Der Literaturkritiker Martin Ebel meinte seinerzeit in einem Facebook-Kommentar, bei diesem Buch komme der Page-99-Test an seine Grenzen. Die Lektüre der ersten hundert Seiten gibt ihm recht.
Wir bringen das P.S. zum Page-99-Test als Sommertipp. Denn egal, was man literarisch oder moralisch zu Noch wach? meint: Als Strandlektüre eignet er sich allemal.

Der Roman Noch wach? hat 18 Kapitel, und mit jedem Kapitel wechselt die Erzählperspektive. Eine zufällige Gewebeprobe liefert daher nur eine Stimme von vielen. In meinem Page-99-Test ist mir ein interessanter „Fehler“ unterlaufen: Ohne viel zu überlegen, war ich von einem Ich-Erzähler ausgegangen, doch es handelt sich um eine Ich-Erzählerin. Sie kam bereits in einer früheren Szene vor, dort sieht der (Haupt-)Ich-Erzähler sie an einer Bushaltestelle: Er hört mit, wie sie empört in ihr Handy spricht. Diese Figurenrede ist so reich, lebendig und sprechgenau, dass ich sie in voller Gänze zitiere:

nein, nicht ER, wobei er neulich auch mit Natascha beim Friseur war, weil er findet, dass sie zu brav aussieht immer. Aber nee, viel krasser, das war der Fummel-Opi! Ich schwör’s dir! Eigentlich sollte ich heute die Hymne abnehmen und dann die Liveschalte zum Kanzleramt moderieren … Ja, wegen der Gesetzesänderung … Nein, das stand seit Wochen im Dienstplan, dass ich heute „Das wird man ja wohl noch sagen dürfen“ hoste. Und dann kam plötzlich, keine Ahnung, fünf Minuten vor Sendebeginn oder so, kam der Fummel-Opi und meinte original zu mir: „Mit ungemachten Haaren kommst du mir nicht mehr auf den Sender, das habe ich dir immer gesagt – und dann macht‘s eben statt dir heute die Melli. Punkt, aus, end of discussion.“ … Ja, ich weiß, das meint ich auch zu ihm. Aber er dann nur so: „Dann gehst jetzt halt zum Friseur, Kleines, und morgen ist ein neuer Tag.“ ICH MEINE – HALLO?

Dieser gruselig genau getroffene O-Ton findet sich auf Seite 76. Ab Seite 97 tritt die Moderatorin dann ein Kapitel lang als Ich-Erzählerin auf und spricht auf der Seite 99 unter anderem von ihrer „Brokkoli-Frise“ – mein Befund der leicht unkontrollierten und gerade deshalb so passgenauen Figurenrede wird jedenfalls von der erweiterten Lektüre gedeckt.

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Die unzuverlässigste der ganzen Ich-Figuren ist, wie könnte es anders sein, der eigentliche Erzähler. Auf Seite 72 stellt er sich uns mit folgenden Worten vor:

Und der Freund des CEOs, also ich, ich war die lose Bordkanone, der betrunkene Onkel am zweiten Weihnachtstag, kann man nichts tun dagegen, ist nun mal so – und mache eben immer so meine Witzchen. Der CEO, mein Freund, lachte dann immer voraus, gab also das Kommando, und dann fielen sie gleich mit ein. Sie kannten es nicht anders von mir und hörten schon lange nicht mehr genau hin, wenn ich was sagte.

So einer Figur hört man gerne zu, es ist ein wenig wie in House of Cards: Man kommt dem Protagonisten näher, als einem lieb ist, weil er ständig die vierte Wand durchbricht und uns ins Vertrauen zieht.

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Die ersten hundert Seiten haben stilistisch viel zu bieten – hier eine tour d’horizon dessen, was mir so aufgefallen ist.

Benjamin von Stuckrad-Barre hat ein maliziöses Ohr für Phrasendrescherei, beispielsweise anlässlich der Führung durch die Baustelle für das neue Verlagsgebäude:

Hier wird, da kommt, das soll, von hier aus kann man dann, dadurch wird dann jeder – ah ja.

Genüsslich lässt er den „Freund“ mit seinen „Zitatklassikern“ zu Wort kommen:

Wer nicht mit der Zeit geht, geht mit der Zeit.

Nach einem Streit mit dem Freund hofft der Ich-Erzähler, „dass er großzügig sein würde und Herbert Wehner zitieren, auch so ein trüb ausgeleierter Merksatz aus seinem Standardrepertoire“. Und fünf Zeilen später kommt der Wehner-Satz tatsächlich:

Wer rausgeht, muss auch wieder reinkommen.

Einige Bonmots hatten mich beim ersten Lesen geflasht, doch beim zweiten Hingucken fand ich sie dann doch nicht mehr so toll:

Miles Davis – mein Freund liebte natürlich Miles Davis (tat er wirklich, und doch dachte ich manchmal: Vor allem liebte er es, Miles Davis zu lieben) […].

