Virginia Woolf hat in ihrem Essay A Room Of One´s Own die Bedingungen benannt, die für Frauen mit literarischen Ambitionen unbedingt notwendig sind, um aus dem Schweigen auszubrechen: materielle Sicherheit und ein eigener Raum.
Die Biografie der amerikanischen Schriftstellerin Tillie Olsen belegt diese Thesen. Olsen hatte selten beides, und so blieb ihr Oeuvre schmal. In ihrem Buch Was fehlt, in dem sie den unterdrückten Frauenstimmen in der Literatur nachgeht, schreibt sie:
In den zwanzig Jahren, als ich meine Kinder zur Welt brachte und aufzog, zumeist auch noch einer bezahlten Arbeit nachgehen musste, existierten nicht einmal die einfachsten Voraussetzungen für literarisches Schaffen.
Und später, als die Aufgabe vollbracht war:
Lange Zeit war ich jene ausgezehrte Überlebende, die zitternd am Strand liegt und nicht aufstehen und loslaufen kann.
Dennoch entstand ein Band mit Erzählungen. Er trägt den sprechenden Titel Ich stehe hier und bügle. In der gleichnamigen Erzählung berichtet eine „ausgezehrte Überlebende“ einer Sozialarbeiterin über ihre etwas schwierige Tochter. Aber nicht die Tochter ist schwierig, sondern die Verhältnisse sind es. Die Frau wäre gern Schriftstellerin, doch sie bewältigt kaum die täglichen Aufgaben des Überlebens. Schon das Reflektieren über ihre Tochter scheint der Erzählerin unmöglich:
Wann bleibt die Zeit, sich zu erinnern, zu sichten, zu prüfen, abzuwägen, ein Fazit zu ziehen?
Diese Fragen könnte die Erzählerin auch problemlos in Bezug auf das Schreiben stellen. Was dann folgt, erlebt heute noch jedes Elternpaar, dessen Kinder nicht glatt durchlaufen: Vorwürfe der Umgebung und Rechtfertigungen der Eltern für Fehler, die sie nie gemacht haben.
In der Erzählung „He, Seemann, wohin die Fahrt?“ erzählt Tillie Olsen von den verheerenden Auswirkungen des Alkohols auf eine Familie. Und in dem kurzen Stück „O ja“ kommt Carol, ein junges Mädchen, zur Taufe ihrer afroamerikanischen Freundin Parry mit in die Kirche und wird dann vor religiöser Überwältigung ohnmächtig. Sie ist die einzige Weiße in der Kirche. Tillie Olsen lässt Carols ältere Schwester am Abendbrottisch über die Beziehung der beiden Freundinnen sagen:
„Die sind jetzt in der Mittelstufe, Mutter. Weißt du nicht, was das heißt? Wie die sortieren? Und es geht nur darum, wohin du gehst. Ja, und Parry ist schwarz und Carrie weiß.“
Auf die Frage des Vaters: „Wen meinst Du mit ‚die‘?“ weiß die ältere Schwester keine Antwort.
Spätestens hier wurde mir klar, wie modern Tillie Olsen auch thematisch ist. ‚Schwierige‘ Kinder, die Verheerungen der Alkoholsucht, das ‚Sortieren‘ von Menschen anhand äußerlicher Merkmale schon auf dem Bildungsweg – diese Themen bleiben aktuell.
Poetisch am stärksten ist die letzte Geschichte „Erzähl mir ein Rätsel“. Tillie Olsen verarbeitet hier offenkundig den Krebstod ihrer eigenen Mutter, die noch einmal durch die USA fährt, um ihre verstreuten Kinder zu sehen und um Bilanz zu ziehen: ein Ehemann, der sich den Lebensabend anders vorstellt, geselliger, in einem Altersheim – während die Todkranke das Haus nicht verlassen möchte, denn es ist ein Symbol für die Ankunft der nach der Revolution 1905 aus Russland Geflüchteten. Oder die Erinnerungen, wenn man alte Bekannte trifft:
Dreißig Jahre werden zusammengepresst zu einem Dutzend Sätze; und die Gegenwart in nicht mal drei Sätzen.
“Alles, was passiert, müssen wir versuchen zu verstehen, “ sagt die Sterbende, während sie sich an ihre russische Heimat erinnert. Dabei geschieht eher das Gegenteil:
Der Tod vertieft das Staunen
stellt Tillie Olsen zum Schluß lapidar fest.
In Anbetracht der Kürze ihres Gesamtwerkes lautet mein Sommertipp schlicht: alles von Tillie Olsen.
Tillie Olsen
Ich steh hier und bügle
Storys
Aus dem Amerikanischen von Adelheid Dormagen und Jürgen Dormagen
Aufbau 2022 · 160 Seiten · 20 Euro
ISBN: 978-3351039820
Tillie Olsen
Was fehlt
Unterdrückte Stimmen in der Literatur
Aus dem Amerikanischen von Nina Frey und Hans-Christian Oeser
Mit einem Nachwort von Julia Wolf
Aufbau Verlag 2022 · 352 Seiten · 22 Euro
ISBN: 978-3351039837