Benjamin von Stuckrad-Barres Roman Noch wach? ist der Hype der Stunde. „Mein Buch ist Literatur und kein Klatsch“, sagt er in seinem Interview im Spiegel. Er interessiere sich nicht „für diesen Typen“ (den Namen Julian Reichelt nimmt er nicht in den Mund), „sondern für einen bestimmten Typus Mensch“, und von dem erzähle er in seinem Roman. „Ich habe einen Roman geschrieben, wirklich einen Roman, und der ist fiktiv“, wenn auch inspiriert von der Wirklichkeit; das gesamte Personal sei „anhand der Wirklichkeit frei erfunden“ – wieder und wieder muss von Stuckrad-Barre auf die Fiktionalität seines Romans pochen, die Interviewer lassen nicht nach mit ihren Schlüsselroman-Fragen.

Wäre in diesem Roman tatsächlich alles erfunden, gäbe es keinen Hype. Niemand interessiert sich für das Wie dieses Romans, alle Scheinwerfer zielen auf das Was: die schmutzige Wäsche des Springer-Verlags, die derzeit auf allen Kanälen gewaschen wird.

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Die Seite 99 von Noch wach? hat zwei Hälften, getrennt durch eine Leerzeile. Es beginnt mit einer launigen Ich-Erzählerpassage:

Ich kniete da echt vor meinem Drucker und hab auf einmal so einen derben Lachflash gekriegt, das war so befreiend, Alder, habe ich gedacht und konnte echt nicht mehr vor Lachen, Alder, was für eine Scheißaktion.

Das ist, abgesehen vom konventionellen „echt“, das gleich zwei Mal vorkommt, und der mündlichen Zeitform des Perfekt, mehr als die handelsübliche Umgangssprache. „Lachflash“ ist schon mal gut, und „derb“ ist ein gutes Adjektiv: Man erwartet es nicht, und doch passt es. „Alder“ ist in dieser Schreibweise weder im Duden noch im Digitalen Wörterbuch verzeichnet, obwohl es schon 2011 eine Konferenz mit dem Titel „Is ja Hamma, Alder“ gab.

Und dann habe ich, obwohl es schon total spät war, ganz laut Katie Melua angemacht, ich weiß, supercheesy, aber was soll’s, und hab mir echt vorm Schlafengehen – ich meine, wie sinnlos ist das, bitte? – die Haare geglättet.

Bei der Wendung „total spät“ meckert Word („Prägnanz: Versuchen Sie, überflüssige Adjektive zu vermeiden“), es wirkt etwas kindlich mit seiner hilflosen Verstärkung, auch eine Musik „anmachen“ ist kein Erwachsenensprech. Ich muss gestehen: Katie Melua musste ich googeln, klingt ganz nett, bisschen Kitsch – „supercheesy“ eben. Der Einschub „wie sinnlos ist das, bitte“ ist eine kleine Variation zum gebräuchlicheren „wie sinnlos ist das denn?“ Das „bitte“ wirkt ein bisschen zu wohlerzogen – aber vielleicht ist das gerade der Witz?

Beim Haare glätten laufen dem Ich-Erzähler Tränen übers Gesicht,

aber so gute Tränen, wisst ihr, wie ich meine? So euphorische Tränen.

Direkte Leseransprache, es wird immer interessanter. Die „euphorischen Tränen“ eignen sich perfekt für den Schreibunterricht: Dieses Adjektiv zum Wort Tränen ist garantiert noch niemandem eingefallen (Google findet nur 8 Beispiele, das ist beinahe Null). Unkonventionelle Ideen sind noch keine Garantie für literarische Güte, aber immerhin.

Unser Ich-Erzähler filmt sich und seine Tränen, und er postet das Video gleich nächtens, wie man das in dieser Stimmung eben tut. Am nächsten Morgen denkt er, es sei alles nur ein Traum gewesen,

auch weil ich morgens nachm Aufstehen ja dann immer so ne Brokkoli-Frise hab.

Das ist hautnah am Sprechen, genau die richtige Portion Redundanz („ja dann immer so“), und „Brokkoli-Frise“ – hach! (Nicht nur wegen dem Brokkoli, ich dachte „Frise“ hätten nur wir damals in der Schweiz gesagt, zu meinem Erstaunen finde ich es im Duden: „salopp, veraltend“)

aber als ich dann Insta gecheckt habe und die ganzen Herzen unter meiner Story gesehen habe, wusste ich, das alles ist echt passiert.

Auch das ist glaubwürdig als gesprochene (bzw. gedachte gesprochene) Rede, gerade auch wegen der stilistisch unschönen Wiederholung von „habe“.

