Elena Ferrantes Geheimnis hatte Noblesse, und genau das geht der Enthüllung ab. Die Spur des Geldes soll sie verraten haben: Ein Journalist hatte sich Zugang zu den Bilanzen ihres Verlags verschafft. Das Motiv der Recherche sei nicht ein vertieftes Verständnis von Ferrantes Werk gewesen, so Alexandra Schwartz in einem aufgebrachten Artikel im New Yorker, sondern der Ehrgeiz, der erste zu sein. Aus dem gleichen Grund haben Zeitungen wie die New York Review of Books und die FAS die Enthüllungsstory publiziert (das Times Literary Supplement hätte den Scoop nicht gebracht, behauptet der Redakteur Stig Abell – allerdings sei ihnen die Geschichte auch nicht angeboten worden). Dass die Geschichte überdies ein Holocaust-Narrativ enthält, und erst noch ein bitter-süßes, verleiht der Sache einen besonderen Reiz. Diese Sequel bedient sämtliche niederen Instinkte der höheren literarischen Öffentlichkeit.
Falls die Enthüllungsgeschichte stimmt, hätte Elena Ferrante in ihren Interviews gelogen, in denen sie behauptete, sie sei als Tochter einer Näherin in Neapel aufgewachsen. Doch literarische Wahrheit umfasst eine andere Dimension als die biografischen Fakten.
Was für Erfahrungen habe ich als mein Material, was für Erfahrungen kann ich erzählen?
so antwortet Elena Ferrante Interview in der Paris-Review auf die Frage nach der Aufrichtigkeit ihrer Prosa (ein Begriff, den James Wood ins Spiel gebracht hat). Literarische Wahrheit entscheide sich nicht an den Fakten, sondern an deren Wiedergabe:
Was ist das Wort, was ist der Rhythmus des Satzes, welcher Ton passt am besten zu den Dingen, die ich weiß?
Die literarische Wahrheit sei proportional zur Energie, die man als Autor in die Sätze einbringe, so Ferrante weiter. Ein unzulänglicher Stil könne die aufrichtigste autobiografische Wahrheit verfälschen. Ihre Prosa sei wie eine Kette, mit der man Wasser aus den Tiefen eines Brunnens heraufhole – ein Bild für die Arbeit mit dem Unbewussten und der Erinnerung.
Ich dachte an Schreie, brutale Gewalttaten in der Familie, die ich als Kind miterlebt habe, Haushaltsgegenstände. Ich nährte Delia, die Protagonistin, aus diesen Erinnerungen.
Das sagt Elena Ferrante in dem Paris-Review-Interview über ihren Roman Lästige Liebe; sie legt nahe, dass es sich dabei um Erinnerungen an ihre Kindheit in Neapel handle. Dieses Interview hatten ihre italienischen Verleger mit ihr geführt, die einzigen im Literaturbetrieb, die ihre Identität kannten. Ich stelle mir vor, dass die Autorin und das Verlegerehepaar die Legende der Neapel-Kindheit gemeinsam genossen. Die literarische Öffentlichkeit möchte „Authentizität“ – bitte sehr! Dass wir alle darauf hereingefallen sind, ist ein Gradmesser für die literarische Wahrheit von Meine geniale Freundin. Se non è vero, è ben pensato. Sie hat das geschaffen, was Flaubert „geschriebene Wirklichkeit“ nannte.
Aus guten Gründen hat Elena Ferrante das, was sie „die Rituale des Veröffentlichens“ nennt, gemieden.
Es ist nicht das Buch, das zählt, sondern die Aura des Autors.
Ihr Pseudonym war (und ist) ein Statement gegen die Zumutung, dass ein Buch vom Betrieb nicht als Kunstwerk, sondern als Ware behandelt wird. Wenn sich ein Buch auch ohne die Aura des Autors verkaufe,
dann erfinden die Medien den Autor und der Autor verkauft am Ende nicht nur sein Buch, sondern auch sich selbst, sein Image.
Ihr Pseudonym habe einen schöpferischen Raum für das Schreiben geöffnet, sagt Elena Ferrante:
Ich fühlte mich, als hätte ich die Worte von mir losgelöst.
Wie immer im Leben lautet die entscheidene Frage: Wer spielt wessen Spiel? Spielen wir Elena Ferrantes (heilig ernstes) Spiel, mit dem sie sich Autonomie für ihr Schreiben verschaffte? Oder muss sie nun das Spiel des Marktes spielen, nachdem die Enthüllung den Spieß umgedreht hat? Ihren Spielverderbern hatte Elena Ferrante damit gedroht, aus dem Spiel auszusteigen: Werde ihr Pseudonym gelüftet, würde sie nichts mehr veröffentlichen.
