Wie ging das mit der Wokeness nochmal? Das ist, wenn mensch sich darum bemüht, herauszufinden, was richtig und falsch ist, sich dann auf die richtige Seite stellt und auf andere einwirkt, damit die das möglichst auch versuchen – oder so ähnlich.

Die Kulturwissenschaftlerin, Journalistin und Autorin Mithu Sanyal hat vor zwei Jahren mit Identitti ein Buch vorgelegt, das es uns mit dem „richtig“ und „falsch“ nicht ganz so leicht macht.

Professorin Saraswati, Woke-Guru par excellence, fliegt damit auf, dass ihre Herkunft nicht teilweise indisch ist, sondern weiß, biodeutsch, privilegiert. Für die Bloggerin Nivedita, die Saraswati als Identifikations- und Vorbildfigur verehrt, bricht eine Welt zusammen. Während die Social Media schäumen, reagiert Saraswati kämpferisch. Ist die Frage, wer spricht, wirklich wichtiger als das, was gesagt wird? Soll alles, was sie über Feminismus, Anti-Postkolonialismus, Empowerment und Widerstand gelehrt hat, auf einmal falsch sein?

In dem Roman ist keine:r perfekt oder platt, viele sind klug, manche vernagelt. Besonders viel Spaß machen der Spannungsbogen des clever erdachten Plots sowie die Sprache: Nivedita, aus deren Personalperspektive der Roman erzählt wird, hat ein frisches Nicht-nur-Biodeutsch drauf; leicht, lässig, spielerisch, angereichert mit Jargon und Englischsprengseln, sie klingt glaubwürdig in ihrem Dilemma.

Identitti ist ein Roman über und gegen Lagerdenken, schlau und unterhaltsam (was dem Woke-Thema nicht oft zu bescheinigen ist); im Gleichgewicht zwischen Ernstnehmen und (Selbst)Ironie ist das Buch dicht am flatternden Puls der Zeit.

Hier eine Kostprobe – sie ist etwas länger, doch nur so lässt sich der Stil dieses ungewöhnlichen Romans erfassen:

Weshalb Nivedita sich daranmachte, möglichst viele neue Körpersensationen zu sammeln. Sprich: Sie schlief zum ersten Mal in ihrem Leben mit Männern of Colour.
Hatten sie sich bis dahin vorsichtig umkreist und dann höflich gemieden, um sich jeweils weißen Sexualpartner*innen zuzuwenden, aus Angst, sich mit ihrer Fremdheit anzustecken – oder herauszufinden, dass sie gar nicht so besonders waren, wie sie stets behandelt wurden –, eröffnete sich ihnen nun ein komplett neues Buffet sexueller Möglichkeiten: Bist du homo, hetero, inter- oder intraracial?
Sex mit anderen PoCs bedeutete für Nivedita, das erste Mal ohne ihren unique selling point zu sein. Das erste Mal nackt. Die Sache kulminierte, als sie sich in Anish verliebte, dessen Eltern beide aus Kerala kamen und nicht wie Niveditas aus West-Bengalen und von Polen und von überall her. Sie wartete auf den unvermeidlichen Moment, an dem er sagen würde: „Du bist ja gar keine echte Inderin.“
Stattdessen sagte er: „Ich frage mich manchmal, was meine Eltern sehen, wenn sie mich anschauen. Eine Kartoffel?“
Sie lagen in seinem WG-Zimmer auf der Matratze. Durch das offene Fenster wehte der Geruch von Herbstastern herein und die entsetzte Stimme seines Mitbewohners, der bei ebenfalls offenem Fenster von seinem Beziehungspartner verlassen wurde. Während die beiden sich ad hominems an den Kopf warfen, presste Anish seinen Körper an Niveditas, als wäre sie das einzige, was ihn vor dem Abgrund, der sein Leben war, bewahren konnte.
Es war ein Aphrodisiakum, dass Anish Sex mit ihr als Beweis dafür ansah, dass er war, wer er dachte, dass er war. Aber bin ich, wer ich denke, dass ich bin?, dachte Nivedita.

Dieser Roman ist kein getarnter Leitfaden fürs Richtigmachen, deshalb eignet er sich als Sommerlektüre für alle, die mitreden wollen: Man, frau und mensch kann ihn als cooles Plädoyer dafür lesen, nicht abzulassen vom Fragenstellen – auch wenn es keine befriedigenden Antworten gibt.

Angaben zum Buch

Mithu Sanyal
Identitti
Roman
btb Verlag 2023 (Taschenbuchausgabe) · 432 Seiten · 13 Euro
ISBN: ‎978-3442772537

Bei yourbook shop oder im lokalen Buchhandel

Unterstützen Sie uns auf Steady

Teilen über:

Von Frank Heibert

Übersetzer, unter anderem von Don DeLillo, Willam Faulkner, George Saunders, Lorrie Moore, Boris Vian, Yasmina Reza und Richard Ford. 2006 erschienen sein erster Roman „Kombizangen“ und das Jazz-Album „The Best Thing on Four Feet“ (zusammen mit der Jazz-Combo Finkophon Unlimited).

Antworten

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert