In unseren Lektüretipps weisen wir auf Bücher hin, die uns begeistert, erschüttert, erheitert haben: Klassiker, Entdeckungen, Kuriositäten.

Der Zufall liebt die Metapher. Und so ist es Zufall und Metapher zugleich, dass der Literatur- und Philosophiestudent Uwe Timm am 03. Juni 1967 in Paris an seiner Arbeit über das Absurde bei Albert Camus schreibt, als er im Radio vom Tod eines Studenten in Berlin hört. Den Namen hat Timm zunächst nicht richtig verstanden.

Nach einem Anruf in Deutschland gab es keinen Zweifel mehr, er war es, der Freund.

Uwe Timm und Benno Ohnesorg hatten sich am Braunschweiger Kolleg beim Nachholen des Abiturs kennengelernt. Beide waren sie Handwerkersöhne, beiden wurde von der Familie geraten, erst einmal etwas Ordentliches zu lernen – und beide hatten einen Bildungshunger, der in ihren Lehrberufen nicht gestillt wurde.

Das gemeinsame Interesse an Literatur ließ sie im Kolleg schnell zusammenkommen.

So begann es, daß wir einander unser Geschriebenes zeigten und er mein erster Leser wurde.

Den ersten Leser wird ein Schriftsteller wohl nicht vergessen. Uwe Timms Erzählung Der Freund und der Fremde (2005) ist somit auch ein Buch über das Lesen und Schreiben. Und indem Timm über sich selbst und über den Freund erzählt, ist es vor allem ein Buch über die 60er Jahre. Es endet mit einer ikonisch gewordenen Fotografie: der sterbende Benno Ohnesorg in den Armen einer eleganten Frau. Eine moderne Pietà.

Ohnesorg, der Student und werdende Vater, als Opferikone – ein absurder Ausdruck seiner Zeit. Dieses Bild ist Uwe Timm zu einseitig. Er will schreibend erkunden,

wer uns für immer verloren war.

Aber er findet den Ton zunächst nicht.

Mehrere Anfänge, die ich jedesmal wieder verwarf, weil die Sprache formelhaft blieb und meine hilflose Wut ins Deklamatorische verwandelte.

Ungefilterte, unmittelbare Wut ist keine gute Voraussetzung für Literatur. Jahrzehnte vergingen, ehe Uwe Timm seine Wut kontrollieren und somit den Text gestalten konnte. Zugleich wollte er den Freund aus der Märtyrerecke befreien. Timm stellt klar, dass Benno Ohnesorg ein im Grunde unpolitischer Mensch war, der eher in ästhetischen Kategorien dachte – die erste gemeinsame Lektüre am Braunschweiger Kolleg war Samuel Becketts Molloy.

Uwe Timm zitiert Ohnesorgs selbst vorgetragenen Wunsch für sein Leben:

Jemand zu werden, der nicht ganz alltäglich ist.

Indem Uwe Timm ein differenziertes Bild von Benno Ohnesorg zeichnet, entfaltet sich die Zeit und die ihr eigene Absurdität – jede Zeit hat ihre eigene – wie von selbst. Immer wieder bricht die Chronistenrolle auf, dann schimmert Uwe Timms Wut über den tödlichen Schuss durch. Etwa wenn er unschlüssig vor dem Haus des Täters Karl-Heinz Kurras steht und doch nicht schellt, weil er, wohl zu Recht, keine Antwort erwartet.

Timm liest die Gerichtsakten:

Das Ergebnis des psychiatrisch-neurologischen Gutachtens […] zu dem Angeklagten Kurras wird in der Urteilsbegründung zusammengefasst und liest sich wie eine Textprobe aus einem absurden Theaterstück.

 Und er gibt die Urteilsbegründung wieder:

Es lasse sich […] weder sagen, dass der Angeklagte in der aktuellen Situation nicht hätte anders handeln können, als er gehandelt hat, noch umgekehrt, er hätte anders handeln können, als er gehandelt hat.

Was will man mit einem so Handelnden schon besprechen? Uwe Timm kommentiert diesen Irrsinn lapidar:

Ein Satz, über den der Freund gelacht hätte.

Uwe Timm hat es geschafft, seine kontrollierte Wut in große Literatur zu verwandeln – auch in jenen Passagen, in denen diese Wut noch unmittelbar spürbar ist.

Angaben zum Buch
Uwe Timm
Der Freund und der Fremde
Eine Erzählung
Kiepenheuer & Witsch 2005 • 176 Seiten • 16,90 Euro
ISBN: 978-3-462-03609-1
Bei Amazon, buecher.de oder im lokalen Buchhandel
Bildnachweis:
Beitragsbild: Benno und Christa Ohnesorgs Grab auf dem Stadtteilfriedhof Bothfeld.
Von Bernd Schwabe in Hannover (Eigenes Werk) [CC BY 3.0], via Wikimedia Commons (bearbeitet).

Buchcover: Kiepenheuer & Witsch
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Von Herwig Finkeldey

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