„Öffnen Sie das Buch auf Seite 99, und die Qualität des Ganzen wird sich Ihnen offenbaren.“ (Ford Madox Ford). Wir lesen mit der Lupe und schauen, was der Text auf dieser Zufalls-Seite leistet.
Warnung: Der Page-99-Test ersetzt keine Rezension.

Ein literarisches Leben ohne Literaturnobelpreis ist um eine kollektive Angstlust ärmer. Nie wieder diese latente Panik in den Tagen vor jenem Donnerstag im Herbst, an dem um 13 Uhr der Preisträger bekannt gegeben wurde. Wehe der Literaturredakteurin, die keine druckfähige Würdigung in petto hatte! Nobelpreisartikel wurden, als es ihn noch gab, ebenso auf Halde geschrieben wie Nachrufe.

Es wäre schade um den einzigen weltumspannenden Aufreger der Literatur. Deshalb haben hundert Kulturschaffende in Schweden die „Neue Akademie“ gegründet, die für das Jahr 2018 einen alternativen Nobelpreis auslobt. Im Gegensatz zum traditionellen Literaturnobelpreis veröffentlicht die Neue Akademie vorab Nominierungen, wir alle können uns an der Abstimmung für die Shortlist beteiligen.

100 Bibliothekare haben eine Longlist mit 46 Namen zusammengetragen. Mehr als die Hälfte der Nominierten (24) schreiben auf Englisch, 14 stammen aus Skandinavien. Aus dem nicht-westlichen Teil der Welt stammen nur gerade 4 Nominierte, Osteuropa ist mit einer Autorin vertreten. Der einzige deutschsprachige Autor, der es auf die Liste geschafft hat, ist der Schweizer Peter Stamm. Ihm wollte ich schon immer einen Page-99-Test widmen, jetzt habe ich den Aufhänger dazu.

Schweizer tun sich bekanntlich schwer mit dem Romaneschreiben. Laut Peter Bichsel hat das mit unserem Dialekt zu tun: Wir Schweizer müssen immer übersetzen, wenn wir in der Schriftsprache schreiben (so nennen wir das Hochdeutsche). Weil Schweizer Autorinnen sozusagen in einer Kunstsprache schreiben, sind sie gezwungen, ganz bewusst einen Satz nach dem anderen zu formulieren – „und so bringt man halt keinen Roman zustande“, sagt Peter Bichsel. Ich weiß nicht ob Peter Stamm dieser Diagnose zustimmen würde. Denn er schreibt durchaus Romane. Allerdings keine dicken. Manche haben weniger als 200 Seiten, auf 300 kommt kein einziger.


Peter Stamms aktueller Roman Die sanfte Gleichgültigkeit der Welt hat 160 Seiten, mit ausgesprochen lockerem Satz. Da die Seite 99 auf einen Kapitelanfang fällt, umfasst sie nur 19 Zeilen, daher nehme ich die Seite 98 dazu, also weitere 18 Zeilen, auch diese Seite ist nur zu zwei Dritteln gefüllt. (Hier können Sie die beiden Seiten anschauen.)

Wie soll dieses Buch noch mal heißen, das ich in ein paar Jahren schreiben werde und das Sie längst publiziert haben wollen?

Das ist der erste vollständige Satz auf der Seite 98. Er gibt Rätsel auf. Offenbar hat derjenige, der hier spricht, von irgendwelchen Buchplänen geredet, und der Ich-Erzähler düpiert ihn nun mit der Nachricht, dass es dieses Buch schon gebe und er selbst es geschrieben habe.

Die Google-Suche nach dem Buch wird in einem Dreier-Schritt erzählt.

Ich nannte ihm den Titel, und er zog sein Mobiltelefon heraus, tippte darauf herum und sagte mit einem boshaften Lächeln,

  • das Buch gibt es nicht. (…).
  • Auch antiquarisch ist es nicht erhältlich,
  • und im Katalog der Zentralbibliothek ist es ebenfalls nicht zu finden.

Das ist eine Aufzählung von Dingen, die man ohnehin erwartet. Wenn man es darauf anlegt, könnte man sie als Steigerung lesen, doch spannender wird die Sache damit nicht.

Wir erfahren, dass die Bibliothek das Buch sehr wohl angeschafft hat, denn diese Bibliothek kauft alle Bücher, die in der Schweiz erscheinen (es handelt sich demnach um die „ZB“ am Predigerplatz in Zürich). Weiter erfahren wir, dass der Ich-Erzähler das Buch zusammen mit Magdalena vor Jahren einmal in dieser Bibliothek bestellt hatte. Magdalena kam dann auf die Idee, dass er als Autor das Buch signieren solle, doch dabei wurde er von einer Angestellten erwischt, die einen „Riesenaufstand“ machte. Vielleicht sei das Buch deshalb aus den Beständen der Bibliothek entfernt worden.

