In unseren Lektüretipps weisen wir auf Bücher hin, die uns begeistert, erschüttert, erheitert haben: Klassiker, Entdeckungen, Kuriositäten.

 

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Deutschland ist das Land meiner Träume. Ich suche es und finde es nicht. Meine unerfüllte Liebe zu Deutschland macht mich richtig zum Krüppel. Deutschland ist mein Lebensproblem. Der “Erlkönig” ist mein Abschied von Deutschland.

Der Roman Der Erlkönig (1970) ist Michel Tourniers Liebeserklärung an Deutschland. Tournier fasst darin die Faszination für den Nationalsozialismus und dessen Anziehungskraft in Worte. Dies ist allein der Kunst erlaubt.

Der Riese Abel Tiffauges verkörpert zum einen die Ikonografie des Heiligen Christophorus, der das (Christus-)Kind auf seinen Schultern trägt. Zum anderen ist Tiffauges auch der Name des Schlosses, in dem der Kindermörder Gilles de Rais im 15. Jahrhundert über 140 Kinder entführen ließ, um sie zu foltern und zu ermorden.

Abel, der selbst Kind geblieben zu sein scheint, gelangt in Tourniers Roman als französischer Kriegsgefangener nach Ostpreußen; zunächst arbeitet er als Förster, später verführt und entführt er für das NS-Regime Kinder. Selbst als offensichtlich wird, dass der Krieg verloren ist, leistet Abel seinen Beitrag dazu, die Kinder, die er irgendwie auch liebt, in den Kampf und damit in den Tod zu treiben.

Am Ende versinkt er mit dem einzig verbliebenen Kind, das er zu retten versucht, im Morast. Er trägt Ephraim auf seinen Schultern, einen „Judenknaben“, der Auschwitz entkommen ist.

Als er ein letztes Mal zu Ephraim aufblickte, sah er nichts als einen sechszackigen, goldenen Stern, der langsam im schwarzen Himmel kreiste.

Abels Schicksal wird, wie in einem Mythos, schon auf den ersten Seiten des Romans besiegelt.

Was immer ich in Zukunft tragen mag, mit welch kostbarer, heiliger Bürde meine Schultern beladen und geweiht werden mögen – an meinem sieghaften Ende werde ich, so Gott will, über die Erde schreiten, und in meinem Nacken wird ein Stern stehen, strahlender und goldener als der Stern der drei Könige.

Abel steht sowohl für die Faszination, die vom NS-Regime ausgeht, als auch für dessen Monstrosität.

Alles ist Zeichen. Doch bedarf es eines hervorbrechenden Lichts oder Schreis, um unser trübes Auge, unsere Taubheit zu durchstoßen.

So Michel Tournier in Der Erlkönig.

Angaben zum Buch
Michel Tournier
Der Erlkönig
Roman
Fischer Taschenbuch 1996 · 373 Seiten · 7,09 Euro (antiquarisch)
ISBN: 978-3596257935
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Von Agnese Franceschini

Deutsch-italienische Journalistin und Autorin, u.a. für den WDR.

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