Dem Kriterium der Wahrhaftigkeit widmet Eduard Engel in Deutsche Stilkunst gleich zu Anfang ein ganzes Kapitel. Eigentlich gebe es nur zwei Hauptstilarten: den „wahrhaftigen“ und den „unwahrhaftigen“ Stil. Engel hängt die Latte denkbar hoch:

Jeden Satz, jedes Wort so lauterwahr zu schreiben, als liege man auf dem Sterbebett, das zwingt den guten, den großen Stil herbei.

Eduard Engel hat das im Jahr 1911 geschrieben. Heute würde er vielleicht das Wort „authentisch“ benutzen – oder auch gerade nicht. Das Wort hat durch inflationären und unsachgemäßen Gebrauch gelitten. Ein Blick in die Etymologie zeigt, wie nützlich der Begriff eigentlich ist. Im griechischen „authentikos“ steckt das Wort „authos“ (selbst). „Authentisch“ bedeutet: „zum Urheber in Beziehung stehend“, also „original, zuverlässig“, später auch „echt“.

Ein Autor ist demnach jemand, der oder die selbst schreibt: in eigener Verantwortung und in Übereinstimmung mit sich selbst. Es geht darum, das zu schreiben, was man denkt und fühlt, ja vielleicht sogar das zu schreiben, was man ist. So einfach es klingt, so schwierig erscheint es in der Ausführung. Oft findet man beim Schreiben erst heraus, was man denkt und fühlt, und umgekehrt merkt man, dass ein Gedanke noch nicht reif ist, ein Gefühl noch nicht plastisch, weil man die richtigen Worte dafür nicht findet. Denn man kann zwar Dinge denken, fühlen und ahnen, die man nicht sagen kann – doch sagen kann man nur, was man denken kann. In der schönen Literatur gibt es Texte, die sich an die Grenzen des Denk- und Sagbaren heranwagen, insbesondere in der Lyrik. Die Sprache ist dann ein Forschungsinstrument: Wer sich der Sprache anvertraue, gerate bisweilen an Orte, wo zuvor noch niemand war, so formuliert es Joseph Brodsky in seiner Nobelpreisrede.

Arbeit an sich selbst

Wie entsteht Wahrheit im Schreiben? In ihrem Essay „Wie man ein Buch lesen sollte“ fordert Virginia Woolf die Leser auf, sich die Schwierigkeiten des Schreibens bewusst zu machen:

Besinnen Sie sich also auf irgendein Ereignis, das einen deutlichen Eindruck in Ihrem Gedächtnis hinterlassen hat – wie an der Straßenecke vielleicht zwei Menschen im Gespräch standen, als Sie vorübergingen. Ein Baum bebte; ein elektrisches Licht tanzte; der Ton des Gesprächs war komisch, aber auch tragisch; eine ganze Vision, eine in sich vollkommene Konzeption schien in jenem Augenblick enthalten.

Doch wenn Sie versuchen, das innere Bild in Worten zu rekonstruieren, werden Sie finden, daß es in tausend widerstreitende Impressionen zerfällt. Manche müssen gedämpft, andere betont werden; währenddessen wird wahrscheinlich die Grundempfindung Ihrem Zugriff entgleiten.

Wenn schon die Wiedergabe einer Alltagsszene mit Worten so komplex ist – um wie viel schwieriger erscheint dann die Übersetzung innerer Zustände in Sprache. Wahrhaftiges Schreiben bedingt die Erforschung der eigenen Wahrnehmung. Die Suche nach dem richtigen Wort ist daher nicht nur Arbeit am Text, sondern auch Arbeit an sich selbst: Zur Genauigkeit gelangt nur, wer sich in seine Tiefe vorwagt, wer also die (eigenen und fremden) Erwartungen, alle Absichten beiseite schiebt und sich ins Unbewusste begibt – wer „das unter dem Herzen Eingeweckte“ (Thomas Harlan) birgt und damit die „ungeheuren Emotionen” freisetzt, “die in Kunstwerken gebunden sind“ (Ossip Mandelstam).

