Was hat es auf sich mit der nicht abebbenden Welle von Romanen, die Schriftsteller in ihrer Spät- und Absterbephase porträtieren? Hofmannsthal in Bad Fuschl (Walter Kappacher, Der Fliegenpalast), Feuchtwanger in Kalifornien (Klaus Modick, Sunset), Kafka in Berlin (Michael Kumpfmüller, Die Herrlichkeit des Lebens), Thomas Mann in Düsseldorf (Hans Pleschinski, Königsallee), Goethe in Marienbad (Martin Walser, Ein liebender Mann), Stefan Zweig in Brasilien (Laurent Seksik, Vorgefühl der nahen Nacht) und zuletzt Volker Hages Schnitzler-Roman Des Lebens fünfter Akt?

Ein tableau vivant der deutschen Literatur

Dreierlei fällt auf. Erstens sind es durchweg männliche Autoren, die sich männlicher Protagonisten annehmen. Zweitens ist die Periode, für die sich die Autoren interessieren, immer die erste Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts (bis auf Walser). Und drittens sind die Porträtierten jedem deutschen Gymnasiasten und jeder Feuilleton-Leserin zur Genüge bekannt. Es ist gewissermaßen ein tableau vivant der deutschen Literatur, bevor der Kanon zerfiel. Dagegen Böll in der Eifel, Hubert Fichte in Hamburg, Rolf Dieter Brinkmann in Köln oder Rom? Figuren der Nachkriegszeit kommen offenbar noch nicht in Betracht. Bei Sibylle Lewitscharoffs Blumenberg sitzt ein Löwe im Zimmer um klarzustellen, wie wenig er es „wirklich“ ist. Und über Ingeborg Bachmann werden Biografien geschrieben, keine Romane.

Die abstrakte Ausgangssituation dieser Texte liegt auf der Hand: Es muss um Rückblick gehen, Bilanzziehen, das Schwinden der Kräfte, den Würdeverfall, die Befragung des eigenen Werks, das Verwalten des Ruhms, die schrumpelnde Kreativität und Sexualität, um die Illusion von letzten Aufbrüchen und um die Beschwörung der kaum noch vorhandenen Zukunft in Bildern der starken Vergangenheit. Nun darf man getrost fragen, wie oft diese Geschichte erzählt werden muss, wenn Thomas Mann in Tod in Venedig wesentliche Teile dieses Plots bereits mustergültig erzählt hat. Die Tatsache, dass die Protagonisten der Romane von heute, anders als Gustav von Aschenbach, „echt“ sind, ist Teil der Masche.

Warum? Dazu im Folgenden drei Thesen.

Voyeuristische Komponente

Die Texte befriedigen erstens ein Bedürfnis nach höherem Boulevard: Das Erzählschema als solches wird im Kopf angereichert mit allem, was wir über die Figuren schon aus Deutschstunden, Germanistikseminaren, Wikipedia-Artikeln und Feuilletonreferaten wussten – und was wir nicht wussten, kommt pikant, interessant, süffisant daher.  Es gibt eine voyeuristische Komponente dieser Texte: Wir sind eingeladen zum fortwährenden „Ach?“. Die Texte verlassen sich nicht auf die ästhetische Qualität ihrer Gemachtheit, sondern auf den Schauwert des Materials: Goethe mit dem Teil in der Hand! Feuchtwanger zahlt im Puff für Brecht mit! Zweig, dem Suizid entgegen schlitternd!

Der Schriftsteller als Paparazzo, der verstorbenen Kollegen in den Winkeln auflauert? Das ist die Marketingseite des Phänomens, ein sehr deutsches Amalgam aus Gala und Literaturbeilage. (Das französische Amalgam von oben und unten wäre das von Autorenfilm und Porno). Dass dabei Männer Männern auflauern, nimmt diesen Nahaufnahmen das Indezente, es bleibt kumpelhaft, gewissermaßen unter Kollegen.

Die Biografie als Meistererzählung?

Bemerkenswert – und erfolgsträchtig? – ist zweitens, dass diese spezifische Variante des historischen Künstlerromans eben mehr an der Lebensgeschichte als an der Kunst interessiert ist. Das oben skizzierte Schema – Porträt des Künstlers als alter Mann – wird zwar durch die Wahl von Held und Lebensalter angetippt, ob es aber eingelöst wird, ist in etlichen Fällen die Frage. Wir sehen wenig von der Kunst, dafür viele alte und alternde Männer. In Michael Kumpfmüllers Die Herrlichkeit des Lebens ist alles wichtiger als Kafkas Literatur – während Kafka wiederum nichts wichtiger war als sie. Und wo herkömmliche Künstlerromane sich am Künstlerwerden und an den ästhetischen Konzepten abarbeiten, die die Autoren ihren Protagonisten anvertrauen, bleibt auch die Position der poetologischen Selbstbefragung im Medium des (fiktionalisierten) Stellvertreterautors blass bis leer. Stattdessen rückt Historisches an die Stelle der Poetologie, die Autoren theorieerschöpfter Jahrzehnte kehren zu Geschichte(n) zurück und wollen ohne die Spiegelfechtereien auskommen, die auf dem Höhepunkt des postmodernen Schreibens en vogue waren und als deren letzter Bannerträger Peter Esterhazy gelten kann.