Ein zweispältiges Spiel. Indem sich Elena Ferrante den Medien entzog, hat sie das Biest angestachelt. Doch das Biest sind wir alle.
Gut gebrüllt, Löwin! Mir kommt es — naiv? — so vor, als wäre der zentrale Punkt der Respekt vorm Autor. Kann eine Künstlerin nicht (mehr) selbst bestimmen, wie öffentlich ihre Privatpersona sein soll? Kann man das, auch wenn der Buchmarkt eben auch ein Markt ist, ein Buch ein Produkt und die Autorin dahinter diejenige, die die Leser ihres Buches, wenn es sie denn angesprochen hat, am neugierigsten macht — kann man das nicht einfach respektieren? In einer Welt mit immer mehr Kim Kardashians überall könnte man doch die Ferrantes mal in Ruhe lassen. Das wirtschaftliche, das Image-Kalkül, so es eines war, funktioniert mit dem Geheimnis; das Buch wird von der Aufdeckung weder besser noch schlechter, ganz egal, ob der Detektiv nun recht hatte oder nicht. Es gibt aber eben auch noch andere Autoren, die ihre Ruhe wollen — Salinger, Pynchon, DeLillo, um nur drei US-Amerikaner zu nennen. Wir können spekulieren, warum sie das wollen, wir können ihnen Wichtigtuerei, Arroganz, Image-Kalkül unterstellen oder erklärende Psychogramme, mitfühlende oder verleumdende, entwerfen. Aber wenn wir das Werk so spannend finden, dass wir auf die Person dahinter neugierig werden, sollten wir auch genug Respekt aufbringen, um den jeweils gewünschten Umgang mit dem Privaten einzuhalten, den Nicht-Umgang in diesem Fall. Ferrante hat die Bestie gereizt? Und wenn schon — ein „Geschieht ihr ganz recht“ läge mir fern. Neugierig bin ich wie wir alle. Trotzdem widern mich der „Scoop“ und die hechelnde Haltung des Aufdeckers zutiefst an. Ich hoffe, Ferrante wartet, bis diese Sau durchs Dorf getrieben ist, und schreibt weiter. Und auch die mutmaßlich hinter E.F. stehende Übersetzerin, ob sie es nun ist oder nicht, sollte die Nerven behalten und den Paparazzi-Spatzenhirnen lächelnd beim Zappeln zuschauen, bis es vorbei ist.
Die Masse der gehobenen Feuilletons – und dazu zählt auch dieses hier – gibt einem Unterhaltungsroman unglaublich viel Raum, weil die dazu gehörende Autoreninszenierung so irre interessant zu sein scheint. Das ist, mit einem Wort, Boulevard!
ich habe – man glaube es oder lasse es bleiben – den Namen Ferrante gestern zum ersten Mal gehört. Neuerscheinungen interessieren mich nur selten (weswegen ich auch nicht zum Bücherblogger tauge, obwohl man es mir nahe gelegt hat). Mich würde interessieren, wie Sie den Begriff „Autoreninszenierung“ verstehen. Wir sind vermutlich gar nicht so weit auseinander.
Die Frage, ob es sich hier einen Unterhaltungsroman (und damit Trivialliteratur?) handelt, ist interessant. In diesem Zusammenhang habe ich zwei Wünsche:
1) eine Definition für Unterhaltungsliteratur
2) eine Begründung, inwiefern „Meine geniale Freundin“ Unterhaltungsliteratur sei
Hallo Sieglinde,
ich bin gegen Dein „Solidaritäts-Wir“. Nein, das sind nicht wir alle, ich nicht – zu soviel Selbstbewusstsein langts sogar bei mir -, und Du auch nicht. Wir wissen, mit Nietzsche: das eine bin ich, das andere sind meine Werke. Wir beide wissen auch: Der Betrieb will es so. Er erwartet und suggeriert jene Authentizität, von der er weiß, dass er sie mit dieser Erwartung zugleich zerstört. Er bedient damit ein Bedürfnis, das zweifellos große Teile des Publikums an den Tag legen. Nur gilt das nicht für mich, und für Dich doch wohl auch nicht. Gerade weil ich etwas älter als 22 bin und schon genug Authentizitäts-Pleitiers erlebt habe, haben mich Texte immer nur als Texte beeindruckt – die angeblich oder tatsächlich authentisch dahinter stehende Story beeindruckte mich nie. Ich lese den Werther, weil er ein guter Roman ist. Ob Goethe Charlotte Buff ins Bett gequatscht bekommen hat – unerheblich! (Hat er nicht, ich wills verraten. Who cares!)