Präzision des Ausdrucks

Deshalb hat das wahrhaftige Schreiben auch eine therapeutische Wirkung: Beim Schreiben findet man heraus, wer man ist. Das gilt nicht nur für die Literatur, sondern auch im Alltag.

Ich halte es – jetzt und in Zukunft – für ein lohnendes Ziel, seine Sprache präzise zu gebrauchen. (…) Das soll uns in die Lage versetzen, uns so umfassend und präzise wie möglich auszudrücken. (…) Denn die Häufung von nicht klar Dargelegtem, nicht richtig Ausgedrücktem kann zur Neurose führen.

Diesen Ratschlag gibt Joseph Brodsky in seiner Rede „Speech at the Stadium“ (1988) den Universitätsabsolventen von Ann Arbor mit auf ihren Lebensweg. Man solle sein Vokabular so sorgfältig pflegen wie sein Bankkonto: Die Sprache als Ausdrucksmittel („articulation“) dürfe gegenüber den Erfahrungen nicht im Minus bleiben, denn dieses Defizit schade der Seele.

Ohne das innere Selbstgespräch der Seelenforschung findet man nicht heraus, was man wirklich denkt, fühlt, sieht, sich vorstellt. Wenn man hinschreibt, was einem gerade einfällt, erwischt man oft nur das Naheliegende, und das ist meistens gerade nicht das Eigene, sondern Floskeln, also Dinge, die schon andere gedacht und gesagt haben.

Vom Erlebten zum Erschriebenen

Der Wunsch nach Wahrhaftigkeit, nach Unverfälschtem, ist eine Reaktion auf Verunsicherung, so erklärt sich die derzeitige Konjunktur des Begriffs Authentizität. Viele Leser wünschen sich Bücher, in denen Erlebtes – in der Regel Erlittenes – möglichst direkt zu Papier kommt, ungefiltert und roh. Doch das ist ein Missverständnis, denn die Wahrhaftigkeit entsteht erst durch den Stil, auf dem Weg, den das Erlebte zum Erschriebenen zurücklegt. Wahrheit ist etwas anderes als Wirklichkeit: Märchen und Wundergeschichten sind wahr, auch wenn sie nicht stattgefunden haben, und umgekehrt entsteht oft keine Wahrheit, wenn Wirklichkeit 1:1 wiedergegeben wird. Um es grob zu sagen: Ist es nur hingekotzt (offenbar ein Leitmotiv in der Selbstbeschreibungsprosa des Karl-Ove Knausgård) oder ist es gestaltet? Hat sich der Autor die Erschütterungen wahrhaftig zu eigen gemacht, sie verwandelt und transzendiert – und ist er oder sie damit durch den Akt des Schreibens zum Autor des eigenen Lebens geworden? Virginia Woolf hat sogar ihre Tagebücher in dieser Haltung geschrieben, denn im Stil sind ihre Diaries keineswegs privat. Sie sind für andere – und damit Kunst.

Kill your darlings

Was verhindert Wahrhaftigkeit beim Schreiben? Man könnte sagen: Alles, was den Schreibenden von sich selbst entfernt. Eduard Engel nennt die Eitelkeit, die Pose als größten Feind der Wahrhaftigkeit. Die Eitelkeit schaut auf die Außenwirkung, nicht ins Innere, deshalb trennt die Eitelkeit den Schreibenden von sich selbst. In dem Kapitel über die Wahrheit stellt Engel in seiner Stilkunde einen Katalog der „Schwindelkünste des unredlichen Stils“ auf:

Der geckenhaft gesuchte Ausdruck, die geistreichelnde Bilderei, das überflüssige Lesefrüchteln, das Prunken mit eilig zusammengerafftem Papierwissen, das eitle Auskramen von Brocken aus allen möglichen fremden Sprachen, die verstiegene Fremdwörtelei, die ‚preziöse‘, sich kostbar machende Vornehmtuerei, die Unnatur des Schwulstes.