Auch Esterhazy hat einem bewunderten Autor der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts nachgeschrieben, nämlich Dezső Kosztolányi. Was Esterhazys Roman Esti allerdings von den gedrosselt biederen Kranzniederlegungen der Kollegen unterscheidet, ist der Umstand, dass er sich nicht den Autor als Figur aneignet, sondern Kosztolányis Protagonisten Kornél Esti. Esterhazy spinnt Literatur fort, er malt kein Künstlerleben aus. Für die hier pauschal behandelte Gruppe gilt: Wo Literatur war, ist jetzt Geschichte. Sie genügt als Argument, sie bringt ihre eigene Dignität gegen die Verfremdungslust des Fiktiven in Stellung. Nachdem Theorie, Zukunft und Formexperiment innerliterarisch abgedankt haben, triumphiert die historische Biografie als letzte Meistererzählung.

Spätlingsromane

Eine dritte These zur Konjunktur dieses Romantyps: Sein Thema artikuliert genau die heutige Zeitstimmung, den mild kulturpessimistischen Abendschmelz – Absterben, Hinsinken, Sonnenuntergang, Kirschgarten. Die Blickrichtung der im fin de siècle sozialisierten Helden ist unsere. Es sind Spätlingsromane in einem dreifachen Sinne: ihrem Gegenstand, der Zeit ihrer Handlung und der geistigen Disposition ihrer Leserschaft nach. Selbst Spätlinge, lesen wir gerne Verfallsgeschichten, spätestens seit den Buddenbrooks. Auch uns geht es um Altersfragen und Bilanzierungen, individuelle wie kulturelle. Es gab Jahre, da brachten Mondlandungen, Atomkraftwerke und autofreundliche Innenstädte den fortschrittsgläubigen Zeitgeist zum Ausdruck – auf der östlichen Seite der Mauer gab es dazu noch Wandreliefs mit kitteltragenden Chemikern. Nun ist dieser Glaube selbst Geschichte. Wie viel sagt es über unsere Kultur, dass selbst Science Fiction-Filme vorwiegend als ihr eigenes Retro – Star Wars, Star Trek – daherkommen? Dass das Tagungsthema „Erinnerung und Identität“ zigfache Neuauflagen erlebt und dass in den Geisteswissenschaften nach der Vertreibung von allem Möglichen – des Autors, des Erzählens, der Religion, der Dinge – inzwischen alles zombieartig wiedergekehrt ist?

Für sich genommen sind die Texte von unterschiedlicher Güteklasse, und unter etlichen historischen Künstlerromanen wird es leicht fallen, auch herausragende zu identifizieren. Es ist die brave Serie, die das Unbehagen stiftet. Deren Gesetz lautet bekanntlich „Fortsetzung folgt“. Wer also schreibt mir Brecht in Buckow?

Bildnachweis:
Von Angela Yuriko Smith
Via Pixabay
CC

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Von Thorsten Wilhelmy

Thorsten Wilhelmy ist Komparatist und Sekretär des Wissenschaftskollegs zu Berlin.

2 Kommentare

  1. Interessante Beobachtung. Es handelt sich wohl um die männliche Form der Fan-Fiction, wobei die Angehimmelten keine Chance mehr haben, sich dagegen zu wehren, dass sich jemand, der sich für einen Wahl-Enkel hält, die Lebenssummen-Gedanken der Verstorbenen ausdenkt.
    Ich möchte gerne eine Frage ergänzen, die sich mir seit einiger Zeit stellt, ob nämlich Schriftsteller, auch Leser, mehr Lust auf Melancholie haben als Schriftstellerinnen/Leserinnen? Oder täusche ich mich?
    Ich meine diese gewisse Whiskeybar-Stimmung, Johnny-Cash’s letzte Platte im Hintergrund, der einst Berühmte und Starke hängt allein, lustvoll und endlos seinem Blues nach, an sich eine trübe Beschäftigung. Genau da zupfe ich mir dann ein Bändchen Cioran, eine The-Bitter-End-Biographie über einen verblichenen Tiefendenker aus der Jackentasche… kann es sein, dass gerade Männer solches Beisammensein mit dem Weltschmerz ganz doll mögen?
    (Forschungsthema. Am besten zu bedenken mit Whiskey und Blick hinaus ins Weite.)

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  2. Sehr interessante These! Sie leuchtet mir als Frau sofort ein. Irgendwie bleibt uns Weibern das Whiskey-Pathos an der Bar verschlossen. Man muss sich seltsamerweise ziemlich bedeutend finden, um sich diesem Weltschmerz hinzugeben, Sie schreiben ja: “der einst Berühmte und Starke”. Es gehört auch eine gewisse Öffentlichkeit zu dieser Art Weltschmerz. Wenn niemand davon erfährt, funktioniert das wohl nicht.
    (Nun überlege ich, was wir Frauen tun, wenn uns so etwas anweht. Die beste Freundin anrufen? Sorry, das ist so furchtbar banal…)

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