Wogegen ich mich – bei Wilkomirski, Mehari, bei Helene Hegemann – immer gewandt habe ist lediglich eines: Die hard facts für sich in Anspruch nehmen, den Mehrwert an Land ziehen, den eine ‚authentizistische‘, plump realistische Lesart garantiert, aber wenn die Sach‘ scheep ‚gangen iss‘, ruft man auf einmal „Fiktion, Fiktion“, „Nur Literatur, nur Literatur“, „Postmoderne, Postmoderne“, „Intertextualität“. Und wenn wir Glück hatten, langte es bei den Erwischten dann noch für zwei, drei Derrida-Zitate, die einem im Zweifelsfall die PR-Abteilung des Verlags gesteckt hat.
Nun mag man einwenden: Was redet der? Was hat das mit unserem Thema zu tun? Hier sei es ja genau umgekehrt. Wir reden nicht über Autoren, die Authentizität erfinden, sozusagen einen zweiten Roman hinter dem ersten schreiben, sondern quasi über einen zweiten „Fall“ B. Traven. Sicher. Und alles, was Margarete Stokowski über diese Enttarnung (die keine war) sagt, unterschreibe ich natürlich. (Ich darf einen Politiker enttarnen, der die Steuer bescheißt. Ferrante, die anonym bleiben wollte, durfte ich nicht enttarnen.) Aber hier, Ferrante kann nichts dafür, ich kann nichts dafür, niemand kann dafür, beginnen die Eigengesetzlichkeiten des Betriebs. Indem ich mich zwar als Autor öffentlich exponiere, aber nicht als Person – wozu ich, noch einmal klar gesagt, alles Recht der Welt habe! -, setze ich ungewollt eine ganz eigene Art von Authentizität in Szene. Auch das Verweigern einer Botschaft ist eine. Ferrante hätte ja auch für die Schublade schreiben können, mit der Maßgabe, man mache nach ihrem Tod damit, was man wolle. Aber sie veröffentlicht. Sie hat die B. Traven-Strategie gewählt. Sympathisch, keine Frage! Aber auch eine Strategie. Auch ein Umgang mit Öffentlichkeit. In einem habe ich – ich tippe es, vor Kühnheit zitternd – Kai Diekmann immer recht gegeben: Nämlich in seinem Fahrstuhltheorem. Wer mit BILD rauffährt, der fährt mit ihr auch wieder runter. Wer in diesem Literaturbetrieb mit seinen offenkundigen und jedem Beteiligten bekannten Verlogenheiten reüssiert, der muss wissen, dass er im Haifischbecken schwimmt. Der „Fall Ferrante“ ist ein Fall Gatti, richtig – und dennoch, es tut mir leid: so ein bisschen temperieren möchte ich meine Empathie mit Elena Ferrante denn doch. Sie wusste, was sie tat und was ihr Schritt in die Öffentlichkeit bedeuten würde.
Ende teil 1
Teil 2
Deswegen – nur ein scheinbarer Themenwechsel – beeindrucken mich die „Bücherblogger“ auch so gar nicht…ich meine als „Bücherblogger“. Das sind Rezensionsportale. Bei lustauflesen, bei Brasch Buch, bei Sophie Weigand, bei vielen anderen finde ich kluge, gut formulierte Rezensionen, Gedanken, Urteile über (meistens) Neuerscheinungen…ich bin gern auf deren Portalen. Aber warum es sich dabei um etwas ausgemacht Neues handeln soll, um den dernier crie der Literatur, warum „Bücherblogger“ jetzt eine Marke sein soll, erschließt sich mir nicht. Die Bücherblogger selber können nichts dafür, sie sind zu diesem Hype gekommen wie die katholische Jungfrau zum Balg, aber sagen muss man es natürlich. Die prominenten unter den Bücherbloggern, deren Authentizitätsmehrwert ja ursprünglich darin bestand, dass hier angeblich die unverfälschte Stimme des Publikums zu hören sei, haben sich nicht nur längst professionalisiert. Sie traten, wenn ich ihre Texte, insbesondere ihre frühen, richtig lese, auch von Beginn an mit einem ganz anderen Anspruch ans Publikum als Rosemarie und Torsten, die einfach wirklich nur unentstellt bekunden wollten, dass sie Roman X gaaaanz toll und Roman Y totaaal scheisse finden. Kurzum: Brasch, Kienbaum, Weigand sind eine große Bereicherung für die Literatur…nur eben nicht als „Bücherblogger“ (ist das eigentlich ein Lehrberuf?), sondern als professionelle/sich gerade professionalisierende Autoren, Rezensentinnen. Wohl ihnen, wohl ihnen, und das neueste Projekt zusammen mit Klett Cotta finde ich spannend. Aber man erzähle mir bitte nichts über „die authentische Leseerfahrung des Publikums“. Verscheißern kann ich mich selber.