Die Szene ist aus einem Film, sagte Chris.

Das ist der erste überraschende Satz, er steht am Ende der Seite 98.

Auf der Seite 99, also am Anfang des nächsten Kapitels, folgen weitere Dreier-Kombinationen. Nun geht es um die Frage, wie die Filmszene ins Leben bzw. in die Erinnerung des Ich-Erzählers gelangt ist.

Ich musste die Szene irgendwann gesehen und

  • in mein Leben eingebaut,
  • in eine Erinnerung verwandelt haben.
  • Oder Magdalena hatte sie gekannt, und wir hatten sie in der Bibliothek nachgespielt.

Doch Magdalena (sie heißt auf einmal Lena) hat den Film, Frühstück bei Tiffany, vor vielen Jahren gesehen, da war sie fast noch ein Kind. Chris, der Mann mit dem Handy, „lässt die Suche nach dem Buch ein zweites Mal laufen“, und so kommen wir in den Genuss einer vierten Meldung zum Nichtvorhandensein des Buchs:

  • keine Ergebnisse.

Für Chris ist das eine „originelle Geschichte“. Für den Ich-Erzähler dagegen bricht eine Welt zusammen, und zwar, wen wundert’s, wieder dreifach:

Aber für mich

  • brach eine Welt zusammen,
  • meine Welt,
  • mein ganzes Leben, wie ich es erinnerte.

Seltsamerweise kann ich diese Sätze auf Anhieb aus dem Gedächtnis zitieren, fast ohne Abweichungen. Offenbar schreibt Peter Stamm so, wie auch ich schreiben würde. Und weil er in diesem denkbar unauffälligsten Deutsch immer wieder das Gleiche sagt, kommt mir der Text so fad vor wie Frikadellen (bzw. Hacktätschli), die man mit zuviel Paniermehl gestreckt hat.

Fazit

Möglicherweise ist das Buch nicht so harmlos, wie es auf Seite 98 und 99 aussieht. Bei einem, der eine Filmszene mit einer Begebenheit aus seinem Leben verwechselt, muss man mit allem rechnen. Möglicherweise existiert das Buch gar nicht, das der Ich-Erzähler geschrieben haben will. Deshalb bricht für ihn (s)eine Welt zusammen, als Chris auch bei seiner vierten Google-Suche das Buch nicht finden kann. Ob sich hier ein Abgrund auftut?

Angaben zum Buch
Peter Stamm
Die sanfte Gleichgültigkeit der Welt
Roman
Verlag S. Fischer 2018 · 160 Seiten · 20 Euro
ISBN: 978-3103972597
Bei Amazon, buecher.de oder im lokalen Buchhandel

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Von Sieglinde Geisel

Journalistin, Lektorin, Autorin. Gründerin von tell.

3 Kommentare

  1. Liebe Sieglinde, diesmal wird die Begrenzung dieses Testverfahrens sehr deutlich: Du kannst diesen intelligent gebauten Roman nicht verstehen und adaequat rezensieren, indem du ein paar Sequenzen untersuchst und zu dem Fazit kommst, die Sprache sei einfach und der Text daher fad. Ich empfehle dir, den Roman zu lesen und ihn mit einer serioesen Kritk zu wuerdigen. Herzlich, Elke Heinemann

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  2. Liebe Elke,
    wie heißt es so schön in der einleitenden Box bei allen Page-99-Tests:
    “Warnung: Der Page-99-Test ersetzt keine Rezension.”
    Das könnte ich wohl in Leuchtfarben an die Wand malen, und immer noch würde keiner es lesen…
    Gerne beherzige ich deinen Rat und lese den Roman in Gänze. Bin gespannt, ob der Test ein Rohrkrepierer ist. Diese Möglichkeit lasse ich in meinem Fazit ja explizit offen – auch das hast du offenbar überlesen.

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  3. Marc Djizmedjian 15. September 2018 um 15:29

    Bei mir stellt sich das Gefühl ein, der Autor dieser Zeilen sitze hinter Glas. Ein Gefühl, das ich nicht nur bei diesem Text vom Peter Stamm habe. Er zeigt sich nicht, oder besser, der Ich-Erzähler zeigt sich nicht. Ich dringe nicht durch. Etwas wird mir verstellt. Vielleicht finden Sie den Text deshalb fad.

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