Am Anfang steht die Erinnerung an eine alte Geschichte. Wenn die „Grossmeer“, wie die Grossmutter in Kim de l’Horizons Blutbuch heisst, Wolle strickt, dann sind ihre Hände eine „ratternde, klappernde, klackernde Textilmaschine, die sich rastlos um sich selbst dreht, aus losen Fäden feste Gewebe hervorzaubert“, eine Maschine, die „wie das Maulwerkzeug einer Spinne arbeitet“. Von der „Grossmeer“, die selbst „eine riesige Spinne“ ist, lernt das Enkelkind die Textilarbeit – und mit dieser die Arbeit am geschriebenen Text: „im Stricken, im Schreiben – ohne Unterschied – bin ich mit dir verbunden“, sagt das Kind zur Grossmutter. Als Spinne ist „Grossmeer“ eine Nachfahrin von Arachne, der Mutter der Dichtkunst, von der Ovid in den Metamorphosen erzählt.

Erzählfäden spinnen

Arachne ist ein Mädchen, das so gut weben kann, dass es sich traut, Minerva, die Göttin der Webkunst, zu einem Wettkampf herauszufordern. Sogleich werden die Fäden auf zwei Webstühlen gespannt. Die Göttin und das Mädchen weben ihren Stoffen Geschichten aus alten Zeiten ein, heisst es. Minerva zeigt verschiedene Szenen aus der Mythologie, in denen sich Menschen mit Göttern messen wollen, und wie das ausgeht. Es geht jedes Mal schlecht aus, und jedes Mal werden die Menschen, die solches wagen, zum Schluss zur Strafe in etwas verwandelt, in ein Tier oder in einen Stein zum Beispiel. Arachne hingegen webt „das Sündenregister des Himmels“, verschiedene Gestalten, die die Götter annehmen, um Menschen zu verführen oder – je nach Sichtweise – zu vergewaltigen. Als Erstes den Raub der Europa.

Arachne webt so gut, dass sich Minerva zum Schluss nicht als Siegerin ausrufen kann. Das macht die Göttin furchtbar wütend. Sie zerreisst Arachnes Mythen-Teppich und verwandelt das Mädchen in die perfekteste Spinn- und Webmaschine, die es gibt: eine Spinne. Von jetzt an sollen Arachne und alle ihre Nachkommen, die Spinnen und – im zweiten Sinn – die Erzählfäden verspinnenden Dichter-Menschen, den Faden für ihre Gewebe aus dem eigenen Bauch ziehen.

Minervas Rache

Man kann Minervas Fluch so deuten, dass nur sie allein, die Göttin, aus dem Fundus der Weltliteratur schöpfen darf: Die stärksten Erzählfäden, die je gesponnen wurden, soll nur sie weiterverarbeiten dürfen. Mit diesem Privileg will sie sich die Vorherrschaft über die Text(il)arbeit sichern. Arachnes Nachkommen sollen mit den dünnen, fast durchsichtigen Fäden, die sie, wie die Spinne ihre Spinnseide, aus sich selbst ziehen, nur noch nichtssagende Gewebe herstellen können.

Natürlich haben sich Arachnes Erben nie an Minervas Gebot gehalten. Zwar ziehen sie den Faden für ihre Erzählteppiche aus ihrem eigenen Innern, aber sie spinnen ihm dabei alles das ein, was sie davor auf der Netzhaut ihres lesenden Auges gefangen haben: alle alten Geschichten, die von den Grossen der Weltliteratur bereits einmal erzählt worden sind. Sie haben die Werke ihrer literarischen Vorfahren aufgesogen, verdaut und zum frischen Garn versponnen, das sie jetzt wieder aus sich ziehen und zu neuen Geschichtenteppichen verweben. Und weil Arachnes Erben mit fast unsichtbarem Faden arbeiten, so dass man die alten Geschichten in ihrem neuen Kleid kaum mehr erkennt, kommt ihnen Minerva nicht auf die Schliche.

Mythenteppich

Der dichtende Mensch, der in Kim de l’Horizons Blutbuch Kim heisst und seine Kunst von der Spinnen-Grossmutter lernt, ist nicht der erste, der sich zwischen den Zeilen seines Werks als Nachkomme von Arachne zu erkennen gibt. Schon Ovid lässt keinen Zweifel daran, dass er sich als legitimen Erben der besten Dichterin aller Zeiten sieht. So erzählt er zum Beispiel, noch kurz vor seinem Urmythos der Schriftstellerei, selbst die Geschichte von Europa und dem Stier, die Arachne dann als Erstes ihrem Teppich einwebt. Und überhaupt erinnert seine Sammlung von Geschichten aus alten Zeiten stark an den Mythenteppich, den die Mutter der Dichtkunst damals gewoben hat.

Hier knüpft das Enkelkind Kim an, wenn es seinerseits eine leicht verschleierte Version der grausigen Geschichte von Progne und Philomela erzählt, die bei Ovid kurz nach derjenigen von Arachne steht. Im Roman heissen die Schwestern Fränzi und Bethli. Fränzis Mann hat Bethli vergewaltigt und ihr, damit sie ihn nicht verraten kann, die Zunge herausgeschnitten. Doch Bethli webt für ihre Schwester einen Stoff, in dem sie mit geheimem Faden von der Vergewaltigung erzählt. Worauf der Übeltäter seine schreckliche Strafe bekommt. Vor dem Hintergrund dieser alten, aus perverser Lust erwachsenen Geschichte, lesen sich etliche – plötzlich nur noch an der Oberfläche pornographische – Szenen des Romans ganz neu: als hochpoetische Motive vom stärksten Teppich, den die Weltliteratur hervorgebracht hat.