(Vielleicht doch nicht so schlecht?)

Unter meinen Anstreichungen finde ich gestochen scharfe Gesellschaftsanalysen, en passant hingeworfen:

[Über den Chefredakteur]
Immerzu bezog der sich auf eine ominöse überwiegende Mehrheit, die das (egal was) genauso sähe wie er, aber sich eben nicht zu sagen traue, weshalb er das heldenhaft übernähme.

[Über den Chef/CEO]
… den wiederum sie aber seit ein paar Jahren nicht mehr Chef nannten, sondern CEO, weil ihnen das nämlich das Gefühl gab, sie seien Teil einer zwar etwas vagen, so oder so aber ganz gewiss strahlenden Zukunft.

[Über entfremdete Büro-Vokabeln]
es gab eine ganze Abteilung mit dem irgendwie beängstigenden Namen HUMAN RESOURCES.

Es gibt in diesen hundert Seiten etliche erfundenen Wörter, viele davon gefallen mir:

  • „Binnenkomik
  • „Blendwörter-Lalltext“
  • „heiliger Mondlandungsernst“
  • „Hyperzukunftsklapse“
  • „immanente Helmutdietligkeit der Situation“
  • „die stets überaus freudestrahlend verkündete Rabatzeröffnungsformel: DARF ICH MAL DEN AGENT PROVOCATEUR GEBEN?“

Anderes ist beim ersten Mal lustig und wird dann zur Masche:  

  • „edgarallenpoig“, „jesusig“, „talkshowig“, „fernsehkommissarig“

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Sprache ist eine Waffe, sagte Tucholsky, und Stucki hat ständig den Finger am Abzug. Anfangs dachte ich, es sei nur eine Spielzeugpistole, doch auf den ersten hundert Seiten stoße ich verdächtig häufig auf eine Passage, die sitzt.

Zum Beispiel auf der Seite 64 (das wäre eine schöne Seite 99 gewesen!). Der Ich-Erzähler hat dem Freund von einem #Metoo-Fall erzählt, und der Freund meint, die betreffende Mitarbeiterin solle sich doch bitte an die Human-Resources-Abteilung wenden.

Und dann werde man der Sache MIT HOCHDRUCK NACHGEHEN.

Worauf eine durchgestylte Passage folgt:

Apropos Hochdruck, sagte ich nun, um die betretene Aussegnungshallenatmosphäre in unserem schweinepeinlichen Feuerschweifauto endlich wieder mit etwas Heiterkeit zu durchlüften, und ich liebte diese Frühstücksfernsehmoderatorenidiotie der Apropos-Überleitungen, speziell in seinem Sender waren sie auch diesbezüglich MARKTFÜHREND, alles Moderieren bei denen morgens war komplett durchseucht von dieser Überleitungsversessenheit, vollkommen abwegig alles, alles, alles miteinander zu verbinden in diesen Palliativsendungen, die einem gar nichts zutrauten und damit sehr viel zumuteten – ein Thema war fertigbesprochen, dann kam das nächste, und als unverzichtbar erachtet wurde dazwischen eine BRÜCKE, als die fast immer das APROPOS diente, von zum Beispiel einem Terroranschlag zum Frühlingsanfang:

Apropos Explodieren – die ersten Blumenknospen explodieren jetzt landauf, landab!
Apropos Hochdruck, sagte ich also, nur eines noch […]

Großartig, die Dichte an Pointen, die ins Schwarze treffen („diese Palliativsendungen, die einem gar nichts zutrauten und damit sehr viel zumuteten“ – bingo!). Und am Schluss kriegt er die Kurve ganz nonchalant, als wäre nichts gewesen.

ChapeauChapeauChapeau.

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Noch wach? ist ein hochtourig geschriebenes Buch zum Schnelllesen, eine ästhetische Geisterbahn, exzellente Schwurbelunterhaltung – und ein guilty pleasure, wenn es je eins gab. Nicht nur, weil man aus der Schlüssellochperspektive nicht rauskommt, sondern weil man (ich) es auch nicht will: Der Freund/Chef sowie der Chefredakteur, die hier so gnadenlos vorgeführt werden, haben es nicht anders verdient.

Dass die literarische Attacke ins Schwarze trifft, liegt nicht an dem, was enthüllt wird, sondern am Wie: Der Stil macht die Musik.

Angaben zum Buch

Benjamin von Stuckrad-Barre
Noch wach?
Roman
Kiepenheuer & Witsch 2023 · 384 Seiten · 25 Euro
ISBN: 978-3462004670

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Von Sieglinde Geisel

Journalistin, Lektorin, Autorin. Gründerin von tell.

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