Wer sich der Vornehmtuerei, der Fremdwörtelei und dem Schwulst hingibt, bemäntelt mit den stilistischen Arabesken oft eine innere Leere: Er bietet ein Feuerwerk der Form, gibt sich jedoch in seinem wahren Selbst nicht zu erkennen. Auch bei Texten, die nicht vornehm tun wollen, ist die Eitelkeit eine Gefahr. Der Spruch „Kill your darlings!“ ist nicht von ungefähr ein Klassiker der Schreibratgeber. Wer kennt das nicht: Man ist stolz auf die brillante Idee, sonnt sich in seinem Satz – und weiß doch insgeheim, dass er besser klingt, als er ist. Gute Lektoren achten nicht nur darauf, dass im Text das steht, was der Autor ausdrücken wollte, sie nehmen auch keine Rücksicht auf dessen allfällige Selbstverliebtheiten. Das ist oft ein Drahtseilakt, denn nicht alle Autoren sind so pragmatisch wie Stephen King, der seine Bücher von seiner Frau Tabby gegenlesen lässt:

Gott sei Dank habe ich jemanden, der mir sagt, dass mein Hosenstall offensteht, bevor ich damit raus an die Öffentlichkeit gehe.

Schreiben braucht Mut

Das Zweite, was dem wahrhaftigen Schreiben im Weg steht, ist die Angst.

Angst, davon bin ich überzeugt, ist meistens die Ursache schlecht geschriebener Texte.

Stephen King

Schreiben braucht Mut: zuerst den Mut herauszufinden, was zum Vorschein kommt, wenn man die ganzen Konventionen und Selbsttäuschungen einmal zur Seite räumt, und dann den Mut, sich zu dem, was man ausgegraben hat, auch zu bekennen.

Wahrhaftige Literatur sagt auf immer wieder neue Art:

Ich ist ein anderer.

Arthur Rimbaud

Verwendete Literatur:

Eduard Engel: Deutsche Stilkunst
Die Andere Bibliothek 2016 · 976 Seiten · 78 Euro
ISBN: 978-3847703792
Bei Amazon oder buecher.de

Stephen King: Das Leben und das Schreiben
Heyne Verlag 2011 · 384 Seiten · 10,99 Euro
ISBN: 978-3453435742
Bei Amazon oder buecher.de

Virginia Woolf: Der ungewöhnliche Leser. Band 2
Aus dem Englischen von Hannelore Faden
S. Fischer 1990 · 324 Seiten · 17 Euro
ISBN: 978-3100925725
Bei Amazon oder buecher.de

Joseph Brodsky: Der sterbliche Dichter
Essays
Aus dem Englischen von Sylvia List
S. Fischer 2000 · 320 Seiten · 12,90 Euro
ISBN: 978-3596145973
Bei Amazon oder buecher.de

Bildnachweis
Beitragsbild: Prudentia. Die Klugheit
Illustration zu Johann Amos Comenius: Orbis sensualium pictus — Kapitel CX.
Künstler vermutl. Paul Creutzberger.
Gemeinfrei, via Wikimedia Commons
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Von Sieglinde Geisel

Journalistin, Lektorin, Autorin. Gründerin von tell.

4 Kommentare

  1. Sorry, ich halte von ‘Wahrhaftigkeit’ nichts. Es ist reichlich hochtrabend, entstammt der Moral und vermag den zurechtweisenden Zug auch in der Zusammenstellung nicht abzuwerfen. Wer Interesse an sprachlicher Kunst hat, wird ohne solche sprachlichen Altertümer auskommen müssen, oder niemals Neues erfahren. Da hilft auch ‘Stil’ nicht, ebenfalls ein altertümliches Wort, das lediglich ad hoc ‘gebogen’ wird. Für mich ist dies alles lediglich ein Müll der Geschichte.

    Spannender fände ich eine sprachliche Exposition, die grundsätzlich weiter und moderner gefasst ist, sich vor allem in einen wissenschaftlichen Kontext einbinden ließe und lässt …

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  2. Herr Reinhard Matern – ich glaube, Sie übersehen etwas. Wahrhaftigkeit hat in der Tat (sogar in der Kunst) etwas mit Moral zu tun; es ist nur überhaupt nicht klar, was sie dadurch altbacken machen würde. Wie ja an Frischs Montauk klar wurde, handelt es sich um eine Haltung von Schriftstellern. Es ist nicht etwas, das Lesern – womöglich noch übern Stil – vermittelt werden soll oder kann; und erst recht nicht ein “sprachliches Altertum”. Große Stilisten werden noch Jahrhunderte, Jahrtausende später wegen ihres Stils geschätzt. Guter Stil lässt sich nicht einfach so neu erfinden; man muss sich einfach nur um einen solchen bemühen.