Benjamin von Stuckrad-Barre kann schreiben, wie man redet – und das weiß er auch. „Schreiben Sie mit, wenn Sie Menschen reden hören?“, wird er im Spiegel-Interview gefragt, und natürlich tut er das nicht, denn er weiß, dass Mitschreiben nichts nützt. „Nein, ich habe einfach ein recht gutes Gehör und ein seltsam präzises Gedächtnis für gesprochene Sprache. Ich höre wahnsinnig gern zu, wenn Menschen sprechen. Egal wer, egal worüber. Für mich ist das Musik. Helmut Dietl hat immer gesagt: ‚Was einer sagt, ist wurscht. Wie er’s sagt, das ist der Inhalt.‘“

***

Die untere Hälfte der Seite, nach der Leerzeile, besteht aus einem einzigen Satz (rein syntaktisch sind es mehrere eng aneinandergefügte Sätze, aber das empfindet man nicht so), der nach sage und schreibe 134 Wörtern am dem Ende der Seite immer noch nicht fertig ist, nicht einmal annähernd.

Wir finden uns in einem ganz anderen sprachlichen Universum wieder. Die Atmosphäre ist kühl, die Sprache kontrolliert. Der Ich-Erzähler ist erwachsen, er trägt ordentliche Klamotten, teure Schuhe (so stelle ich ihn mir anhand seiner Sprache vor), sein literarisches Deutsch sitzt ebenso perfekt wie vorhin die pubertär enthemmte Laberschnauze.

Sie sah auf, während ihrer gesamten Rede hatte sie vor sich auf den Boden gestarrt, aber jetzt schaute sie hoch, scannte den gesamten Stuhlkreis unserer Selbsthilfegruppe, und als sie mich erblickte, verharrte ihr Blick kurz, wir sahen einander in die Augen, ich hatte meine Hände schon zum Klatschen erhoben, klatschte gerade los, als unsere Blicke sich trafen (…)

Fazit:
Man sollte Noch wach? wegen dem Wie lesen, nicht wegen dem Was.


Angaben zum Buch

Benjamin von Stuckrad-Barre
Noch wach?
Roman
Kiepenheuer & Witsch 2023 · 384 Seiten · 25 Euro
ISBN: 978-3462004670

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Von Sieglinde Geisel

Journalistin, Lektorin, Autorin. Gründerin von tell.

13 Kommentare

  1. Wenn sowas, nur in anderem Kontext, Clemens Meyer oder Daniel Kehlmann geschrieben hätten (die allerdings solch krudes Zeug niemals schreiben würden), dann hagelte es hier vermutlich einen deftigen Verriß. Literaturbetrachtung wird in den Dienst von Ideologie genommen. Hauptsache ein Buch dient der richtigen Sache – dieser Verdacht zumindest drängt sich mir auf, wenn ich diese Schreibelaborate von Stuckrad-Barre lese. Was in diesem Test zitiert wird, ist derartiger Kitsch, daß es nicht einmal als Kolportage-Roman durchgeht.

    Im übrigen: Wenn Stuckrad-Barre einen Roman über Frauen im Medienbetrieb schreibt, mutet es ein wenig an, als hätte der ehemalige Erzbischof Robert Zollitsch einen Roman für Kinderrechte verfaßt.

    Daß solche mediokren Gestalten wie Stuckrad-Barre allerdings im Kulturbetrieb wie Fettaugen auf der Suppe schwimmen, sagt leider auch vieles über diesen Betrieb aus.

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    1. Kitsch? Und dann: Was genau? Kann man so sehen, dann allerdings unter Ausschluss jeglicher Ironie. Dass diese im Spiel sein könnte, legt zumindest der Registerwechsel auf der zweiten Hälfte der Seite nahe.
      Das mit der Ideologie ist Quatsch. Ich hatte gerade von diesem Buch erstmal nichts erwartet – auf der ideologisch-moralischen Ebene habe ich gegenüber dem Autor größte Vorbehalte.
      Aber gerade darum geht es bei der ästhetischen Untersuchung des Page-99-Tests nicht.

    2. hey bersarin: Das ist für mich Banane, bogus und beserk. Was möchten Sie? Autor und die Rezensentin zum Schweigen verdonnern und für die FAZ werben? Anders als Ihnen ist es mir doch herzlich gleichgültig, ob der Autor nun sympathisch ist oder nicht. Die Methode des Seite-99-Tests von tell-review gefällt mir deshalb, weil sie sich abhebt darin, dass die Sprache der Seite 99 eines Buchs betrachtet wird, und das sogar erstmal ohne zu werten, eher analytisch. Ist ihnen das zu trocken, zu wenig ad hominem? Niemand muss tell review lesen. Wer sich an dem Status des Autors dieser Seite 99 als einem Prominenten, Partylöwen, Drogensüchtigen, Insiders abarbeiten will, kann das Interview des Spiegels mit dem Autor lesen. Ich fand sogar das Spiegel-Interview witzig, weil der Autor darin eine sehr seltsame promotion im Internet für sein Buch verteidigt.