„Wie naiv sind Sie denn?“ frug Peter Scholl-Latour einmal Hern Wiebelskirchen. So frage ich Elena Ferrante: Die verlogene Szene namens Literaturbetrieb interessiert sich also für Ihre bürgerliche Existenz, und das wundert Sie jetzt und empört Sie! Wie naiv sind Sie denn? Ich dachte, Sie haben Foucault gelesen!
Weisskirchen hieß er, sorry: https://youtu.be/qUG5VHhKT9U
Am Markt geht nun einmal nichts am Markt vorbei, weil alles, was als Ware gehandelt wird, nur auf dem Markt gehandelt werden kann. Auch der Name eines Autors ist in diesen Prozessen von Wert- und Marktgesetzen ein handelbares Gut. Insofern bin ich in diesem Sinne nicht verwundert.
Meine Kritik fällt vielmehr von der Kunst selbst her aus, denn es handelt sich um das immergleiche Spiel: Die Gier nach dem Autor als Instanz und Autorität sowie die Sucht nach dem authentischen Text. Abgesehen davon, daß der Begriff Authentizität – insbesondere in der Literatur – ein Trug ist und Ideologie, weil er inzwischen dem Vokabular des Neoliberalismus angehört, spielt es für einen gelungenen Text keinerlei Rolle, ob das Geschilderte persönlich gelebt oder persönlich und authentisch erfunden wurde. (Zumal bei Ferrante ja wohl keine Persönlichkeitsrechte verletzt wurden, wie in den Fällen Biller und Herbst.) Was anders als die Qualität des Textes und die Art, wie er gemacht ist, kann denn Kriterium sein? Ein Text ist ästhetisch gelungen, in Stil und Sprache gekonnt und innovativ vielleicht sogar. Der Text hat etwas zu sagen und er zeigt uns eine Welt, wie wir sie bisher nie sahen: Das sind die Kriterien für gelungene Literatur. Wer diese Prosa schrieb und was die Motive des Schreibers sind, ist zunächst mal akzidentiell. Was nicht bedeutet, wir müßten nichts über den Autor und seine Zeit wissen.
Mal ganz unabhängig von der Qualität des Ferrante-Textes genommen. Es manifestiert sich hier ein Problem, das besteht, seit sich Literatur zur autonomen Instanz erhob. Angefangen beim Don Quijote und dem Spiel mit der Urheberschaft.
Die Enthüllungsjournalisten hätten ihre Zeit lieber auf Besseres und anderes verwendet.
Zitat aus der Literaturzeitung Volltext: „Alle, die bislang nichts zu Ferrante gesagt haben, tun es heute.“
Warum muss „tell“ dabei sein?
Wer mehr über die Definition von Trivialliteratur erfahren möchte, möge in Fachlexika nachschlagen oder – in diesem Fall besser – Thomas Steinfelds hervorragenden Aufsatz über Ferrantes Werk in der Süddeutschen Zeitung lesen:
http://www.sueddeutsche.de/kultur/welterfolg-neapolitanische-suite-von-elena-ferrante-puppenspiel-1.3128011
Tut „Tell“ das? Hier geht es doch eher um die verlogenen Mechismen des Betriebs; zufällig am „Fall“ Ferrante (der gar keiner ist) abgearbeitet.