Das Werk gebären

Arachnes Nachkommen müssen sich den Faden für ihre Gewebe aus dem eigenen Bauch ziehen wie die Mutter das Kind. Ovid erzählt literarische Kreation gleichsam als ein Gebären des Werks. Und das wird für schreibende Männer natürlich zum Problem. Wie um Himmels Willen sollen sie dem Beispiel ihrer gebärfreudigen Vorläuferin folgen? Der lateinische Dichter selbst löst das Problem noch denkbar einfach, wenn er seine Bücher seine Kinder nennt, die er wie Jupiter seine Tochter Minerva, ohne Hilfe einer Mutter, «sine matre», aus sich allein geboren habe. Als Dichter, der Jupiters Methode beherrscht, ist es ihm auch als Mann möglich, dem Beispiel von Arachne zu folgen und ein Werk zu gebären.

Marcel Proust, ein anderer prominenter Nachfahre von Arachne, der seinen Roman À la recherche du temps perdu ebenfalls gerne als sein Kind bezeichnet, lässt in dessen erstem Band sein Alter Ego, den angehenden Schriftsteller Marcel, einmal einen Spermafaden, den er sich masturbierend aus dem eigenen Bauch gezogen hat, am Blatt eines Cassis-Strauchs abstreichen. In Prousts Entwürfen ist an der Stelle noch wörtlich von einem Spinnfaden die Rede. Und wenn sein angehender Dichter die ersten Spuren auf dem Blatt eines Cassis hinterlässt, das als französische „feuille“ sowohl das Pflanzen- als auch das Papierblatt meinen kann, dann bezeichnet das Wort Cassis auf Französisch die schwarze Johannisbeere, in Ovids Latein wiederum das Spinnennetz.

Bei de l’Horizon sind Johannisbeeren, das ist der „Grossmeer“ wichtig, „Meertrübeli“. Wie in der „Grossmeer“ klingt in ihnen die erste Silbe der „MEERSPRACHE“ mit, der Muttersprache, die für das Enkelkind wieder „eine riesige Spinne“ ist. Die „MEERSPRACHE“ heisst im französisch geprägten Berndeutsch der „Grossmeer“ nach der mère. Man denkt an Louise Bourgeois, die diese Mutter in ihrer riesigen Spinnenskulptur Maman verewigt hat.

Der Selbstbefruchtungsakt des Schreibens

Im Gegensatz zu Ovid verraten weder Proust noch de l’Horizon offen, wie sie zur Mutter des eigenen Werks werden konnten. Sie sagen es nur durch die Blume – eine Orchidee.

Die Proust-Kritik hat sich immer wieder dafür interessiert, wie eng in der Recherche die Themen Botanik, Literatur und Autorschaft miteinander verknüpft sind. Am offensichtlichsten zeigt sich die Verbindung auf den ersten Seiten des vierten Bandes, Sodome et Gomorrhe I, wo Marcel eine seltene Orchidee betrachtet, die seit langem darauf wartet, von einer speziellen Hummel befruchtet zu werden. Die Blume vor Augen macht sich der angehende Schriftsteller Gedanken zum Werk, das er demnächst zu schreiben beginnen will. Bis es sinngemäss heisst, die Orchidee habe ihn auch darum interessiert, weil sie ein Hermaphrodit sei, der sich ausnahmsweise auch einmal selber befruchten könne: in einem Selbstbefruchtungsakt, wie ihn ganz ähnlich auch das Schreiben erfordere. So hätten ihm seine Überlegungen zur hermaphroditischen Befruchtung der Orchidee denn auch zu gewissen Erkenntnissen in Bezug auf das literarische Schaffen verholfen, meint der Erzähler abschliessend.

Mit der Orchidee hat Proust ein besonders einprägsames Bild für einen Hermaphroditen gefunden, der sich selbst befruchten kann. Die Blume hat ihren Namen von ihren zwei hodenförmigen Wurzelknollen. Sie heisst nach dem altgriechischen Wort orchis für Hoden und trägt damit in ihrem weiblichen Blumennamen wörtlich männliche Keimdrüsen. Sie ist eben nicht nur ein botanischer, sondern auch gleichsam ein namentlicher Hermaphrodit.

Die Orchideen der „Grossmeer“

Im Blutbuch züchtet und verschenkt die „Grossmeer“ neben anderen Blumen auch dauernd Orchideen, über deren Hoden sie ganze Vorträge halten kann. Was sie mit ihren Blumen zum Blühen bringt, ist im zweiten Sinn eine Sammlung schöner Texte, eine Anthologie, vom altgriechischen anthos für Blume, oder ein Florilegium, vom lateinischen flos für Blume und legere für pflücken oder lesen – je nachdem, ob von Blüten oder von Texten die Rede ist.

Die „Grossmeer“, in deren Wohnung an allen Wänden gewobene Teppiche hängen, beherrscht ganz offensichtlich die Kunst der Selbstbefruchtung der hermaphroditischen Orchidee. Diese ist sowohl männlich als auch weiblich, keines von beidem und beides in einem – wie das Enkelkind Kim, das im Herbst 2022 sowohl den Deutschen als auch den Schweizer Buchpreis gewonnen hat. Und das mit seinem Werk, wie es in seinem Erstling mit fast durchsichtigem Faden verrät, in Arachnes Nachfolge auf den höchsten Thron im Dichter-Olymp will.

Bildnachweis:
Beitragsbild: Diego Velázquez, Die Spinnerinnen
Angaben zum Buch

Kim de l’Horizon
Blutbuch
Roman
Dumont 2022 · 334 Seiten · 24 Euro
ISBN: ‎ 978-3832182083

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Von Edi Zollinger

Edi Zollinger ist Privatdozent für Französische und Vergleichende Literaturwissenschaft an der LMU München. Er lebt in Zürich.

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