    Ein Tweed, z.B., kann hohen Stilkriterien genügen – oder nicht. Modernistisch könnten wir sagen: Das ist altbacken, weg mit den alten Zöpfen! Handelte es sich um eine schlichte Mitteilung, die womöglich wissenschaftlichen Kriterien genügen muss, dann wäre diese Forderung möglicherweise zu rechtfertigen. Nehmen wir aber den z.z. bekanntesten Twitterer, D. Trump, so stellen wir fest, dass wir ihn nicht für glaubwürdig halten: Er widerspricht sich selbst wie es gerade kommt. Weiter: Dieses Misstrauen wird jedoch verursacht, dass ihm niemand abnimmt, er würde – vernünftigerweise – an das zu glauben vermögen, was er selber twittert. Wahrhaftigkeit ist nun das, was wir in der moralischen Sphäre erwarten: Selber von dem überzeugt zu sein, was man als Argumente in den Diskurs wirft. Es handelt sich um eine Selbstverpflichtung, eben jener – berechtigten – Erwartung der Adressaten gerecht zu werden. In der Literatur bedeutet dagegen Wahrhaftigkeit: Sich selber von davon überzeugen zu können, wie man etwas sagt.

    Und hier möchte ich Schopenhauer bemühen: “Daher nun ist die erste, ja schon für sich allein beinahe ausreichende Regel des guten Stils diese, dass man etwas zu sagen habe: O, damit kommt man weit!”

    Es muss also zuerst das Was klar sein, damit über das Wie entschieden werden kann. Gewissermaßen ein “objektives” Kriterium. Ob nun wissenschaftlich oder nicht, es ist dies eine Frage, die sich immer gestellt hat und immer stellen wird. Das Was und das Wie können nun die unterschiedlichsten (dynamischen) Beziehungen zueinander eingehen, selbst wenn wir uns alle psychoanalytischen Aspekte wegdenken. Und dadurch können Leser sehr wohl etwas neues erfahren. Nietzsche war gar der Ansicht, dass den Stil zu verbessern die Gedanken zu verbessern heiße. Wie ich vermute, ganz im außermoralischen Sinne.

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    1. Im Unterschied zu ‘Wahrhaftigkeit’ wäre eine logische Vereinbarkeit von Aussagen ein wissenschaftlich brauchbares Kriterium. Mich interessiert nicht das Innenleben von Schriftstellern, auch nicht das von Schopenhauer oder Nietzsche, sondern Sprache.

  3. Die logische Vereinbarkeit von Aussagen mag ein wissenschaftlich brauchbares Kriterium sein, aber sicher kein literarisches. Es ist ja seltsam, der totgesagte Autor lebt nicht nur im Klimbim der Homestory, im kleinkarierten Abgleich von Geschriebenem und Palavertem, also im Interview zum Besten gegebenen, sondern immer auch dann, wenn sich ein Finger auf einen Buchstabenknopf senkt, um etwas zu schreiben, das eben keine Aussage, sondern ein fiktionaler Satz werden soll. Dann kommen veraltetet wirkende Kriterien wie die liebe Wahrhaftigkeit plötzlich wieder zum Vorschein. Und wenn man einmal gespürt hat, wie ein Satz wie “Das hat nichts mit dir zu tun”, der völlig unbegründet neben den eigenen Text gestellt wurde, einsticht wie das Messer von Michael Myers, der weiß, es gibt da einen Raum, der sich weder wissenschaftlich noch logisch noch nur prä-skriptiv, also vor dem Schreiben, durchdringen lässt. Das ist vielleicht genau der Mut, von dem Sieglinde Geisel schreibt. Dass man im Schreiben eine Erfahrung machen kann, die einen, wie jede Erfahrung, verändert.

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