Viel spannender Ihre Diskussion rund um das Trviale. Mangels Masse – ich kannte bis gestern nicht einmal den Namen – kann ich in Bezug auf Ferrantes Werk darüber natürlich nicht diskutieren. Wohl aber kann ich diskutieren über Steinfelds Begriff des Trivialen: „Der scheinbar ungebrochene Realismus dieses Romanwerks ist aber ein nostalgisches Projekt. Er bedient den Wunsch, die Epoche des großen realistischen Erzählens hätte nie geendet. Oder es möge sie wieder geben, unter anderen, womöglich weiblichen Voraussetzungen. Diese Nostalgie kostet etwas: Sie ist nur um den Preis einer sentimentalen Konstruktion zu haben.“
Und das würde ich bestreiten. Per 2016 wäre dann schlicht alles trivial – ein Sonett, ein Lautgedicht, absurdes Theater, Piktogramme, echte Scheiße auf der Bühne, alles, alles, alles schon mal dagewesen. Alles pure Nostalgie, jahrzehntealt, dada hat sogar Centenar. Wir können natürlich aufhören zu schreiben…es gibt ja übergenug Bücher; eine ganze Lebenszeit reicht nicht aus, sie alle zu lesen. Also: es müsste sich schon konkret bei Ferrante nachweisen lassen, ob sie und wie sie trivial ist. Eine realistische Schreibweise als solche würde ich da als Beleg nicht akzeptieren, denn dann ist per 2016 alles trivial.
Das stimmt so nicht, Elke Heinemann. Sieglinde Geisel hat hier bereits etwas zu Ferrante geschrieben, bevor die Identiät enthüllt wurde. Und auch die meisten Feuilletons brachten bereits Kritiken. Die These von Volltext klingt schön steil, aber sie ist dünn – zumindest, wenn ich das Zitat so aus dem Zusammenhang und in diesem Kontext lese.
Warum tell dabei ist? Zum einen, weil es sich m. E. nicht um Trivialliteratur handelt (wer ein Buch in dieser Weise abqualifiziert, ohne es selbst gelesen zu haben, gibt der Literatur, gelinde gesagt, keine Chance), zum anderen, weil ich die Debatte spannender finde als die meisten anderen Hypes. Es gibt in der deutschen Kritik eine Reflexhandlung: nämlich auf alles zu schießen, was erzählt. Als würde sich Qualität am Genre entscheiden. Es gibt triviale Avantgarde und es gibt großartige Literatur, die erzählt und unter den Riesenschirm „Realismus“ passt. Was einen erzählten Text zu einem trivialen Text macht, würde mich ebenso interessieren wie die Frage, ob ein Text, der spannend erzählt ist, deshalb notwendigerweise seine Ansprüche preisgeben muss.
Was Ferrante macht, ist „geschriebene Wirklichkeit“ (Flaubert), sie zeigt uns „eine Welt, wie wir sie bisher nie sahen“ (@Lars Hartmann), beispielsweise indem sie nicht sagt, sondern zeigt, wie Gewalt alltäglich werden kann, und zwar vermittels ihrer Sprache, in der Architektur des Gesagten. Ferrante bedient die Erwartungen des Lesers nicht (jedenfalls nicht meine), sondern spielt damit, auf eine, wie ich finde, virtuose Weise. Wer ihre Interviews liest, erkennt, welcher Geist dahintersteckt.
Ich habe das Buch noch nicht gelesen, weiß also nicht, ob es sich um Literatur handelt, um Unterhaltung, um vielleicht beides oder anderes. Ich habe das Enthüllungsspektakel aus einer – zugegeben kindlichen – Perspektive gesehen, denn Verstecken ist für mich (auch) ein Spiel aus der Kindheit. Und es gab dabei nichts öderes, als einfach nicht gefunden zu werden. Den Autor/innen gehört ein Schutz der Privatsphäre zugestanden. D’accord in jeder Hinsicht. Aber wer ein Buch in einem Verlag für ein großes Publikum veröffentlicht – ? Vielleicht war der falsche Name ein weiteres Experiment, Literatur ins Leben zu verlängern? Dann wäre allerdings die Ankündigung, nach der Veröffentlichung der Autorinnenidentität mit dem Schreiben aufzuhören, eine doch sehr große Reaktion. Als Literaturkritikerin hätte ich nicht nach ihr gesucht. Mir reicht ein Pseudonym. Dass sie „enttarnt“ wurde ist jedoch meiner Ansicht nach nur eine Frage der Zeit gewesen.
„Ihr Pseudonym war (und ist) ein Statement gegen die Zumutung, dass ein Buch vom Betrieb nicht als Kunstwerk, sondern als Ware behandelt wird.“ Absolut, so wird der Autor zur Marke und das Buch (wie Sie sagen) zum Produkt.