    3. Lies einfach nochmal, was ich geschrieben habe, Senglaub. Es geht hier um die literarische Qualität eines Textes und nicht, ob man darüber schreiben darf oder nicht.

    4. “Daß solche mediokren Gestalten wie Stuckrad-Barre allerdings im Kulturbetrieb wie Fettaugen auf der Suppe schwimmen, sagt leider auch vieles über diesen Betrieb aus.”
      Das ist für mich keine Aussage über die literarische Qualität eines Textes, sondern eine Diffamierung eines Autors. Ich kenne den Autor nicht, doch ich empfinde auch ohne ihn zu kennen es so, als ginge hier jemand berserk.
      Ich denke, sogar ein Bischof, der Verbrechen in seiner Diözese vertuscht, kann über seine Rolle bei dieser Vertuschung ein Buch schreiben. Ich habe den Eindruck, als gine es in Noch wach? um etwas Anderes als eine Rechtfertigung für Mitmachen bei einem menschenverachtenden Konzern.

    5. Für welche polit. Strömungen sollen Handke, Mosebach, Meyer stehen, und warum sollte bei einer Rezension von Handke, Mosebach, Meyer die polit. Strömung, für die sie angeblich stehen, die Rezension tönen? Handke wurde in tell-review bereits rezensiert. Der Autor von Noch wach? stand auf der Gehaltsliste desjenigen dt. Medienkonzerns, der rechte Blogger von der FAZ und sonstwo einsammelt und der für die FDP Wahlkampf macht. Eine Verschwörungstheorie, gemäß der ein Rezension-Blog es darauf anlegen würde, unter der Tarnung von Rezensionen ein Geschäft zu betreiben, bei dem es um Attacken gegen rechts und Werbung für links geht, ist in meinen Augen ungefähr so nah an der Realtität wie die Behauptung, dass die Redaktion der größten dt. Boulevardzeitung unabhängig von ihrem Eigentümer Themen wählt.

  2. Wenn es sprachlich nicht funktioniert, redet man sich auf Ironie heraus. Dies kritisierte bereits Marcel Reich-Ranicki, wenn ein Autor aus der Perspektive des Kindes erzählte und diese Perspektive dann zum Vorwand nahm, besonders kindisch zu schreiben. Die Perspektive des Kindes ist gerade keine Ausrede dafür, kindisch zu schreiben, so MRR.

    Und nochmal: wenn Du nicht wüßtest, wer der Autor ist und worum es in diesem Buch auch gesellschaftspolitisch geht, dann wäre, da bin ich mir sicher, Dein Urteil ganz anders ausgefallen. Wenn Martin Mosebach eine Enthüllung über das rot-grüne taz-Journalisten-Milieu schriebe, dann hättest Du ihm sowas um die Ohren gehauen.

    Sollten Peter Handke beim Pilzesammeln oder beim Juke-Box-Hören euphorische Tränen übers Gesicht laufen, bin ich mir sicher, daß Du für dieses Adjektiv weniger gute Worte finden würdest. Aber das bleibt Spekulation.

    Und sicherlich muß man, wenn solche Passagen auf einer einzigen Seite überhaupt sinnvoll beurteilt werden sollen, bereits den Kontext eines Buches kennen. Und nach diesem wird dann auch geurteilt und nicht rein sprachlich, sondern nach dem Zusammenhang – der ja nun in diesem Falle, Stichwort Springer, Stichwort Reichel, hinreichend aufgeladen ist. Ansonsten müßte man nämliche eine Buchkritik schreiben, darin dann der Stellenwert solcher Passagen im Gesamtzusammenhang des Buches analysiert wird. So für sich genommen, sind sie einfach nur Schnoddersound und belanglos. Nicht einmal sprachlich besonders gelungen und kunstvoll, wenn man sie nur als solche nimmt.

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    1. Mosebach, Handke als Galionsfiguren gegen den Autor, das finde ich billig. Der Autor von Noch wach? ist doch politisch neutral. Mosebach ist ein Katholik, der meint, er es für provozierend hält, Messen auf Latein zu mögen, Handke ein Nostalgiker, der Benzin gern statt aus der Zapfsäule lieber aus Kanistern sich abfüllt, und das soll eine politische Front sein, die die, die den Autor als Kokser mögen, dann sich positionieren? Der Literaturbetrieb hat Handke den Nobelpreis verliehen, er sieht sich in der Liga von Cervantes. Wenn der Autor von Noch wach? mit seinem Buch weniger abzielt auf die Liga von Cervantes, sondern auf Leute, die sich gerne Seemannsgarn anhören von einem abgerockten High Society Jünger, der gerne Cocktails an teuren Orten von LA trinkt – ja mei, wer bin ich, mich zu einem Urteil aufzuschwingen?

