Seit 2017 gibt der Verlag Schöffling & Co. das Jahrbuch der Lyrik heraus. Das Projekt selbst ist älter, seit 1979 gibt es die Jahrbücher bereits, allerdings nicht regelmäßig, die diesjährige Sammlung ist Nummer 37. Ausgewählt wurde stets aus noch nicht veröffentlichten Gedichten, die die Autor:innen einschickten. Auch letztes Jahr gab es hunderte Einsendungen, allerdings mit einem entscheidenden Unterschied: Alle Einsendungen waren anonym.

Die Idee der Anonymisierung stammt von dem Literaturwissenschaftler Walter Höllerer. Er gab 1956 unter dem Titel Transit eine Anthologie heraus, in der Gedichte ohne Namen abgedruckt waren. Die Begeisterung für ein Gedicht sollte vor die Begeisterung für die Autor:innen gestellt werden. Höllerer allerdings kannte die Namen. Diesen letzten Anker haben Matthias Kniep und Sonja von Brocke, die den diesjährigen Band verantworten, gelichtet, um mit voller Fahrt ins Unbekannte zu segeln.

Die Toten zählen

Dass es dabei um eine Demokratisierung der Auswahl geht, keineswegs jedoch um einen gelockerten Anspruch, zeigt die vorangestellte Liste der 2022 verstorbenen Dichter (ja, alles Männer!), denen das Buch gewidmet ist.

wie zählt ihr die toten, heißt fast schon folgerichtig das erste Gedicht:

Nach oder vor?
Vor oder zurück?
Zurück oder hoch?
[…]
mit Fingern mit Fäusten oder mit der ganzen Hand?“

Um die Verluste von 2022 zu zählen, braucht es übrigens zwei Hände: sieben Tote sind es, von denen Franz Mon, Hans Magnus Enzensberger, Thomas Rosenlöcher und Friedrich Christian Delius mit je einem Gedicht zur Anthologie beisteuern. Mit Namen und tiefer Verbeugung.

Wurzelwerk

Gedichte ohne Autor:innen-Namen zu lesen, ist eine besondere Erfahrung. „Wer spricht?“, ist meist die erste Frage, und auch die 12 Kapitel, in die das Buch unterteilt ist, helfen nicht weiter, es sind lediglich durchnummerierte Abschnitte ohne Titel. Dennoch scheinen die Gedichte innerhalb eines Kapitels Verbindungen zu haben wie Wurzelwerk, das wahrnehmbar wird beim sorgfältigen Lesen. Ich ertappe mich beim ersten Durchgang dabei, Fäden zu verlieren, weil ich Orientierung vermisse, wie ich sie beim Lesen von Gedichtbänden einzelner Autor:innen habe. Dort helfen mir weitere Gedichte, ein einzelnes Gedicht auszubalancieren und zu verstehen, was der ganz eigene Ton ist, das Interesse, das Blickfeld. Hier aber folgt auf jedes Gedicht eine andere Stimme mit anderen Blickfeldern, Interessen, Melodien.

Erstaunlich, was dennoch geht. Zum Beispiel im zweiten Kapitel, das mit einer Bilderflut aus „Weltgeschichte und Unheilsgeschehen“ über Leser:innen und Autorin hereinbricht. Wer will, kann das Rätseln um die Autorenschaft übrigens schnell auflösen, denn alle Namen sind in einem Inhaltsverzeichnis am Ende des Buches notiert.

Im Naturkundemuseum

Maria Eichwald ist es hier, die uns im zweiten Kapitel auf genaue Blicke auf unsere Gegenwart einstimmt. Es sind sehr persönliche Blicke von verschiedensten Orten: aus dem Wohnzimmer, aus einem Unterschlupf in einer belagerten ukrainischen Stadt, aus dem Wald der Füchse oder aus Traumlandschaften. Meistens lese ich gleich noch einmal und dann laut, um den Rhythmus zu schlagen:

dabei hab ich doch grad noch geschichte geschrieben, ein wrack
in ewige eisgründe geschickt. zack, sieben schwerter in den rumpf.

Mit Karacho geht es bei Lara Rüter tiefer ins Unheil, erst mit Wut, dann mit Charme, das Klima streikt, aber klar, Mensch bleibt obenauf – „dauert nur“. Und das nicht nur im Packeis, sondern, in einem nächsten Gedicht, auch drinnen, im Naturkundemuseum, wo tote Tiere in Reihe und Spezies aufbewahrt zur Verfügung stehen, selbst als Leichen uns untertan, bis sie irgendwann doch zu Staub zerfallen, wie Annette Hagemann hofft, hoffnungslos was uns Menschen angeht, „dann wollen wir doch mal sehen, ob hier Fenster offenstehen“, um die Seele der Tiere endlich ziehen zu lassen.

Sprachschichten

So wie das schreibende Ich der Gedichte ist auch das lesende Ich auf der Suche nach Halt. Was alles geschieht – und das gleichzeitig –, gilt es zu erkennen, die Sprachschichten vorsichtig auseinander zu falten oder Bilder in sich aufsteigen zu lassen. Hier sind Schreibende und Lesende Zwillinge: Das eine Geschwister zeigt und das andere schaut, und umgekehrt. Namen zu nennen, scheint mir bei diesem Buch fast ein Sakrileg, aber ich habe mich begeistert, und möchte für meine Highlights werben: für Anastasia Averkova, Anna Breitenbach, Carolin Callies, Nora Gomringer, Ulf Stolterfoht, Ulrike Draesner, Rainer Komers oder Kerstin Preiwuß, von der das Zählgedicht am Anfang der Anthologie stammt.

Die schönste Überraschung für mich ist Dirk Held, ein Freund, der, wie ich weiß, dichtet. Sein Text über eine Kinderfreundschaft trifft mich, weil er mir zeigt, wie rasant Zukunft beim Älterwerden schmilzt.

Bildnachweis:
Beitragsbild: Stephanie Jaeckel, Vogel (Jens Prockat)
Angaben zum Buch

Matthias Kniep, Sonja vom Brocke (Hg.)
Jahrbuch der Lyrik 2023
Schöffling 2023 · 240 Seiten · 24 Euro
ISBN: 978-3895615047

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Von Stephanie Jaeckel

Kunsthistorikerin und Kulturjournalistin, Autorin von Sach-Hörbüchern für Kinder.

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