freue mich,Ihre Texte und Antworten zu lesen. Ungewöhnlich (oder auch nicht), dass ein poeticher Text diese Aufmerksamkeit erfährt. Ob der Lyrik diese weltweite Resonanz gut tut? Ich wünsche es mir.
goldmarie
sonnengelb ihr festtagskleid
anmutig schön
präsentierte sie dem neuen herrn
ein loblied in der muttersprache
eine hymne voller stolz
unvergleichlich groß das land
mit poesie und macht bekränzt
schwungvoll tanzen ihre finger
zu vertrauten schönen worten
hin und her auf und nieder
das fingerballett verbeugte sich
(oder waren es marionetten)
wörter segelten dahin
U.H.
Lieber Udo Houben, ich halte es, wo immer möglich, mit dem Optimismus. Und so denke ich, diese ganze Debatte lenkt auch viel willkommene Aufmerksamkeit auf das literarische Übersetzen und die Lyrik. In Kommentar-Threads finde ich Lyrik allerdings nicht ganz am richtigen Platz, da ist sie doch verschenkt — und sie ist ja, streng genommen, auch kein Diskussionsbeitrag.
Neuer Übersetzervorschlag: Peter Handke!
Heinz Sichrovski: Haben Sie mitbekommen, dass mehreren Übersetzern das Gedicht „The Hill We Climb“ von Amanda Gorman entzogen wurde?
Peter Handke: Wer ist das?
Heinz Sichrovski:Die dunkelhäutige Dame, die zu Bidens Inauguration ein Gedicht
vorgetragen hat. Es darf reihenweise nicht mehr übersetzt werden, weil nur schwarze Menschen die darin enthaltenen Emotionen nachvollziehen könnten.
Peter Handke: Dann biete ich mich als Übersetzer an. Ich bin auch ein
schwarzer Mensch. Der Schwarze Peter.
NEWS 12/2021, S. 144-149