    2. Es geht in meinem Kommentar um die Präferenzen bei bestimmten Autoren und bei bestimmten Themen. Einfach nochmal gründlich lesen, was ich schrieb. Und ich spekuliere, daß das, was hier in der Wertung positiv genommen wird, bei Handke, Mosebach oder Clemens Meyer von Sieglinde Geisel als negativ markiert würde. Aber das ist eben nur eine Spekulation. Die oben zitierte Passage ist, so für sich gelesen, nichtssagend und ohne jede poetische Relevanz. Gymnasiasten-Prosa. Davon abgesehen, daß Stuckrad-Barre natürlich ein politischer Autor ist, wenn wir uns ansehen, mit welchem literarischen Programm er in den 1990er Jahren antrat. Und vielleicht wird Dir auch aufgefallen sein, daß Springer, Medien und der Umgang mit Frauen durchaus politische Thema sind.

  3. Ich bin auch ein wenig fassungslos darüber, wie hier eine elaborierte Blogprosa zur Literatur nobilitiert werden soll. Allein die literaturtheoretischen Implikationen des Urteils “Glaubwürdigkeit” in der Wiedergabe von Alltagssprache als eine tatsächlich literarische Kategorie (“Botropper Protokolle”?) sind erschütternd. Allerdings, so erschütternd auch wieder nicht. Wenn die journalistischen Weltsicht zu einem brandheißen Thema in einem Romanen veredelt wird, der zudem sprachlich so daherkommt, als hätte ihn ein nur halbwegs talentierter Journalist auch verzapfen können, fühlen sich viele Feuilletonisten gleich mit erhoben. Und dann wird gelobt, dass die Schwarte kracht.

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    1. Naja, ob ich tatsächlich die Schwarte habe krachen lassen?
      Mit “Glaubwürdigkeit” ging es mir nicht um den Realitätsgehalt, also die Frage, ob der Schlüsselroman die Realität eins zu eins abbildet, sondern um die Figur, bzw. die Qualität des Dialogs. Höre ich hier tatsächlich jemanden reden? Und wenn die Figur so redet (mir gefällt Ihr Ausdruck “Blogprosa”) und so reden soll, dann ist gerade das Dahingeworfene der Trick.
      Aber Ihr Kommentar legt nahe, dass ich zumindest die ersten 98 Seiten noch dazulesen sollte. Ich werde mich bemühen!

  4. Liebe Frau Geisel,
    besser Sie verschwenden Ihre Lebenszeit nicht für die ersten 98 Seiten.
    Ansonsten muss ich meinen beiden Vor-Kommentatoren in ALLEM zustimmen. Basta, mehr ist dazu nicht zu sagen.
    Was mich leicht fassungslos macht, ist die Reaktion des
    Kulturbetribes, sprich Feuilleton und Kulturmagazine im TV.
    Dieser unglaubliche Hype für solchen Schmus – Gute Nacht, armes Kultur-Deutschland. Wäre es nicht so absurd, wäre es zum lachen.

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  5. unglaublicher Hype. Ich finde, der Hype ist noch zu klein, und ich bin froh, dass tell-review bei diesem Hype mitmacht, yeah. Mir kommt das so vor wie die Einwände, die damals Leute gegen die TV-Heirat von Lady Di vorgebracht haben. Als hätte diese TV-Heirat war anderes sein wollen als eine TV-Heirat. Genauso ist Noch wach? ein Bericht aus einer Welt, in der man nachts sich sms schickt mit den zwei Worten noch und wach und einem Fragezeichen. D.h., der Titel kündigt ein Buch aus der Sphäre von Nachteulen an, die sich die Nächte mit ihren Handys und mit sms um die Ohren schlagen. Wer das also wissen will, der erfährt aus Noch wach? was. Wer Leute, die nachts sms verschicken, nicht leiden kann, meckert am Buch rum. couch potatoes, Schlaftabletten, Schönheitschläfer, Sprachreligiöse, geht nach Hause und lasst die andern diese elaborierte Selbstdarstellung einfach in Ruhe lesen und genießen. yeah, tell-review, hat auch ein englisches Wort im Titel, rezensiert aber dt. Bücher. vielleicht zu cool für manche der LeserInnen

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